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Produktdetails
  • Meridiane
  • Verlag: Ammann
  • Originaltitel: Sogrim et hajam
  • Seitenzahl: 212
  • Abmessung: 205mm
  • Gewicht: 320g
  • ISBN-13: 9783250600282
  • ISBN-10: 3250600288
  • Artikelnr.: 24564035
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.10.2000

Die Wehmut verpaßter Gelegenheiten
Was in den Himmel hinaufsteigt, wird auch wieder hinuntersinken: Judith Katzirs Novellensammlung · Von Jakob Hessing

Judith Katzir, 1963 in Haifa geboren, gehört zu einer jüngeren Generation israelischer Schriftsteller, deren Werke seit den neunziger Jahren auf den Bestsellerlisten stehen. 1997 ist im Deutschen "Matisse hat die Sonne im Bauch" erschienen, ihr Roman über eine junge Frau, die sich in einen älteren, verheirateten Mann verliebt.

Das zweite Buch, das jetzt in Barbara Linners schöner Übersetzung vorliegt, ist im Original vor dem Roman entstanden. Es ist ihr Erstlingswerk, das sie 1990 mit 27 Jahren berühmt gemacht hat - eine Sammlung von vier Novellen aus den späten achtziger Jahren, die hier nicht chronologisch abgedruckt sind. Sie sollten aber in dieser Reihenfolge gelesen werden, weil die Entstehungsdaten eine Entwicklung verdeutlichen. Der früheste Text aus dem Jahr 1987 heißt "Disneyel". Der Titel ist aus "Disneyland" und "Israel" zusammengesetzt, einer Phantasiewelt und einem realen Ort. Der Gegensatz spiegelt sich in den Figuren der Novelle wider. Eine Frau - die schöne Mutter der Erzählerin - lebt in unglücklicher Ehe mit dem Vater, der sich später von ihr scheiden läßt. Auch ihr Liebhaber ist inzwischen verschollen. Einst brachte er seine Lebensfreude ins Haus, aber auch seine Unbeständigkeit, sie ließ das scheinbar versprochene Glück zur Schimäre werden. Erzählt wird aus der Erinnerung der Tochter, die im Hospital am Bett der schwer erkrankten Mutter sitzt. Hier sind alle Elemente versammelt, aus denen Katzir ihre Welt baut: eine bedrückende Wirklichkeit, ein unerfüllter Traum und das Spiel, das sich zwischen den beiden Polen einpendelt. Noch hat Judith Katzir nicht die Kunst im Griff, die sie bald entfalten wird, weil die Figuren von der Tochter nur unscharf gesehen werden.

Schon der nächste Text aus dem Jahr 1988 konzentriert den Blick: In "Das Meer wird geschlossen" geht sie Ilana - einer jungen, von der Natur nicht mit Schönheit beschenkten Frau, der die einfachsten Dinge nicht gelingen wollen - während eines langen Tages Schritt für Schritt nach. Sie fährt von Haifa nach Tel Aviv, um eine verwöhnte Jugendfreundin zu besuchen, die es scheinbar besser hat: Sie ist eine Schauspielerin, macht Karriere und hat wenig Zeit - weder für die Freundin noch für die Wahrheit der eigenen Situation, die eher erbärmlich ist. Es ist nicht nur ein leichter Humor, der diese Geschichte trägt, sondern auch Judith Katzirs weiblicher Blick, der die Wehmut verpaßter Gelegenheiten einfängt. Während Ilana über die Straßen von Tel Aviv geht, steht dort ein Verrückter und verkündet: "Das Meer wird geschlossen." Das ist auch der Titel des hebräischen Originals.

Die Titelgeschichte der deutschen Ausgabe, "Fellinis Schuhe", entstand im Sommer 1989. In einem luxuriösen Hotel erlebt die Kellnerin Malka die große Welt, sie träumt davon, einmal in diese Sphären aufzusteigen. Sie begegnet dem nicht mehr jungen Regisseur Spielmann, der ihren Traum wahrmacht: Für den Film, den er ein Leben lang drehen will, ist sie die ideale Hauptdarstellerin. Zwei Träumende haben sich getroffen. Der Traum erfüllt sich nicht, aber sie geben nicht auf. Wie sie sich gegenseitig unterstützen und einander Freude geben. Der Regisseur plant den Film als ein Geschenk für seine alte Mutter, eine leicht verrückte Frau, die nur jiddisch spricht und der er ihre untergegangene Welt wiedergeben will.

Dunkler ist die letzte Novelle aus dem Winter 1989, "Schlafstunde". Auch im Hebräischen heißt sie so, das deutsche Wort ist in phonetischer Umschrift wiedergegeben. Die Erzählung spielt im Karmelviertel der Stadt Haifa, wo das Wort ein kulturelles Signal ist, denn bis heute leben dort viele aus Deutschland eingewanderte Juden. In der Novelle schöpft Katzir aus der autobiographischen Erinnerung. "Disneyel" hatte in der Familie gespielt, die beiden folgenden Texte hatten diese Grenze ausgeweitet. Hier kehrt die Erzählung in die Familien zurück, aber jetzt ist der Blick scharf. Ein Großvater stirbt. Auf der Beerdigung trifft die Enkelin ihren Cousin, mit dem sie im Hause des Großvaters ihre ersten sexuellen Erfahrungen gemacht hat: Judith Katzir holt die Träume der Kindheit hervor und trägt sie zu Grabe. Der Cousin ist verheiratet, seine Frau schwanger. Nach der Beerdigung geht sie zwischen den Gräbern entlang. Der Wind trägt ihren Hut davon. Die letzten Worte der Erzählung lauten: "Sie rennt ihm zwischen den Grabsteinen nach, in ihrem flatternden Blümchenkleid, mit ihrem gerundeten Bauch, streckt ihre vollen Arme aus, um ihn zu erhaschen, aber der Hut verspottet sie, fliegt hoch und höher in den Himmel hinauf wie ein violetter Schmetterling und wird sich gleich auf der spitzen Krone der Pinie niederlassen, doch auf einmal ändert er seine Meinung, überschlägt sich zweimal und landet auf dem Grabstein von Abba Chuschi, einst Bürgermeister von Haifa, und du und all die anderen Männer erbieten sich, ihn für sie aufzuheben, und springen zwischen den Gräbern herum, aber der Hut entkommt mit einem hinreißenden Salto, und plötzlich verliert er sein Gleichgewicht, wirbelt wie eine Tänzerin in einem Strudel violetter Bänder um sich selbst und landet mit einem Aufprall außerhalb des Tores, liegt auf der Seite und lacht mit seinem runden Mund, und sie rennt auf ihn zu, schwerfällig und keuchend, bückt sich und hebt ihn auf, schwenkt ihn hoch in die Luft und jubelt euch mit glänzenden Augen zu, ich hab ihn, ich hab ihn."

Die Jagd nach den Zielen des Lebens entpuppt sich als Farce, was in den Himmel aufsteigt, sinkt herab. Es ist ein Vergnügen, Judith Katzirs Novellen zu lesen.

Judith Katzir: "Fellinis Schuhe". Erzählungen. Aus dem Hebräischen übersetzt von Barbara Linner, Ammann Verlag, Zürich 2000. 213 S., geb., 36,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

"Jakob Hessing ist äußerst angetan von dem Buch mit vier Erzählungen, dem Debüt der israelischen Autorin, die hierzulande bereits mit einem später geschriebenen Roman auf der Bestsellerliste stand. Er empfiehlt, die Erzählungen nicht in der abgedruckten, sondern in chronologischer Reihenfolge zu lesen, denn so werde die Entwicklung der Autorin deutlich. Während nämlich in der ersten Novelle, die bereits "alle Elemente" der späteren Texte enthalte, die Figuren noch etwas "unscharf gesehen" würden, bekomme sie in den folgenden Texten die "Kunst in den Griff", lobt der Rezensent. Dennoch findet er in dem frühesten Text des Bandes bereits "alle Elemente", aus der Katzir ihre Erzählwelt baut, die deprimierende Realität und die "unerfüllten Träume" der Protagonisten und das "Spiel" dass zwischen den beiden Welten entsteht. Er meint, dass der Blick der Autorin zunehmend schärfer wird und preist die Erzählungen erfreut als "Vergnügen".

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