Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.07.1998Nötig ist die Zahlentheorie sowenig wie das Bergsteigen
Andrew Wiles bezwang den mathematischen Everest trotzdem: Plötzlich verstand er den Satz von der Unmöglichkeit der Würfelzerlegung
Im Mai 1953 gelang Tenzing Norgay und Edmund Hillary die Erstbesteigung des Mount Everest. Aber man sollte Geschichte nicht so verzerrt darstellen. In Wirklichkeit wurde diese Leistung von vielen Menschen gemeinsam vollbracht. Eine Großzahl von Spezialisten bis hin zum Metzger, Bäcker und Kerzenmacher mußte zusammenarbeiten, bis das Ziel erreicht war. Der Everest ist nicht der schwierigste Achttausender, aber bei der Verteilung von Ruhm ist es noch nie gerecht zugegangen. Wir Menschen neigen dazu, simple Maßstäbe anzulegen. Der Everest ist der höchste irdische Berg, und deshalb gelten seine Bezwinger bei naiven Zeitgenossen als die besten aller Bergsteiger. Die nächstgrößere Herausforderung war der Flug zum Mond.
Vermutlich kann man in jedem Bereich der menschlichen Kreativität einen Everest finden. In der Mathematik ist es wohl der "Große Fermatsche Satz". Dabei handelt es sich weder um das schwerste mathematische Problem noch um das wichtigste, sondern nur um das berühmteste. Im September 1994 wurde es gelöst. Dieser Erfolg war das Resultat der Anstrengungen von Hunderten von Mathematikerinnen und Mathematikern, aber er wird immer mit einem oder allenfalls zwei Namen verknüpft werden, nämlich mit denen von Andrew Wiles und Richard Taylor. Simon Singh schildert, wie Wiles mit heroischer Anstrengung die letzten Teile des Puzzles eingefügt hat. Fast wäre er kurz vor dem Ende noch gescheitert, aber dann schaffte er es mit der Hilfe von Taylor doch, die verbliebene Lücke zu schließen.
Der "Große Fermatsche Satz" hat seinen Namen lange zu Unrecht getragen. Eigentlich hätte man zunächst von der "Fermatschen Vermutung" reden müssen. Als Satz bezeichnet man nur Aussagen, die bereits bewiesen sind. Der Beweis muß für den Fachmann verfügbar und nachprüfbar sein. Aber zur Zeit von Pierre de Fermat (1601 bis 1665) nahm man es noch nicht so genau mit der Terminologie, und Beweise veröffentlichte man höchst ungern. Der Satz hat den großen Vorteil, daß man ihn einem Laien in drei Sätzen erklären kann. Nach Pythagoras gilt a²+b²=c², wobei man natürlich noch herausfinden muß, was die Größen a, b und so weiter sind. Es gibt Lösungen in ganzen Zahlen, zum Beispiel ist 3²+4²=5². Hingegen besitzt die Gleichung an+bn=cn keine Lösung in positiven ganzen Zahlen a, b, c, n, falls der Exponent n größer als zwei ist.
Der Franzose Fermat war einer der großen Mathematiker seiner Zeit, auch wenn er seine Wissenschaft nur als Amateur betrieb. Hauptberuflich war er Jurist. Eine ausführliche Darstellung seines Lebens findet man in dem vorliegenden Band und in vielen anderen Werken zur Mathematikgeschichte. Nach seinem Tod fand man in seinem Exemplar der "Arithmetrica" des Diophantos folgende Randbemerkung - natürlich wie damals üblich auf lateinisch: "Es ist nicht möglich, einen Kubus in zwei Kuben oder ein Biquadrat in zwei Biquadrate und allgemein eine Potenz, höher als die zweite, in zwei Potenzen mit demselben Exponenten zu zerlegen. Ich habe hierfür einen wahrhaft wunderbaren Beweis, doch ist dieser Rand hier zu schmal, um ihn zu fassen."
Man weiß so wenig
Ob Fermat wirklich einen Beweis hatte, weiß man nicht. Ganz ausschließen sollte man es aber auch nicht. In der Mathematik kommt man oft auf gewaltigen Umwegen zu einem Ergebnis. Es ist keineswegs so, daß in der Regel erst der Satz kommt und dann der Beweis. Oft hat man eine nur vage Idee, die man erst nachträglich formalisiert. Wer weiß, welches Labyrinth Fermat durchwandert hatte, bis er seinen Satz formulierte? Auf jeden Fall kann man davon ausgehen, daß der Fermatsche Beweis, wenn er denn existierte, nicht mit dem von Wiles identisch ist. Wiles hat den Heuhaufen acht Jahre lang durchwühlt, bis er die Nadel fand. Sein Beweis ist mit 130 Druckseiten viel zu lang, als daß man ihn "wahrhaft wunderbar" nennen würde.
Fünf Jahre nach Fermats Tod veröffentlichte sein Sohn Clément-Samuel viele Ergebnisse des Vaters, unter anderem auch die bewußte Randbemerkung. Seitdem wurde immer wieder versucht, den Großen Fermatschen Satz zu beweisen. Ein Teil der Faszination dieses Problems lag sicherlich in der Art seiner Entstehung begründet. Hätte Fermat sein Resultat nicht als sichere Tatsache, sondern nur als Vermutung bezeichnet, die Geschichte der Mathematik oder zumindest der Algebra wäre sicherlich etwas anders verlaufen. Alle Versuche, den Satz zu beweisen, scheiterten zwar erst einmal, aber dabei wurden so viele fruchtbare Methoden entwickelt, daß sich die Arbeit letzten Endes doch lohnte. (Manchmal sucht man vergeblich den Seeweg nach Indien und bringt dann wenigstens die Kartoffel, den Mais und ein Video von Pamela Anderson nach Hause.) Teilerfolge wurden immer wieder erzielt, aber jedem Spezialisten war völlig klar, daß es ein Hasardspiel war, auf einen vollständigen Beweis zu spekulieren.
Und dann kam Andrew Wiles. Auf den Fotos im Buch sieht er aus wie ein großer Junge, und das ist er wohl auch. Er wurde 1953 in England geboren. Im Alter von zehn Jahren entdeckte er in einer Bücherei in seiner Heimatstadt Cambridge "The Last Problem" von Eric Temple Bell, einem Autor mit einem besonderen Talent für romantisch verklärte Theatralik. (Ältere Leser kennen vielleicht noch "Die großen Mathematiker" aus der Reihe "Das moderne Sachbuch".) Nach dieser Lektüre wollte Andrew nicht mehr Lokomotivführer werden; er beschloß, dereinst den Fermatschen Satz zu beweisen. Er sollte sein Ziel erreichen. Wäre er gescheitert, so hätte niemand darüber ein Buch geschrieben. Die im Dunkeln sieht man nicht.
Wiles studierte Mathematik und wurde schließlich Professor in Princeton, New Jersey. Die mathematische Abteilung dieser Universität hat einen hervorragenden Ruf. Wer dort eine Stelle bekommen will, muß auf seinem Teilgebiet zu den Besten gehören. Wiles war sicher auch für Princeton noch überdurchschnittlich gut. Das heißt aber nicht, daß er berühmt war. In der Mathematik gibt es keine Weltrangliste wie beim Tennis, dazu ist diese Wissenschaft viel zu komplex und viel zu sehr in Teilbereiche aufgespalten. Es ist keine Schande, wenn man (wie der Rezensent) zugeben muß, den Namen Wiles vor 1993 nicht gekannt zu haben.
1986 zeigte Ken Ribet, daß aus der sogenannten Taniyama-Shimura-Vermutung der Fermatsche Satz folgt. Wie der Name schon sagt, war diese Aussage auch unbewiesen (und ist es in voller Allgemeinheit wohl auch heute noch). Immerhin war das ein Stoff, mit dem sich ein Mathematiker intensiv beschäftigen konnte, ohne daß man ihn für größenwahnsinnig gehalten hätte. Wiles erfaßte sofort seine Chance und entschloß sich, den Beweis des Fermatsatzes über diesen Zugang zu versuchen. Selbst wenn er damit keinen Erfolg gehabt hätte, so wären doch auch interessante Teilergebnisse genug Lohn für seine Mühe gewesen. Man sollte es aber ruhig ganz kraß formulieren: Wiles war ruhmsüchtig. Das alte olympische Motto "Nicht siegen, dabeisein ist wichtig" hatte für ihn keine Gültigkeit. Er wollte siegen. Damit ihm niemand die Früchte seiner Arbeit wegnehmen konnte, begann er, im geheimen zu arbeiten. Für einen Mathematiker ist das eher ungewöhnlich. Der Fortschritt der Mathematik beruht in der Regel auf der umfassenden Kommunikation unter den Wissenschaftlern. Mathematiker jagen in Rudeln. Wenn Wiles' Kollegen gewußt hätten, was er plante, sie hätten es für leicht pathologisch gehalten. Niemand außer seiner Frau erfuhr, was er vorhatte. Zur Tarnung nahm er eine wissenschaftliche Arbeit, die er noch nicht veröffentlicht hatte, und teilte sie in kleinere Stücke auf. So konnte er weiter publizieren, ohne daß jemand Verdacht schöpfte.
Im Juni 1993 glaubte Wiles, den Beweis vollendet zu haben. Er trug ihn in einer Vorlesung vor. Die Reaktion war überwältigend. Die Nachricht verbreitete sich blitzartig über die Welt und kam sogar auf die Titelseite der New York Times, die anscheinend so schnell kein Foto von Wiles auftreiben konnte und deshalb ein Bild von Fermat brachte. Wiles war eine Minute lang berühmter als Pamela Anderson. Anschließend gingen die Dinge den in der Wissenschaft üblichen Gang. Wiles hatte einen langen Artikel geschrieben, den er bei der Fachzeitschrift "Inventiones Mathematicae" einreichte. Diese bestimmte sechs Gutachter, die jeweils einen Teil der Argumentation in allen Einzelheiten nachprüfen sollten. Einer davon war Nick Katz, der mit Luc Illusie zusammenarbeitete. Nach monatelanger Arbeit fanden die beiden eine kleine, aber entscheidende Lücke, die sich nicht schließen ließ. Touché.
Man kann erahnen, wie Wiles zumute war. Einerseits hatte er viele hervorragende Ergebnisse erzielt, andererseits war er natürlich knapp vor dem Ziel gescheitert. Zwischen Lipp' und Kelchesrand schwebt der finstern Mächte Hand. Jeder von uns würde in dieser Situation verzweifelt versuchen, den Fehler zu berichtigen, und Wiles war keine Ausnahme. Lange Monate kämpfte er mit seinem Beweis, ohne weiterzukommen. Dann entschloß er sich, mit seinem ehemaligen Schüler Richard Taylor zusammenzuarbeiten. Die beiden mußten noch bis zum September 1994 hart arbeiten, bis sie die Lösung endlich gefunden hatten. Wiles hat es geschafft. Im Lexikon "Discovery '98" von Bertelsmann wird er in einem Nebensatz erwähnt. Schon für Taylor hat der Platz nicht mehr gereicht.
Der Laie wundert sich
Das bisher Geschilderte macht nur einen Teil des Buchs aus. Singh beschreibt spannend und anschaulich große Teile der Mathematikgeschichte, auch solche, die mit Fermats Satz eher wenig zu tun haben. Wer in der Schule die Mathematik gehaßt hat, könnte die Lektüre des Buchs zum Anlaß nehmen, sein Urteil zu revidieren. Singh ist ein Physiker, der zum Wissenschaftsjournalisten wurde. Daß er kein Fachmann ist, hat das Buch wohl eher verbessert, weil es ihm ermöglichte, unvoreingenommen und wenig technisch an die Dinge heranzugehen. In den "Notices of the American Mathematical Society" (http://www.ams.org/notices/199710/comm-fermat.html) hat Allyn Jackson kritisiert, daß Singh gewisse mathematische Feinheiten manchmal nicht richtig dargestellt hat. Für die Laien, für die das Buch hauptsächlich geschrieben wurde, ist das weniger wichtig. Insgesamt gesehen hätte es das Buch verdient, wie in den englischsprachigen Ländern auch bei uns zum Bestseller zu werden. Jedenfalls mehr als eine Biographie von Pamela Anderson. ERNST HORST
Simon Singh: "Fermats letzter Satz". Die abenteuerliche Geschichte eines mathematischen Rätsels. Aus dem Englischen von Klaus Fritz. Hanser Verlag, München 1998. 364 S., Abb., geb., 49,80 DM.
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Andrew Wiles bezwang den mathematischen Everest trotzdem: Plötzlich verstand er den Satz von der Unmöglichkeit der Würfelzerlegung
Im Mai 1953 gelang Tenzing Norgay und Edmund Hillary die Erstbesteigung des Mount Everest. Aber man sollte Geschichte nicht so verzerrt darstellen. In Wirklichkeit wurde diese Leistung von vielen Menschen gemeinsam vollbracht. Eine Großzahl von Spezialisten bis hin zum Metzger, Bäcker und Kerzenmacher mußte zusammenarbeiten, bis das Ziel erreicht war. Der Everest ist nicht der schwierigste Achttausender, aber bei der Verteilung von Ruhm ist es noch nie gerecht zugegangen. Wir Menschen neigen dazu, simple Maßstäbe anzulegen. Der Everest ist der höchste irdische Berg, und deshalb gelten seine Bezwinger bei naiven Zeitgenossen als die besten aller Bergsteiger. Die nächstgrößere Herausforderung war der Flug zum Mond.
Vermutlich kann man in jedem Bereich der menschlichen Kreativität einen Everest finden. In der Mathematik ist es wohl der "Große Fermatsche Satz". Dabei handelt es sich weder um das schwerste mathematische Problem noch um das wichtigste, sondern nur um das berühmteste. Im September 1994 wurde es gelöst. Dieser Erfolg war das Resultat der Anstrengungen von Hunderten von Mathematikerinnen und Mathematikern, aber er wird immer mit einem oder allenfalls zwei Namen verknüpft werden, nämlich mit denen von Andrew Wiles und Richard Taylor. Simon Singh schildert, wie Wiles mit heroischer Anstrengung die letzten Teile des Puzzles eingefügt hat. Fast wäre er kurz vor dem Ende noch gescheitert, aber dann schaffte er es mit der Hilfe von Taylor doch, die verbliebene Lücke zu schließen.
Der "Große Fermatsche Satz" hat seinen Namen lange zu Unrecht getragen. Eigentlich hätte man zunächst von der "Fermatschen Vermutung" reden müssen. Als Satz bezeichnet man nur Aussagen, die bereits bewiesen sind. Der Beweis muß für den Fachmann verfügbar und nachprüfbar sein. Aber zur Zeit von Pierre de Fermat (1601 bis 1665) nahm man es noch nicht so genau mit der Terminologie, und Beweise veröffentlichte man höchst ungern. Der Satz hat den großen Vorteil, daß man ihn einem Laien in drei Sätzen erklären kann. Nach Pythagoras gilt a²+b²=c², wobei man natürlich noch herausfinden muß, was die Größen a, b und so weiter sind. Es gibt Lösungen in ganzen Zahlen, zum Beispiel ist 3²+4²=5². Hingegen besitzt die Gleichung an+bn=cn keine Lösung in positiven ganzen Zahlen a, b, c, n, falls der Exponent n größer als zwei ist.
Der Franzose Fermat war einer der großen Mathematiker seiner Zeit, auch wenn er seine Wissenschaft nur als Amateur betrieb. Hauptberuflich war er Jurist. Eine ausführliche Darstellung seines Lebens findet man in dem vorliegenden Band und in vielen anderen Werken zur Mathematikgeschichte. Nach seinem Tod fand man in seinem Exemplar der "Arithmetrica" des Diophantos folgende Randbemerkung - natürlich wie damals üblich auf lateinisch: "Es ist nicht möglich, einen Kubus in zwei Kuben oder ein Biquadrat in zwei Biquadrate und allgemein eine Potenz, höher als die zweite, in zwei Potenzen mit demselben Exponenten zu zerlegen. Ich habe hierfür einen wahrhaft wunderbaren Beweis, doch ist dieser Rand hier zu schmal, um ihn zu fassen."
Man weiß so wenig
Ob Fermat wirklich einen Beweis hatte, weiß man nicht. Ganz ausschließen sollte man es aber auch nicht. In der Mathematik kommt man oft auf gewaltigen Umwegen zu einem Ergebnis. Es ist keineswegs so, daß in der Regel erst der Satz kommt und dann der Beweis. Oft hat man eine nur vage Idee, die man erst nachträglich formalisiert. Wer weiß, welches Labyrinth Fermat durchwandert hatte, bis er seinen Satz formulierte? Auf jeden Fall kann man davon ausgehen, daß der Fermatsche Beweis, wenn er denn existierte, nicht mit dem von Wiles identisch ist. Wiles hat den Heuhaufen acht Jahre lang durchwühlt, bis er die Nadel fand. Sein Beweis ist mit 130 Druckseiten viel zu lang, als daß man ihn "wahrhaft wunderbar" nennen würde.
Fünf Jahre nach Fermats Tod veröffentlichte sein Sohn Clément-Samuel viele Ergebnisse des Vaters, unter anderem auch die bewußte Randbemerkung. Seitdem wurde immer wieder versucht, den Großen Fermatschen Satz zu beweisen. Ein Teil der Faszination dieses Problems lag sicherlich in der Art seiner Entstehung begründet. Hätte Fermat sein Resultat nicht als sichere Tatsache, sondern nur als Vermutung bezeichnet, die Geschichte der Mathematik oder zumindest der Algebra wäre sicherlich etwas anders verlaufen. Alle Versuche, den Satz zu beweisen, scheiterten zwar erst einmal, aber dabei wurden so viele fruchtbare Methoden entwickelt, daß sich die Arbeit letzten Endes doch lohnte. (Manchmal sucht man vergeblich den Seeweg nach Indien und bringt dann wenigstens die Kartoffel, den Mais und ein Video von Pamela Anderson nach Hause.) Teilerfolge wurden immer wieder erzielt, aber jedem Spezialisten war völlig klar, daß es ein Hasardspiel war, auf einen vollständigen Beweis zu spekulieren.
Und dann kam Andrew Wiles. Auf den Fotos im Buch sieht er aus wie ein großer Junge, und das ist er wohl auch. Er wurde 1953 in England geboren. Im Alter von zehn Jahren entdeckte er in einer Bücherei in seiner Heimatstadt Cambridge "The Last Problem" von Eric Temple Bell, einem Autor mit einem besonderen Talent für romantisch verklärte Theatralik. (Ältere Leser kennen vielleicht noch "Die großen Mathematiker" aus der Reihe "Das moderne Sachbuch".) Nach dieser Lektüre wollte Andrew nicht mehr Lokomotivführer werden; er beschloß, dereinst den Fermatschen Satz zu beweisen. Er sollte sein Ziel erreichen. Wäre er gescheitert, so hätte niemand darüber ein Buch geschrieben. Die im Dunkeln sieht man nicht.
Wiles studierte Mathematik und wurde schließlich Professor in Princeton, New Jersey. Die mathematische Abteilung dieser Universität hat einen hervorragenden Ruf. Wer dort eine Stelle bekommen will, muß auf seinem Teilgebiet zu den Besten gehören. Wiles war sicher auch für Princeton noch überdurchschnittlich gut. Das heißt aber nicht, daß er berühmt war. In der Mathematik gibt es keine Weltrangliste wie beim Tennis, dazu ist diese Wissenschaft viel zu komplex und viel zu sehr in Teilbereiche aufgespalten. Es ist keine Schande, wenn man (wie der Rezensent) zugeben muß, den Namen Wiles vor 1993 nicht gekannt zu haben.
1986 zeigte Ken Ribet, daß aus der sogenannten Taniyama-Shimura-Vermutung der Fermatsche Satz folgt. Wie der Name schon sagt, war diese Aussage auch unbewiesen (und ist es in voller Allgemeinheit wohl auch heute noch). Immerhin war das ein Stoff, mit dem sich ein Mathematiker intensiv beschäftigen konnte, ohne daß man ihn für größenwahnsinnig gehalten hätte. Wiles erfaßte sofort seine Chance und entschloß sich, den Beweis des Fermatsatzes über diesen Zugang zu versuchen. Selbst wenn er damit keinen Erfolg gehabt hätte, so wären doch auch interessante Teilergebnisse genug Lohn für seine Mühe gewesen. Man sollte es aber ruhig ganz kraß formulieren: Wiles war ruhmsüchtig. Das alte olympische Motto "Nicht siegen, dabeisein ist wichtig" hatte für ihn keine Gültigkeit. Er wollte siegen. Damit ihm niemand die Früchte seiner Arbeit wegnehmen konnte, begann er, im geheimen zu arbeiten. Für einen Mathematiker ist das eher ungewöhnlich. Der Fortschritt der Mathematik beruht in der Regel auf der umfassenden Kommunikation unter den Wissenschaftlern. Mathematiker jagen in Rudeln. Wenn Wiles' Kollegen gewußt hätten, was er plante, sie hätten es für leicht pathologisch gehalten. Niemand außer seiner Frau erfuhr, was er vorhatte. Zur Tarnung nahm er eine wissenschaftliche Arbeit, die er noch nicht veröffentlicht hatte, und teilte sie in kleinere Stücke auf. So konnte er weiter publizieren, ohne daß jemand Verdacht schöpfte.
Im Juni 1993 glaubte Wiles, den Beweis vollendet zu haben. Er trug ihn in einer Vorlesung vor. Die Reaktion war überwältigend. Die Nachricht verbreitete sich blitzartig über die Welt und kam sogar auf die Titelseite der New York Times, die anscheinend so schnell kein Foto von Wiles auftreiben konnte und deshalb ein Bild von Fermat brachte. Wiles war eine Minute lang berühmter als Pamela Anderson. Anschließend gingen die Dinge den in der Wissenschaft üblichen Gang. Wiles hatte einen langen Artikel geschrieben, den er bei der Fachzeitschrift "Inventiones Mathematicae" einreichte. Diese bestimmte sechs Gutachter, die jeweils einen Teil der Argumentation in allen Einzelheiten nachprüfen sollten. Einer davon war Nick Katz, der mit Luc Illusie zusammenarbeitete. Nach monatelanger Arbeit fanden die beiden eine kleine, aber entscheidende Lücke, die sich nicht schließen ließ. Touché.
Man kann erahnen, wie Wiles zumute war. Einerseits hatte er viele hervorragende Ergebnisse erzielt, andererseits war er natürlich knapp vor dem Ziel gescheitert. Zwischen Lipp' und Kelchesrand schwebt der finstern Mächte Hand. Jeder von uns würde in dieser Situation verzweifelt versuchen, den Fehler zu berichtigen, und Wiles war keine Ausnahme. Lange Monate kämpfte er mit seinem Beweis, ohne weiterzukommen. Dann entschloß er sich, mit seinem ehemaligen Schüler Richard Taylor zusammenzuarbeiten. Die beiden mußten noch bis zum September 1994 hart arbeiten, bis sie die Lösung endlich gefunden hatten. Wiles hat es geschafft. Im Lexikon "Discovery '98" von Bertelsmann wird er in einem Nebensatz erwähnt. Schon für Taylor hat der Platz nicht mehr gereicht.
Der Laie wundert sich
Das bisher Geschilderte macht nur einen Teil des Buchs aus. Singh beschreibt spannend und anschaulich große Teile der Mathematikgeschichte, auch solche, die mit Fermats Satz eher wenig zu tun haben. Wer in der Schule die Mathematik gehaßt hat, könnte die Lektüre des Buchs zum Anlaß nehmen, sein Urteil zu revidieren. Singh ist ein Physiker, der zum Wissenschaftsjournalisten wurde. Daß er kein Fachmann ist, hat das Buch wohl eher verbessert, weil es ihm ermöglichte, unvoreingenommen und wenig technisch an die Dinge heranzugehen. In den "Notices of the American Mathematical Society" (http://www.ams.org/notices/199710/comm-fermat.html) hat Allyn Jackson kritisiert, daß Singh gewisse mathematische Feinheiten manchmal nicht richtig dargestellt hat. Für die Laien, für die das Buch hauptsächlich geschrieben wurde, ist das weniger wichtig. Insgesamt gesehen hätte es das Buch verdient, wie in den englischsprachigen Ländern auch bei uns zum Bestseller zu werden. Jedenfalls mehr als eine Biographie von Pamela Anderson. ERNST HORST
Simon Singh: "Fermats letzter Satz". Die abenteuerliche Geschichte eines mathematischen Rätsels. Aus dem Englischen von Klaus Fritz. Hanser Verlag, München 1998. 364 S., Abb., geb., 49,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main