"Fern von euch" ist die Geschichte eines jungen Mannes, der aus der Enge der Provinz entflieht, aber auch in der Großstadt keine Freiheit findet. Sieben Stimmen beschreiben mit zärtlicher Genauigkeit und schmerzlicher Präzison das Schicksal Lucs, dem mit der Heimat die Sprache abhanden kommt, über seinen Verlust zu reden. Er selbst, seine Eltern, der Onkel, die Tante und seine Cousine - sie alle mögen sich. Doch sie sind unfähig, sich dies gegenseitig zu sagen. Erst Lucs Freitod löst ihnen die Zungen ... Seine verblüffende literarische Meisterschaft und sein subtiles psychologisches Einfühlungsvermögen erlauben es Laurent Mauvignier, allen Beteiligten des absehbaren, aber unaufhaltsamen Dramas eine eigene, unverwechselbare Stimme zu geben. Ein Buch von enormer literarischer Wucht; ein zutiefst beeindruckender Debütroman, fernab von allem Sensationalismus; ein Text voller Zuneigung, der in Fassungslosigkeit endet.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.03.2002Immer diese Stimmen im Kopf
Familienbande: Laurent Mauvigniers Debüt kommt nicht vom Fleck
Das Motiv hat in der französischen Literatur eine lange Tradition: Ein junger Mann flieht aus der stickigen Enge der Provinz in die Hauptstadt Paris, wo er alles zu finden glaubt, wovon er bislang geträumt hat. Paris verheißt Erlösung von allen Zwängen und Bindungen - zuletzt auch von sich selbst. Daß auch Paris kein Allheilmittel ist, merken die Romanfiguren meist erst, wenn es schon zu spät ist.
So ergeht es auch dem jungen Luc in Laurent Mauvigniers Debüt. Er ist nach Paris geflohen, weil er sein Elternhaus nicht mehr ertragen konnte. Jetzt arbeitet er in einer Bar, bewohnt ein schäbiges Zimmer und ist so allein, wie ein Mensch nur sein kann. Nichts von dem, was er sich erträumt hat, geht in Erfüllung. Statt Menschen zu finden, mit denen er reden kann, hört er nur Stimmen in seinem Kopf, die ihn verrückt machen. Am 31. Mai 1995 nimmt Luc sich das Leben. Von diesem Tag her und auf diesen Tag hin erzählt Mauvignier seine Geschichte. Er erzählt sie nicht gradlinig und fächert sie auf, verteilt sie auf mehrere Stimmen, die sich wie in einem Musikstück aufeinander zubewegen, sich verschränken, einander antworten und wieder voneinander lösen: ein Geflecht innerer Monologe, das sich zum komplexen und widersprüchlichen Bild einer Familie fügt.
Da sind sechs Menschen, die sich nahestehen und doch nicht miteinander reden können. Erst mit Lucs Tod platzt das Ungesagte auf wie ein Abszeß, und nun reden sie und reden, noch immer nicht miteinander, sondern aneinander vorbei, wortlos, sprachlos nach außen wie eh und je. Erst für den Leser ergibt sich mit der Zeit aus den inneren Monologen so etwas wie ein vielstimmiges Gespräch, das die Familienmitglieder verbindet wie mit unsichtbaren Fäden.
Mauvignier gelingen in diesem Konzert der Stimmen Momente von großer Trauer, leiser Zärtlichkeit und abgrundtiefer Melancholie. Doch es bleiben flüchtige Passagen. Dazwischen macht sich über weite Strecken banale Alltäglichkeit, ödes Einerlei breit. Die Geschichte kreist um die immergleichen Episoden und Motive und kommt nicht vom Fleck. Es gibt keinen Blick, der über die Grenzen des familiären Zirkels hinausgeht. Da ist keine Landschaft, kein Himmel über ihr, kein Ort, der sich mit Leben füllt. Die Stimmen fließen dahin in der eigenwilligen Syntax der gesprochenen Rede und einer Interpunktion, die dem Fluß der Gedanken und nicht den Regeln des Duden folgt. Das erzeugt zwar eine Atmosphäre, so öde, so aussichtslos, so dumpf, wie der jugendliche Protagonist sie empfunden haben mag. Doch auf den Leser wirkt sie in ihrer repetitiven Eintönigkeit mit der Zeit nur einfach ermüdend.
In Frankreich, heißt es, sei das Buch ein großer Erfolg gewesen, der Autor mit Preisen überschüttet worden. Ähnlich wie Houellebecq scheint auch Mauvignier mit seinem Erstling einen Nerv der französischen Gesellschaft getroffen und einem Gefühl sprachloser Vereinzelung Ausdruck verliehen zu haben. Im Gegensatz zu seinem berühmteren Kollegen wird Mauvignier in seinem Weltschmerz jedoch nie zynisch. Das ist ihm hoch anzurechnen.
KLARA OBERMÜLLER
Laurent Mauvignier: "Fern von euch". Roman. Aus dem Französischen von Joseph Winiger. Eichborn Berlin Verlag, Berlin 2001. 120 S., geb., 16,90.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Familienbande: Laurent Mauvigniers Debüt kommt nicht vom Fleck
Das Motiv hat in der französischen Literatur eine lange Tradition: Ein junger Mann flieht aus der stickigen Enge der Provinz in die Hauptstadt Paris, wo er alles zu finden glaubt, wovon er bislang geträumt hat. Paris verheißt Erlösung von allen Zwängen und Bindungen - zuletzt auch von sich selbst. Daß auch Paris kein Allheilmittel ist, merken die Romanfiguren meist erst, wenn es schon zu spät ist.
So ergeht es auch dem jungen Luc in Laurent Mauvigniers Debüt. Er ist nach Paris geflohen, weil er sein Elternhaus nicht mehr ertragen konnte. Jetzt arbeitet er in einer Bar, bewohnt ein schäbiges Zimmer und ist so allein, wie ein Mensch nur sein kann. Nichts von dem, was er sich erträumt hat, geht in Erfüllung. Statt Menschen zu finden, mit denen er reden kann, hört er nur Stimmen in seinem Kopf, die ihn verrückt machen. Am 31. Mai 1995 nimmt Luc sich das Leben. Von diesem Tag her und auf diesen Tag hin erzählt Mauvignier seine Geschichte. Er erzählt sie nicht gradlinig und fächert sie auf, verteilt sie auf mehrere Stimmen, die sich wie in einem Musikstück aufeinander zubewegen, sich verschränken, einander antworten und wieder voneinander lösen: ein Geflecht innerer Monologe, das sich zum komplexen und widersprüchlichen Bild einer Familie fügt.
Da sind sechs Menschen, die sich nahestehen und doch nicht miteinander reden können. Erst mit Lucs Tod platzt das Ungesagte auf wie ein Abszeß, und nun reden sie und reden, noch immer nicht miteinander, sondern aneinander vorbei, wortlos, sprachlos nach außen wie eh und je. Erst für den Leser ergibt sich mit der Zeit aus den inneren Monologen so etwas wie ein vielstimmiges Gespräch, das die Familienmitglieder verbindet wie mit unsichtbaren Fäden.
Mauvignier gelingen in diesem Konzert der Stimmen Momente von großer Trauer, leiser Zärtlichkeit und abgrundtiefer Melancholie. Doch es bleiben flüchtige Passagen. Dazwischen macht sich über weite Strecken banale Alltäglichkeit, ödes Einerlei breit. Die Geschichte kreist um die immergleichen Episoden und Motive und kommt nicht vom Fleck. Es gibt keinen Blick, der über die Grenzen des familiären Zirkels hinausgeht. Da ist keine Landschaft, kein Himmel über ihr, kein Ort, der sich mit Leben füllt. Die Stimmen fließen dahin in der eigenwilligen Syntax der gesprochenen Rede und einer Interpunktion, die dem Fluß der Gedanken und nicht den Regeln des Duden folgt. Das erzeugt zwar eine Atmosphäre, so öde, so aussichtslos, so dumpf, wie der jugendliche Protagonist sie empfunden haben mag. Doch auf den Leser wirkt sie in ihrer repetitiven Eintönigkeit mit der Zeit nur einfach ermüdend.
In Frankreich, heißt es, sei das Buch ein großer Erfolg gewesen, der Autor mit Preisen überschüttet worden. Ähnlich wie Houellebecq scheint auch Mauvignier mit seinem Erstling einen Nerv der französischen Gesellschaft getroffen und einem Gefühl sprachloser Vereinzelung Ausdruck verliehen zu haben. Im Gegensatz zu seinem berühmteren Kollegen wird Mauvignier in seinem Weltschmerz jedoch nie zynisch. Das ist ihm hoch anzurechnen.
KLARA OBERMÜLLER
Laurent Mauvignier: "Fern von euch". Roman. Aus dem Französischen von Joseph Winiger. Eichborn Berlin Verlag, Berlin 2001. 120 S., geb., 16,90
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Klara Obermüller kann dem Romandebüt nicht viel abgewinnen, dessen Sujet - ein junger Mann verlässt sein Elternhaus, geht nach Paris und nimmt sich schließlich dort das Leben - in der französischen Literatur, wie die Rezensentin weiß, eine "lange Tradition" hat. Zwar attestiert Obermüller dem französischen Autor, dass ihm durchaus "Momente von großer Trauer" gelungen seien und sich dem Leser mitunter "abgrundtiefe Melancholie" mitteile. Doch leider überwiegt für die Rezensentin die "banale Alltäglichkeit", die hier ohne einen Blick über die engen Grenzen einer Familie hinaus geboten werde. Als besonders ermüdend empfindet sie dabei die "repetitive Eintönigkeit", mit der die sechs Stimmen, die die Geschichte in inneren Monologen erzählen, sich artikulieren und die einer "eigenwilligen Syntax" folgen. Dies mag, so die Rezensentin gelangweilt, die öde Atmosphäre wiedergeben, unter der der Protagonist leidet, aber angenehm zu lesen sei es eben nicht. Immerhin rechnet Obermüller es dem Autor "hoch" an, dass er bei allem "Weltschmerz", den er ausbreite, keinerlei Zynismus an den Tag lege.
© Perlentaucher Medien GmbH
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