Feminismus und Geschlechterpolitik in Deutschland unterscheiden sich deutlich von ihren Pendants in den USA und in Großbritannien: Während dort Forderungen dominieren, die am liberalen Individualismus und am Ideal gleicher Rechte orientiert sind, stehen in Deutschland soziale Gerechtigkeit und staatliche Verantwortung im Vordergrund. Diese aus einer sozialdemokratischen Tradition herrührenden Aspekte sind hierzulande zudem häufig mit konservativchristlichen Elementen verbunden, die patriarchalische Autorität und den Wert der Familie betonen.
Myra Marx Ferree zeichnet in ihrem neuen Buch ein Panorama der modernen Frauenbewegungen in Deutschland, den USA und im globalen Kontext. Sie führt anschaulich vor Augen, dass historisch gewachsene politische Rahmenbedingungen bis heute eine große Rolle für die unterschiedliche Entwicklung der Geschlechterpolitik in Deutschland und den USA spielen. Damit wirft sie die Frage auf, was heute - in Europa und darüber hinaus - überhaupt »feministisch« ist.
Myra Marx Ferree zeichnet in ihrem neuen Buch ein Panorama der modernen Frauenbewegungen in Deutschland, den USA und im globalen Kontext. Sie führt anschaulich vor Augen, dass historisch gewachsene politische Rahmenbedingungen bis heute eine große Rolle für die unterschiedliche Entwicklung der Geschlechterpolitik in Deutschland und den USA spielen. Damit wirft sie die Frage auf, was heute - in Europa und darüber hinaus - überhaupt »feministisch« ist.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.11.2018Sie müssen sich selbst befreien
Blinde Flecken: Myra Marx Ferree wirft einen Blick von außen auf die deutsche Frauenbewegung. Ein Buch, das zum Klassiker taugt.
Von Petra Gehring
Frauenwahlrecht, Bildung, Recht auf Scheidung und Schwangerschaftsabbruch, staatliche Kinderbetreuung, gleiche Bezahlung für gleiche Arbeit, Entkriminalisierung lesbischer Liebe, entschlossene Bestrafung sexualisierter Gewalt: Zwar mag es ein feministisches Grundvokabular geben, weltweit rangen und ringen Frauen schließlich um die Durchsetzung genau solcher Punkte. Dennoch setzen feministische Bewegungen schon in den westlichen Ländern durchaus unterschiedlich an. Forderungen lauten verschieden, Programmatiken haben differente Stoßrichtungen und auch das, was weibliche Kämpfe bewirken, was überhaupt als "Erfolg" realpolitisch wie in der Arena feministischer Debatten Bestand hat, nimmt sich keineswegs gleich aus.
Soziale Bewegungen hängen von historischen Randbedingungen ab: als solches keine aufregende Erkenntnis. Die amerikanische Soziologin Myra Marx Ferree geht aber weiter. Sie konzentriert sich auf Unterschiede und schafft Kontrastbilder, die zeigen, wie in den politischen Wirklichkeiten "des" Feminismus handfest verschiedene "Feminismen" stecken. Die politische Botschaft dahinter: Gerade für Amerikanerinnen sei der Vergleich ihres eigenen geschlechterpolitischen Diskurses mit dem Feminismus in Deutschland (der seinerseits zeitweilig aus einem "Ost-" und einem "Westfeminismus" bestand) in besonderem Maße lehrreich.
Ebendiesen umfassenden Vergleich führt das Buch "Feminismen" dann tatsächlich durch: Materialreich, auf der Basis profunder Kenntnisse und mit Mut zu klaren Thesen kontrastiert die Autorin die feministischen Kämpfe - einschließlich feministische Theoriebildung - seit dem neunzehnten Jahrhundert diesseits und jenseits des Atlantiks. Und in die Zukunft blickt Marx Ferree in aller Vorsicht auch.
Kurz gesagt, legt das (nach der Erläuterung des Wortmonsters "intersektional") überraschend gut lesbare Buch mehrere Dreiecke übereinander. Da ist zum einen der Ländervergleich Vereinigte Staaten, Deutschland - mit den zwei politischen Welten BRD und DDR. Zum zweiten ist da das Dreieck der Wahrnehmungsmuster (wie auch Konzepte) "Rasse", "Klasse", "Geschlecht". Und drittens gibt es die in ihrem Sinn changierenden Diskursbausteine "liberal" (im Gegensatz zu paternalistisch und patriarchal wie auch solidarisch/kollektivistisch), "autonom" (im Gegensatz zu institutionen- oder staatsabhängig) und "radikal" (im Gegensatz zu Mainstream oder auch angepasst).
Die als Drittes gelisteten Eigenschaftswörter sind von besonderer Bedeutung für die Aktivistinnen selbst. An ihnen entscheiden sich Miteinander oder aber Spaltung: Kraft und Konzepte der Bewegung. Wobei zugleich die politische Randbedingungen von Gewicht sind: Gibt es "diskursive Gelegenheitsstrukturen", nämlich Chancen, "Frauenfragen" oder feministische Themen im Gefüge des Staatshandelns oder sonstiger Politik zu plazieren - oder aber (wie in Weimar, der DDR und den Vereinigten Staaten heute) eher nicht?
Marx Ferree zeichnet nach, wie in den Vereinigten Staaten auch Frauenkämpfe sich um die Neutralisierung von Diskriminierungsanlässen drehen - analog zum Kampf gegen Abwertungen aufgrund von "Rasse". Der amerikanische Feminismus machte das Geschlecht zum Politikum, wo Individuen öffentlich zurückgesetzt werden. Klassisch liberale Individualfreiheiten (und individuelle Rechtsansprüche) treiben Gleichstellungspolitik voran. Der Machtkomplex "Familie" ist hierbei über lange Zeit nur indirekt im Fokus - Hausarbeit und Sexualität gelten in den Vereinigten Staaten wie im amerikanischen Feminismus als privat. Demgegenüber gleicht in Deutschland (schon im neunzehnten Jahrhundert, aber auch in allen Diskussionen seither) das Frausein eher einer Klassenzugehörigkeit: Feministinnen treten ein für kollektiv gelebte "Autonomie", wie überhaupt Solidarität und ein ganz anderer Typ von Staatskritik die Argumente prägen. Hinzu kommt, dass Kämpfe sich um eine (vom Staat arbeitsmarktpolitisch aktiv geschützte) Familie, um Sexualität und allem voran um die kriminalisierte Abtreibung drehen.
"Frau" zu sein meint nicht einen Diskriminierungsanlass, sondern die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die auf ökonomische und reproduktive Selbstbestimmung und gegebenenfalls auch auf Veränderungen dieser Welt pocht. BRD und DDR lassen sich wie zwei Varianten eines solchen Feminismus lesen: In der westdeutschen Frauenbewegung ist es das von CDU, SPD und Gewerkschaften gleichermaßen verfochtene christlich-paternalistische Familienbild (männlicher Ernährer, unbezahlte Hausfrauenarbeit), gegen das der Feminismus rebelliert. In der DDR haben zwar Frauen und Männer gleichen Zugang zu Bildung und Beruf, Kinderbetreuung während der Arbeitszeit und Schwangerschaftsabbruch werden staatlich geboten. Jedoch bleibt das "Mutti"-Schema nach Feierabend unangetastet: Man bürdet den Frauen schlicht eine Doppelrolle auf, was Ost-Feministinnen kritisieren. Nach der Wende entscheiden sie sich klar für die Berufstätigkeit, was der als "Gebärstreik" verbuchte Rückgang ostdeutscher Geburten während der steigenden Frauenarbeitslosigkeit nach 1989 eindrucksvoll dokumentiert.
Welche Einsichten bietet das Buch aktuellen feministischen Debatten? Marx Ferree kontrastiert meisterhaft, wie in der deutschen Konfliktwahrnehmung (Rebellion gegen Familie, Kirche, Ehe als Zwang) die Frage des Schwangerschaftsabbruchs, aber auch Quotenregelungen, andere Formen aktiver Frauenförderung und die Vision einer kollektiven Alternative über mehr als ein Jahrhundert feministische Schlüsselthemen blieben - wohingegen der amerikanische Feminismus vor allem individuell wirksame Maßnahmen der Antidiskriminierung und egalitäre Teilhaberechte erstritt, nach wie vor aber strukturelle innerfamiliäre oder ökonomische Benachteiligung (oder auch Themen wie die Bezahlung von Hausarbeit) als "radikale" Tabuthemen behandelt.
Und so hapert es eben auch mit dem Transfer feministischer Theorie. Dass Alice Schwarzer mit der Forderung, die Bundeswehr für Frauen zu öffnen, hierzulande irritierte, deutet Marx Ferree als blinden Fleck des deutschen Feminismus: klassisch liberale Antidiskriminierung, die Priorität von Gleichbehandlung, kennt er nicht. Erklärbar ist auch die Hilflosigkeit der in Deutschland etablierten "autonomen" Frauengruppen angesichts von alltagskulturell markierten "Binnenunterschieden" in den eigenen Reihen, etwa dem Familienverständnis von Musliminnen oder dem polarisierenden Kopftuch. In den Vereinigten Staaten werden "Rasse" oder Religion als Grund für feministische Differenzen für normal erachtet.
Ausführlich analysiert Marx Ferree auch die Effekte, die der Einbruch "queerer" Politikstrategien - mit Judith Butler "poststrukturalistisch" begründet - auf die durch die "Wende", durch die Auseinandersetzungen um Bio- und Reproduktionstechniken sowie durch Akademisierung geschwächte deutsche Frauenbewegung der 1990er Jahre hatte: Allianzen sexuell definierter Minderheiten auf der Basis liberaler Antidiskriminierungsforderungen amerikanischen Typs haben die Klassensolidarität ersetzt. So ist vieles am deutschen Feminismus regelrecht zerbrochen. Nicht zu Unrecht, so Marx Ferree, empfinden es deutsche Feministinnen als politischen Verlust, wenn heute eine pluralisierte und daher beliebig wirkende Kategorie "Geschlecht" in eine lange Reihe anderer Diskriminierungsanlässe einrückt und Gender Mainstreaming oder Diversity das Intervenieren "für Frauen" ersetzt.
Umgekehrt, so die Autorin, fehlt es den amerikanischen Feministinnen mehr denn je an Sinn für ökonomische Strukturen wie auch an der Solidarität einer Bewegung von Frauen für Frauen. Die Energie des amerikanischen Feminismus "hat sich verteilt" in einer allgemeinen Bewegung für soziale Gerechtigkeit; die Durchsetzungskraft war schon vor Trump nur noch schwach. Der deutsche Weg der feministischen Debatte hingegen habe, so eine der vielen provozierenden Bilanzen der "Feminismen", nicht zuletzt dank pragmatisch-entschlossener Ost-Feministinnen seinen Weg in Parteien und Institutionen hinein gefunden.
Der Weg von der gelebten Autonomie frauen- und lesbenbewegter "Projekte" zu einer dann doch auch bejahten staatlichen Förderung habe sich letztlich als der historisch kraftvollere erwiesen. So sei der deutsche beziehungsweise europäische Feminismus "für die Entwicklungskurve des feministischen Kampfes in einem Großteil der Welt" ein realistischerer Modellfall als die Entwicklung in den Vereinigten Staaten. Für die feministische Theoriebildung, so sei ergänzt, könnte Ähnliches gelten: Wie in Frankreich leitete sie im deutschsprachigen Raum aus dem Poststrukturalismus keineswegs lediglich "queere" Handlungsmaximen, sondern auch parteiliche, ,klassenbewusste' Kritikstrategien ab. Neben Antidiskriminierung und Gleichstellung zählt hier auch Simone de Beauvoir (die bei Marx Ferree merkwürdigerweise fehlt).
Weder der Staat noch die Märkte befreien die Frauen. Sie müssen es selbst tun und sollten dabei am besten, was den Feminismus in Theorie und Praxis angeht, nicht naiv und alternativlos in den Fahrwassern der Diskurse von "Rasse" oder aber Klasse navigieren. Marx Ferrees scharf schlussfolgerndes Buch wird ein Klassiker werden. Als nichtdeutsche Geschichte des deutschen Feminismus ist es für ebendiesen - auch künftigen - Feminismus ein Geschenk.
Myra Marx Ferree: "Feminismen". Die deutsche Frauenbewegung in globaler Perspektive.
Aus dem Englischen von Claudia Buchholtz und Bettina Seifried. Campus Verlag, Frankfurt am Main 2018. 368 S., br., 34.95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Blinde Flecken: Myra Marx Ferree wirft einen Blick von außen auf die deutsche Frauenbewegung. Ein Buch, das zum Klassiker taugt.
Von Petra Gehring
Frauenwahlrecht, Bildung, Recht auf Scheidung und Schwangerschaftsabbruch, staatliche Kinderbetreuung, gleiche Bezahlung für gleiche Arbeit, Entkriminalisierung lesbischer Liebe, entschlossene Bestrafung sexualisierter Gewalt: Zwar mag es ein feministisches Grundvokabular geben, weltweit rangen und ringen Frauen schließlich um die Durchsetzung genau solcher Punkte. Dennoch setzen feministische Bewegungen schon in den westlichen Ländern durchaus unterschiedlich an. Forderungen lauten verschieden, Programmatiken haben differente Stoßrichtungen und auch das, was weibliche Kämpfe bewirken, was überhaupt als "Erfolg" realpolitisch wie in der Arena feministischer Debatten Bestand hat, nimmt sich keineswegs gleich aus.
Soziale Bewegungen hängen von historischen Randbedingungen ab: als solches keine aufregende Erkenntnis. Die amerikanische Soziologin Myra Marx Ferree geht aber weiter. Sie konzentriert sich auf Unterschiede und schafft Kontrastbilder, die zeigen, wie in den politischen Wirklichkeiten "des" Feminismus handfest verschiedene "Feminismen" stecken. Die politische Botschaft dahinter: Gerade für Amerikanerinnen sei der Vergleich ihres eigenen geschlechterpolitischen Diskurses mit dem Feminismus in Deutschland (der seinerseits zeitweilig aus einem "Ost-" und einem "Westfeminismus" bestand) in besonderem Maße lehrreich.
Ebendiesen umfassenden Vergleich führt das Buch "Feminismen" dann tatsächlich durch: Materialreich, auf der Basis profunder Kenntnisse und mit Mut zu klaren Thesen kontrastiert die Autorin die feministischen Kämpfe - einschließlich feministische Theoriebildung - seit dem neunzehnten Jahrhundert diesseits und jenseits des Atlantiks. Und in die Zukunft blickt Marx Ferree in aller Vorsicht auch.
Kurz gesagt, legt das (nach der Erläuterung des Wortmonsters "intersektional") überraschend gut lesbare Buch mehrere Dreiecke übereinander. Da ist zum einen der Ländervergleich Vereinigte Staaten, Deutschland - mit den zwei politischen Welten BRD und DDR. Zum zweiten ist da das Dreieck der Wahrnehmungsmuster (wie auch Konzepte) "Rasse", "Klasse", "Geschlecht". Und drittens gibt es die in ihrem Sinn changierenden Diskursbausteine "liberal" (im Gegensatz zu paternalistisch und patriarchal wie auch solidarisch/kollektivistisch), "autonom" (im Gegensatz zu institutionen- oder staatsabhängig) und "radikal" (im Gegensatz zu Mainstream oder auch angepasst).
Die als Drittes gelisteten Eigenschaftswörter sind von besonderer Bedeutung für die Aktivistinnen selbst. An ihnen entscheiden sich Miteinander oder aber Spaltung: Kraft und Konzepte der Bewegung. Wobei zugleich die politische Randbedingungen von Gewicht sind: Gibt es "diskursive Gelegenheitsstrukturen", nämlich Chancen, "Frauenfragen" oder feministische Themen im Gefüge des Staatshandelns oder sonstiger Politik zu plazieren - oder aber (wie in Weimar, der DDR und den Vereinigten Staaten heute) eher nicht?
Marx Ferree zeichnet nach, wie in den Vereinigten Staaten auch Frauenkämpfe sich um die Neutralisierung von Diskriminierungsanlässen drehen - analog zum Kampf gegen Abwertungen aufgrund von "Rasse". Der amerikanische Feminismus machte das Geschlecht zum Politikum, wo Individuen öffentlich zurückgesetzt werden. Klassisch liberale Individualfreiheiten (und individuelle Rechtsansprüche) treiben Gleichstellungspolitik voran. Der Machtkomplex "Familie" ist hierbei über lange Zeit nur indirekt im Fokus - Hausarbeit und Sexualität gelten in den Vereinigten Staaten wie im amerikanischen Feminismus als privat. Demgegenüber gleicht in Deutschland (schon im neunzehnten Jahrhundert, aber auch in allen Diskussionen seither) das Frausein eher einer Klassenzugehörigkeit: Feministinnen treten ein für kollektiv gelebte "Autonomie", wie überhaupt Solidarität und ein ganz anderer Typ von Staatskritik die Argumente prägen. Hinzu kommt, dass Kämpfe sich um eine (vom Staat arbeitsmarktpolitisch aktiv geschützte) Familie, um Sexualität und allem voran um die kriminalisierte Abtreibung drehen.
"Frau" zu sein meint nicht einen Diskriminierungsanlass, sondern die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die auf ökonomische und reproduktive Selbstbestimmung und gegebenenfalls auch auf Veränderungen dieser Welt pocht. BRD und DDR lassen sich wie zwei Varianten eines solchen Feminismus lesen: In der westdeutschen Frauenbewegung ist es das von CDU, SPD und Gewerkschaften gleichermaßen verfochtene christlich-paternalistische Familienbild (männlicher Ernährer, unbezahlte Hausfrauenarbeit), gegen das der Feminismus rebelliert. In der DDR haben zwar Frauen und Männer gleichen Zugang zu Bildung und Beruf, Kinderbetreuung während der Arbeitszeit und Schwangerschaftsabbruch werden staatlich geboten. Jedoch bleibt das "Mutti"-Schema nach Feierabend unangetastet: Man bürdet den Frauen schlicht eine Doppelrolle auf, was Ost-Feministinnen kritisieren. Nach der Wende entscheiden sie sich klar für die Berufstätigkeit, was der als "Gebärstreik" verbuchte Rückgang ostdeutscher Geburten während der steigenden Frauenarbeitslosigkeit nach 1989 eindrucksvoll dokumentiert.
Welche Einsichten bietet das Buch aktuellen feministischen Debatten? Marx Ferree kontrastiert meisterhaft, wie in der deutschen Konfliktwahrnehmung (Rebellion gegen Familie, Kirche, Ehe als Zwang) die Frage des Schwangerschaftsabbruchs, aber auch Quotenregelungen, andere Formen aktiver Frauenförderung und die Vision einer kollektiven Alternative über mehr als ein Jahrhundert feministische Schlüsselthemen blieben - wohingegen der amerikanische Feminismus vor allem individuell wirksame Maßnahmen der Antidiskriminierung und egalitäre Teilhaberechte erstritt, nach wie vor aber strukturelle innerfamiliäre oder ökonomische Benachteiligung (oder auch Themen wie die Bezahlung von Hausarbeit) als "radikale" Tabuthemen behandelt.
Und so hapert es eben auch mit dem Transfer feministischer Theorie. Dass Alice Schwarzer mit der Forderung, die Bundeswehr für Frauen zu öffnen, hierzulande irritierte, deutet Marx Ferree als blinden Fleck des deutschen Feminismus: klassisch liberale Antidiskriminierung, die Priorität von Gleichbehandlung, kennt er nicht. Erklärbar ist auch die Hilflosigkeit der in Deutschland etablierten "autonomen" Frauengruppen angesichts von alltagskulturell markierten "Binnenunterschieden" in den eigenen Reihen, etwa dem Familienverständnis von Musliminnen oder dem polarisierenden Kopftuch. In den Vereinigten Staaten werden "Rasse" oder Religion als Grund für feministische Differenzen für normal erachtet.
Ausführlich analysiert Marx Ferree auch die Effekte, die der Einbruch "queerer" Politikstrategien - mit Judith Butler "poststrukturalistisch" begründet - auf die durch die "Wende", durch die Auseinandersetzungen um Bio- und Reproduktionstechniken sowie durch Akademisierung geschwächte deutsche Frauenbewegung der 1990er Jahre hatte: Allianzen sexuell definierter Minderheiten auf der Basis liberaler Antidiskriminierungsforderungen amerikanischen Typs haben die Klassensolidarität ersetzt. So ist vieles am deutschen Feminismus regelrecht zerbrochen. Nicht zu Unrecht, so Marx Ferree, empfinden es deutsche Feministinnen als politischen Verlust, wenn heute eine pluralisierte und daher beliebig wirkende Kategorie "Geschlecht" in eine lange Reihe anderer Diskriminierungsanlässe einrückt und Gender Mainstreaming oder Diversity das Intervenieren "für Frauen" ersetzt.
Umgekehrt, so die Autorin, fehlt es den amerikanischen Feministinnen mehr denn je an Sinn für ökonomische Strukturen wie auch an der Solidarität einer Bewegung von Frauen für Frauen. Die Energie des amerikanischen Feminismus "hat sich verteilt" in einer allgemeinen Bewegung für soziale Gerechtigkeit; die Durchsetzungskraft war schon vor Trump nur noch schwach. Der deutsche Weg der feministischen Debatte hingegen habe, so eine der vielen provozierenden Bilanzen der "Feminismen", nicht zuletzt dank pragmatisch-entschlossener Ost-Feministinnen seinen Weg in Parteien und Institutionen hinein gefunden.
Der Weg von der gelebten Autonomie frauen- und lesbenbewegter "Projekte" zu einer dann doch auch bejahten staatlichen Förderung habe sich letztlich als der historisch kraftvollere erwiesen. So sei der deutsche beziehungsweise europäische Feminismus "für die Entwicklungskurve des feministischen Kampfes in einem Großteil der Welt" ein realistischerer Modellfall als die Entwicklung in den Vereinigten Staaten. Für die feministische Theoriebildung, so sei ergänzt, könnte Ähnliches gelten: Wie in Frankreich leitete sie im deutschsprachigen Raum aus dem Poststrukturalismus keineswegs lediglich "queere" Handlungsmaximen, sondern auch parteiliche, ,klassenbewusste' Kritikstrategien ab. Neben Antidiskriminierung und Gleichstellung zählt hier auch Simone de Beauvoir (die bei Marx Ferree merkwürdigerweise fehlt).
Weder der Staat noch die Märkte befreien die Frauen. Sie müssen es selbst tun und sollten dabei am besten, was den Feminismus in Theorie und Praxis angeht, nicht naiv und alternativlos in den Fahrwassern der Diskurse von "Rasse" oder aber Klasse navigieren. Marx Ferrees scharf schlussfolgerndes Buch wird ein Klassiker werden. Als nichtdeutsche Geschichte des deutschen Feminismus ist es für ebendiesen - auch künftigen - Feminismus ein Geschenk.
Myra Marx Ferree: "Feminismen". Die deutsche Frauenbewegung in globaler Perspektive.
Aus dem Englischen von Claudia Buchholtz und Bettina Seifried. Campus Verlag, Frankfurt am Main 2018. 368 S., br., 34.95 [Euro].
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»Marx Ferrees scharf schlussfolgerndes Buch wird ein Klassiker werden. Als nichtdeutsche Geschichte des deutschen Feminismus ist es für ebendiesen - auch künftigen - Feminismus ein Geschenk.« Petra Gehring, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.11.2018»Die ländervergleichende Perspektive, mit der Ferree die Unterschiede zwischen der Frauenbewegung in den USA und in Ost- und Westdeutschland herausgearbeitet hat, bietet eine gute Grundlage für das Verstehen der aktuellen globalen feministischen Bewegung wie für einen Dialog über die Differenzen und Unterschiede hinweg.« Ulla Bock, H-Soz-Kult, 30.08.2018»Dass Ferree als Amerikanerin mit einer gewissen Distanz über den deutschen Feminismus schreibt, scheint ihrem Unterfangen zugute zu kommen. Sie stellt immer die Frage, warum zu einem bestimmten Zeitpunkt spezifische Forderungen aufkamen und unter welchen Umstände sie durchgesetzt werden konnten. Diese Dynamiken analysiert Ferree mit erfrischender Klarheit.« Rahel Wusterack, junge welt,26.10.2018»Besonders interessant wird dieses Buch, wenn es die unterschiedlichen Diskurse und Praktiken zwischen den USA und Deutschland herausarbeitet und die spezifischen Kontexte von beiden feministischen Bewegungen herausstellt. Dadurch wird der Ansatz des relationalen Realismus sehr produktiv und erkenntnisreich.« Henrike Knappe, Femina Politica, 16.07.2019»Für uns deutsche LeserInnen funktioniert das Buch zweifach als Blick von außen. Zum einen lesen wir mit, wie die US-Soziologin ihren Leserinnen unsere Geschichte erklärt. Wir sehen uns in ihrer Erzählung gespiegelt. Zum anderen erklärt das Buch uns auch ein Stück des amerikanischen Feminismus - und wie dieser auf Debatten in Deutschland zurückwirkt.« Petra Gehring, EMMA, 29.08.2019