Vor langer Zeit mag das Haus, in dem Victorio wohnt, ein Palast gewesen sein. Jetzt wird es eingerissen, bevor es von selbst zusammenfällt, und Victorio beginnt ein Leben als Vagabund in den Straßen von Havanna, die von Gewalt und Elend beherrscht sind. Immer wird er vertrieben von seinen Zufluchtsorten, bis er ein kleines Theater findet, das Don Fuco in Beschlag genommen hat, der altgewordene Clown, den er schon einige Male auf den Dächern der Stadt gesehen hat, wo er die einfachen Leute zum Lachen bringt, oder auf Beerdigungen, wenn er versucht, Trost zu spenden. Allmählich findet Victorio heraus, was es mit Don Fucos Theater auf sich hat: Überall stößt er auf die Spuren von Havannas einstigem Glanz, hier die Garderobe von Enrico Caruso, dort ein Requisit der Bernhardt, dort ein untrüglicher Beweis dafür, daß die Callas eben doch einmal in Havanna war. Selma, eine junge Prostituierte, gesellt sich zu den beiden, und gemeinsam entdecken sie, daß das Theater auch Bilder aus ihrem
eigenen Leben bereithält, Gelegenheiten, Versäumtes nachzuholen und sich mit Verdrängtem zu versöhnen: ein Zauberort. Mit seinem zweiten Roman erzählt Estévez von einer anderen kubanischen Revolution, und in seiner Sprache vollzieht er sie zugleich - die Revolution der Poesie.
eigenen Leben bereithält, Gelegenheiten, Versäumtes nachzuholen und sich mit Verdrängtem zu versöhnen: ein Zauberort. Mit seinem zweiten Roman erzählt Estévez von einer anderen kubanischen Revolution, und in seiner Sprache vollzieht er sie zugleich - die Revolution der Poesie.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.02.2005Dichter der Dachterrasse
Abilio Estévez setzt dem einstigen Glanz Havannas ein Denkmal
Auf Kuba wird seit vielen Jahren mehr gelesen als sonstwo in der westlichen Welt. Das mag auch daran liegen, daß die Abwechslungen für die Menschen in Castros Staat gering und Auslandsreisen schon aus finanziellen Gründen so gut wie unmöglich sind. Schließlich können alle Kubaner - das ist eine Ausnahme in der sogenannten Dritten Welt - lesen und schreiben. Das Land verfügt über eine lange literarische Tradition bis zurück in die koloniale Zeit; die Großen der spanischen Literatur - Autoren wie Cervantes, Quevedo und Calderón - haben die Kubaner immer als die Ihren betrachtet. Wo viel gelesen wird, wird normalerweise auch viel geschrieben. Wenn auch das meiste davon nicht gedruckt wird, denn in Kuba fehlt es an Papier; und die wenigen - staatseigenen - Verlage können nur eine beschränkte Anzahl von Büchern im Jahr herausgeben.
Seit etwa einem Jahrzehnt finden die kubanischen Schriftsteller Papier, Verleger und Buchhandlungen, woran es ihnen auch auf ihrer Insel mangelt, zunehmend in Spanien. So auch Abilio Estévez, der seine beiden Romane "Tuyo es el reino" (1997) und "Palacios distantes" (2002) sowie den Erzählungsband "El horizonte y otros regresos" (1998) in Barcelona veröffentlichen konnte, während er in Kuba, wo seine Theatertexte Preise erhielten, eigentlich nur kurze Erzählungen in Zeitschriften publizieren konnte. Sein erster Roman - vor fünf Jahren unter dem Titel "Dein ist das Reich" auf deutsch erschienen - wurde in Europa viel beachtet. In deutscher Sprache ist nun auch der zweite Roman "Ferne Paläste" erschienen.
Mit Zoe Valdés kündigte sich vor kurzem eine große Welle neuer kubanischer Literatur auf den europäischen Buchmärkten an, die Autorin hatte mit mehreren politisch opportunistischen und in der Darstellung sexueller Aktivitäten derben Romanen Verkaufserfolge in europäischen Ländern erzielt. Valdés und noch mehr der ebenfalls vielübersetzte Pedro Juan Gutiérrez siedeln sich auf dem vielleicht kommerziell gut verwertbaren, literarisch allerdings untersten Niveau des neuen kubanischen Romans an.
Abilio Estévez ist eher einer der Stillen im Lande. Er gehört mit Senel Paz und Antón Arrufat zu den Autoren auf der Insel, welche eine besonders präzise und differenzierte Sprache schreiben. Zusammen mit anderen Schriftstellern, die als "Grupo de la azotea" bekannt wurden, weil sie sich auf einer "azotea", auf der Dachterrasse im Hause der Lyrikerin Reina María Rodríguez regelmäßig trafen, diskutierte Estévez dort über die moderne spanische Literatursprache, aber auch über existentielle Probleme der kubanischen Schriftsteller wie die Selbstzensur oder den Einfluß der Politik bei der Veröffentlichung von Manuskripten. Die europäische Literatur, der sich die kubanischen Autoren zugehörig fühlen, ist diesem Schriftsteller sehr gut bekannt. Wenn eine deutsche Rezensentin dem ersten Roman von Estévez mit seinen Anspielungen auf die Größen der Weltliteratur "aufdringlichen Wissensprunk" vorhält, so zeigt das vielmehr die Ignoranz und die Überheblichkeit der Kritikerin, die wohl meint, Kuba sei ein literarisch unterentwickeltes Land.
Die Stadt Havanna ist in "Ferne Paläste" nicht nur Schauplatz der Ereignisse - das war sie schon in "Dein ist das Reich" -, sie ist die absolute Protagonistin des neuen Romans. Es ist das dekadente, schmutzige, verfallene Havanna von heute, das einst als die schönste und interessanteste Stadt des amerikanischen Kontinents galt. Nur Eingeweihte finden noch etwas vom Glanz der früheren Stadt; im Innern der eingefallenen Gebäude erinnert noch manches an die Paläste, die sie einmal waren. In solchen einst prachtvollen Gebäuden, vor allem in einem kleinen ehemaligen Theater, treffen sich die drei wichtigsten Personen der Handlung, der alte Clown Don Fuco, der homosexuelle Vagabund Victorio und die phantasievolle, sympathische Hure Salma. Estévez beschreibt immer wieder seine Stadt, die ehemaligen Paläste, die Bühnen mit ihren Sängern, Schauspielern und Stars aus früheren Zeiten, aber auch die Friedhöfe mit ihren Trauerzügen und die Polizeirazzien.
Das ist sicher ein Genuß für die Freunde Havannas - dieser in der Sicht des Autors so bösartigen, hinterhältigen, doch auch verträumten und an schönen Geschichten so reichen Stadt. Aber auch Leser, die Havanna nicht kennen, werden sich an der variationsreichen, manchmal lyrischen Sprache und den vielen überraschenden Einfällen des Autors erfreuen. Estévez schreibt ein klangvolles, nie rhetorisch überladenes Spanisch. Susanne Lange, eine der besten Übersetzerinnen aus dieser Sprache, hat dem Text eine ebenbürtige deutsche Version gegeben. Nur auf wenigen Seiten sinkt Estévez auf das Niveau der ordinären und aggressiven Sprache von Bestsellerautoren wie Gutiérrez oder Valdés, etwa in dem satirisch gemeinten Bericht Salmas über ihre scheußlich riechenden Freier aus Europa, vor allem über die "teutonischen Dickwänste aus Hamburg, die so häßlich sind, daß man nicht versteht, wie sie sich den Luxus leisten können, rassistisch zu sein". Estévez, ein so zurückhaltender und schüchterner Mensch, meint wohl, solch ausfälliges Vokabular sei für den Verkaufserfolg kubanischer Romane heute günstig.
In dem Roman ist kaum von Politik die Rede, doch ist die genaue Beschreibung des gespensterhaften heutigen Havanna eine scharfe Kritik an der kubanischen Revolution oder genauer an dem, was in der langen Diktatur Fidel Castros aus dieser Revolution geworden ist. "Ferne Paläste" wurde zum großen Teil in Palma de Mallorca geschrieben. Estévez lebt inzwischen in Spanien, schreibt aber immer wieder über seine Stadt. Gerade erschien bei Tusquets in Barcelona sein "Inventario secreto de La Habana" (Das geheime Inventar von Havanna). Hier schreibt er über große Autoren der Weltliteratur, die in seiner Stadt gelebt haben, unter ihnen García Lorca, Cernuda, Hemingway und Graham Greene, aber auch über die Klaustrophobie der Inselbewohner und ihre Angst vor dem Meer.
WALTER HAUBRICH
Abilio Estévez: "Ferne Paläste". Roman. Aus dem Spanischen übersetzt von Susanne Lange. Luchterhand Literaturverlag, München 2004. 304 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Abilio Estévez setzt dem einstigen Glanz Havannas ein Denkmal
Auf Kuba wird seit vielen Jahren mehr gelesen als sonstwo in der westlichen Welt. Das mag auch daran liegen, daß die Abwechslungen für die Menschen in Castros Staat gering und Auslandsreisen schon aus finanziellen Gründen so gut wie unmöglich sind. Schließlich können alle Kubaner - das ist eine Ausnahme in der sogenannten Dritten Welt - lesen und schreiben. Das Land verfügt über eine lange literarische Tradition bis zurück in die koloniale Zeit; die Großen der spanischen Literatur - Autoren wie Cervantes, Quevedo und Calderón - haben die Kubaner immer als die Ihren betrachtet. Wo viel gelesen wird, wird normalerweise auch viel geschrieben. Wenn auch das meiste davon nicht gedruckt wird, denn in Kuba fehlt es an Papier; und die wenigen - staatseigenen - Verlage können nur eine beschränkte Anzahl von Büchern im Jahr herausgeben.
Seit etwa einem Jahrzehnt finden die kubanischen Schriftsteller Papier, Verleger und Buchhandlungen, woran es ihnen auch auf ihrer Insel mangelt, zunehmend in Spanien. So auch Abilio Estévez, der seine beiden Romane "Tuyo es el reino" (1997) und "Palacios distantes" (2002) sowie den Erzählungsband "El horizonte y otros regresos" (1998) in Barcelona veröffentlichen konnte, während er in Kuba, wo seine Theatertexte Preise erhielten, eigentlich nur kurze Erzählungen in Zeitschriften publizieren konnte. Sein erster Roman - vor fünf Jahren unter dem Titel "Dein ist das Reich" auf deutsch erschienen - wurde in Europa viel beachtet. In deutscher Sprache ist nun auch der zweite Roman "Ferne Paläste" erschienen.
Mit Zoe Valdés kündigte sich vor kurzem eine große Welle neuer kubanischer Literatur auf den europäischen Buchmärkten an, die Autorin hatte mit mehreren politisch opportunistischen und in der Darstellung sexueller Aktivitäten derben Romanen Verkaufserfolge in europäischen Ländern erzielt. Valdés und noch mehr der ebenfalls vielübersetzte Pedro Juan Gutiérrez siedeln sich auf dem vielleicht kommerziell gut verwertbaren, literarisch allerdings untersten Niveau des neuen kubanischen Romans an.
Abilio Estévez ist eher einer der Stillen im Lande. Er gehört mit Senel Paz und Antón Arrufat zu den Autoren auf der Insel, welche eine besonders präzise und differenzierte Sprache schreiben. Zusammen mit anderen Schriftstellern, die als "Grupo de la azotea" bekannt wurden, weil sie sich auf einer "azotea", auf der Dachterrasse im Hause der Lyrikerin Reina María Rodríguez regelmäßig trafen, diskutierte Estévez dort über die moderne spanische Literatursprache, aber auch über existentielle Probleme der kubanischen Schriftsteller wie die Selbstzensur oder den Einfluß der Politik bei der Veröffentlichung von Manuskripten. Die europäische Literatur, der sich die kubanischen Autoren zugehörig fühlen, ist diesem Schriftsteller sehr gut bekannt. Wenn eine deutsche Rezensentin dem ersten Roman von Estévez mit seinen Anspielungen auf die Größen der Weltliteratur "aufdringlichen Wissensprunk" vorhält, so zeigt das vielmehr die Ignoranz und die Überheblichkeit der Kritikerin, die wohl meint, Kuba sei ein literarisch unterentwickeltes Land.
Die Stadt Havanna ist in "Ferne Paläste" nicht nur Schauplatz der Ereignisse - das war sie schon in "Dein ist das Reich" -, sie ist die absolute Protagonistin des neuen Romans. Es ist das dekadente, schmutzige, verfallene Havanna von heute, das einst als die schönste und interessanteste Stadt des amerikanischen Kontinents galt. Nur Eingeweihte finden noch etwas vom Glanz der früheren Stadt; im Innern der eingefallenen Gebäude erinnert noch manches an die Paläste, die sie einmal waren. In solchen einst prachtvollen Gebäuden, vor allem in einem kleinen ehemaligen Theater, treffen sich die drei wichtigsten Personen der Handlung, der alte Clown Don Fuco, der homosexuelle Vagabund Victorio und die phantasievolle, sympathische Hure Salma. Estévez beschreibt immer wieder seine Stadt, die ehemaligen Paläste, die Bühnen mit ihren Sängern, Schauspielern und Stars aus früheren Zeiten, aber auch die Friedhöfe mit ihren Trauerzügen und die Polizeirazzien.
Das ist sicher ein Genuß für die Freunde Havannas - dieser in der Sicht des Autors so bösartigen, hinterhältigen, doch auch verträumten und an schönen Geschichten so reichen Stadt. Aber auch Leser, die Havanna nicht kennen, werden sich an der variationsreichen, manchmal lyrischen Sprache und den vielen überraschenden Einfällen des Autors erfreuen. Estévez schreibt ein klangvolles, nie rhetorisch überladenes Spanisch. Susanne Lange, eine der besten Übersetzerinnen aus dieser Sprache, hat dem Text eine ebenbürtige deutsche Version gegeben. Nur auf wenigen Seiten sinkt Estévez auf das Niveau der ordinären und aggressiven Sprache von Bestsellerautoren wie Gutiérrez oder Valdés, etwa in dem satirisch gemeinten Bericht Salmas über ihre scheußlich riechenden Freier aus Europa, vor allem über die "teutonischen Dickwänste aus Hamburg, die so häßlich sind, daß man nicht versteht, wie sie sich den Luxus leisten können, rassistisch zu sein". Estévez, ein so zurückhaltender und schüchterner Mensch, meint wohl, solch ausfälliges Vokabular sei für den Verkaufserfolg kubanischer Romane heute günstig.
In dem Roman ist kaum von Politik die Rede, doch ist die genaue Beschreibung des gespensterhaften heutigen Havanna eine scharfe Kritik an der kubanischen Revolution oder genauer an dem, was in der langen Diktatur Fidel Castros aus dieser Revolution geworden ist. "Ferne Paläste" wurde zum großen Teil in Palma de Mallorca geschrieben. Estévez lebt inzwischen in Spanien, schreibt aber immer wieder über seine Stadt. Gerade erschien bei Tusquets in Barcelona sein "Inventario secreto de La Habana" (Das geheime Inventar von Havanna). Hier schreibt er über große Autoren der Weltliteratur, die in seiner Stadt gelebt haben, unter ihnen García Lorca, Cernuda, Hemingway und Graham Greene, aber auch über die Klaustrophobie der Inselbewohner und ihre Angst vor dem Meer.
WALTER HAUBRICH
Abilio Estévez: "Ferne Paläste". Roman. Aus dem Spanischen übersetzt von Susanne Lange. Luchterhand Literaturverlag, München 2004. 304 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Eine Symphonie aus Wörtern und Metaphern: ein Meisterwerk, das die Gesamtheit der Realität - einer kubanischen und zugleich auch einer universellen Realität - zu erfassen versucht."
(Neue Zürcher Zeitung zu "Dein ist das Reich")
"Der erste Roman von Abilio Estévez liest sich, als sei Ovid das literarische Vorbild des lateinamerikanischen Autors. Denn wie in den 'Metamorphosen' werden ... Geschichten, Mythen und literarische Anspielungen so miteinander verknüpft, daß am Ende eine Art nationales Epos daraus entsteht."
(F.A.Z zu "Dein ist das Reich")
(Neue Zürcher Zeitung zu "Dein ist das Reich")
"Der erste Roman von Abilio Estévez liest sich, als sei Ovid das literarische Vorbild des lateinamerikanischen Autors. Denn wie in den 'Metamorphosen' werden ... Geschichten, Mythen und literarische Anspielungen so miteinander verknüpft, daß am Ende eine Art nationales Epos daraus entsteht."
(F.A.Z zu "Dein ist das Reich")
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 06.08.2005Der Clown, die Stadt und der Staub
Abilio Estévez und sein Havanna-Roman „Ferne Paläste”
Das alte Theater zu verlassen ist eigentlich recht einfach. Man muss sich nur auf eines der hölzernen Gräber stellen - schon setzt das eigene Körpergewicht einen offenbar komplizierten Deus ex Machina in Bewegung, der einen langsam in das Untergeschoss fährt. Von dort aus führen einige Laufstege und Gänge zu einer kleinen Pforte. Lang sind diese Korridore und dunkel. Doch wer die sanften Schatten schließlich verlässt und in die Sonne Havannas tritt, fühlt sich für Momente wie in einer anderen Welt.
Abilio Estévez Roman „Ferne Paläste” ist ein Buch für Verwandlungskünstler. Das Havanna dieses literarischen Maskenballs scheint bisweilen ebenso flüchtig wie der frühe Morgen vor dem Theater. Nur langsam hebt das erste Licht die Gegenstände aus dem Dunst, und das Gewusste und das Sichtbare bleiben für einen Moment in der Schwebe. Nicht von ungefähr wird der 1954 geborene kubanische Schriftsteller Estévez häufig mit Ovid verglichen. Doch sind seine metamorphotischen Sprachwelten nicht nur dem Kosmos der Literatur verpflichtet, sondern ebenso jenen Realien, die er als Habanero aus eigener Anschauung kennt. Mit seinen schön geschwungenen Sätzen hält er die verfallenen Häuser fest und die Flammen der Ölraffinerien, den Schweiß in der Kleidung seiner Figuren und den Klang des Urinstrahls in einem Nachttopf.
Ein Windhauch eröffnet den Bilderreigen des Romans, ein Luftzug, der wie ein wohltätiger Riesenvogel seine Flügel über der Stadt ausbreitet. Tatsächlich aber scheint das Lüftchen einem alten Lederkoffer zu entweichen, den ein Kind gerade auf der Dachterrasse eines Kaufhauses geöffnet hat. Das Kind, meint Victorio, könnte ebenso gut ein junger Mann sein. Oder ein kleiner Greis. Victorio hat dieses ungewohnte Bild schon eine Weile betrachtet - „als folgte er noch immer den verschlungenen Wegen seines Traums”. Und weil die Träume manchmal glaubhafter sind als die Wirklichkeit, streunt er von nun an durch das Straßenlabyrinth der kubanischen Metropole, im Rücken immer den Blick des Erzählers.
Dabei ist es in dem phantasmagorischen Gefüge des Buches gar nicht weiter überraschend, dass Victorio seinen Posten als Beamter dank einer „wunderlichen Eingebung” kurzerhand aufgibt. Als Vagabund lernt er das Leben zwischen kaputten Rinnsteinen und ausgetrockneten Brunnen kennen. Nach und nach beginnt er die Stadt zu erkunden, bestaunt die alten Villen im einstigen Viertel der Reichen oder die Bahnübergänge jenseits des Hafens. Irgendwo dort trifft er Salma, eine junge Hure, die am liebsten von einem Leben in Beverly Hills träumt. Im Wechsel von kleinen Skizzen, Erinnerungsbildern und knappen Dialogen erzählt Estévez von dieser aus der Not geborenen Freundschaft. Am Ende stoßen die beiden auf den Clown Don Fuco, jenen leichtfüßigen Kindgreis, der über Havannas Dächern den Wind macht.
Das Geheimnis der Marionetten
Die eigentliche Hauptrolle spielt jedoch der Staub. Der Staub des Mittags, der sich zwischen Ziegeln und Fliesen erhitzt, oder der Staub der Nacht, in dem die Flaneure ihre Abdrücke hinterlassen. Er verleiht dem Havanna der Gegenwart den Charme einer alten Filmkulisse, die jederzeit einstürzen kann. Zugleich verschleiert er den Blick, verwischt Häuser und Dinge und verwandelt die Wirklichkeit in eine Sphäre des Gleichzeitigen. Die Welten der Bücher und der unerfüllten Wünsche finden hier genauso ihren Platz wie die aufsteigenden Bilder aus der Kindheit. Wenn Victorio die Augen schließt, kann er den zarten Stoff herbeizaubern, aus dem die Erinnerungen gemacht sind. Dann sieht er wieder seinen Vater vor sich, für den das Leben in dem einen Wort „Revolution” zusammenschoss. Er riecht den Tabak und hört das leise Geräusch der kleinen kubanischen Fahne vor dem Haus.
So rätselhaft und verschlungen wie die Wege in Victorios Träumen mutet auch die Struktur des Romans an. Die Streifzüge seiner Hauptfigur staut Estévez immer wieder in kleinen Bildern, in welchen die Zeit angehalten scheint. Es sind Beschreibungen von Parks, Gärten oder staubigen Interieurs. Ihre poetische Kraft gewinnen diese Skizzen aus einer eigentümlichen Beleuchtung. Erst das Licht gibt den Dingen so etwas wie Glanz, eine Gegenwärtigkeit, in der die vertrauten Bedeutungen flüssig werden. Die Übersetzerin Susanne Lange hat die atmosphärischen Teile in ein geschmeidiges Deutsch verwandelt, in dem die eingestreuten spanischen Liedstrophen wie kleine Schmucksteine sitzen.
Jene andere Vorstellung von Zeit, von der Victorio schwärmt, findet er eines Tages in den Ruinen eines alten Theaters. Hier erkundet er mit Salma und Don Fuco das Geheimnis der Marionetten. Und hier bündelt Abilio Estévez auf kunstvolle Art die Motive und Bilder seines Romans. Zuweilen lässt sich kaum mehr entscheiden, wo die beschriebene Gegenwart aufhört und das Zauberland aus Erinnerung und Fiktion recht eigentlich beginnt. Es ist fast wie in Don Fucos Sanduhr: „Statt hinunterzurieseln, steigt der Sand auf, wandert vom unteren Hohlraum in den oberen, als hätte sich die Welt umgekehrt und der Nordpol in den Südpol verwandelt.”
NICO BLEUTGE
ABILIO ESTÉVEZ: Ferne Paläste. Roman. Aus dem Spanischen von Susanne Lange. Luchterhand Literaturverlag, München 2004. 303 Seiten, 22 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Abilio Estévez und sein Havanna-Roman „Ferne Paläste”
Das alte Theater zu verlassen ist eigentlich recht einfach. Man muss sich nur auf eines der hölzernen Gräber stellen - schon setzt das eigene Körpergewicht einen offenbar komplizierten Deus ex Machina in Bewegung, der einen langsam in das Untergeschoss fährt. Von dort aus führen einige Laufstege und Gänge zu einer kleinen Pforte. Lang sind diese Korridore und dunkel. Doch wer die sanften Schatten schließlich verlässt und in die Sonne Havannas tritt, fühlt sich für Momente wie in einer anderen Welt.
Abilio Estévez Roman „Ferne Paläste” ist ein Buch für Verwandlungskünstler. Das Havanna dieses literarischen Maskenballs scheint bisweilen ebenso flüchtig wie der frühe Morgen vor dem Theater. Nur langsam hebt das erste Licht die Gegenstände aus dem Dunst, und das Gewusste und das Sichtbare bleiben für einen Moment in der Schwebe. Nicht von ungefähr wird der 1954 geborene kubanische Schriftsteller Estévez häufig mit Ovid verglichen. Doch sind seine metamorphotischen Sprachwelten nicht nur dem Kosmos der Literatur verpflichtet, sondern ebenso jenen Realien, die er als Habanero aus eigener Anschauung kennt. Mit seinen schön geschwungenen Sätzen hält er die verfallenen Häuser fest und die Flammen der Ölraffinerien, den Schweiß in der Kleidung seiner Figuren und den Klang des Urinstrahls in einem Nachttopf.
Ein Windhauch eröffnet den Bilderreigen des Romans, ein Luftzug, der wie ein wohltätiger Riesenvogel seine Flügel über der Stadt ausbreitet. Tatsächlich aber scheint das Lüftchen einem alten Lederkoffer zu entweichen, den ein Kind gerade auf der Dachterrasse eines Kaufhauses geöffnet hat. Das Kind, meint Victorio, könnte ebenso gut ein junger Mann sein. Oder ein kleiner Greis. Victorio hat dieses ungewohnte Bild schon eine Weile betrachtet - „als folgte er noch immer den verschlungenen Wegen seines Traums”. Und weil die Träume manchmal glaubhafter sind als die Wirklichkeit, streunt er von nun an durch das Straßenlabyrinth der kubanischen Metropole, im Rücken immer den Blick des Erzählers.
Dabei ist es in dem phantasmagorischen Gefüge des Buches gar nicht weiter überraschend, dass Victorio seinen Posten als Beamter dank einer „wunderlichen Eingebung” kurzerhand aufgibt. Als Vagabund lernt er das Leben zwischen kaputten Rinnsteinen und ausgetrockneten Brunnen kennen. Nach und nach beginnt er die Stadt zu erkunden, bestaunt die alten Villen im einstigen Viertel der Reichen oder die Bahnübergänge jenseits des Hafens. Irgendwo dort trifft er Salma, eine junge Hure, die am liebsten von einem Leben in Beverly Hills träumt. Im Wechsel von kleinen Skizzen, Erinnerungsbildern und knappen Dialogen erzählt Estévez von dieser aus der Not geborenen Freundschaft. Am Ende stoßen die beiden auf den Clown Don Fuco, jenen leichtfüßigen Kindgreis, der über Havannas Dächern den Wind macht.
Das Geheimnis der Marionetten
Die eigentliche Hauptrolle spielt jedoch der Staub. Der Staub des Mittags, der sich zwischen Ziegeln und Fliesen erhitzt, oder der Staub der Nacht, in dem die Flaneure ihre Abdrücke hinterlassen. Er verleiht dem Havanna der Gegenwart den Charme einer alten Filmkulisse, die jederzeit einstürzen kann. Zugleich verschleiert er den Blick, verwischt Häuser und Dinge und verwandelt die Wirklichkeit in eine Sphäre des Gleichzeitigen. Die Welten der Bücher und der unerfüllten Wünsche finden hier genauso ihren Platz wie die aufsteigenden Bilder aus der Kindheit. Wenn Victorio die Augen schließt, kann er den zarten Stoff herbeizaubern, aus dem die Erinnerungen gemacht sind. Dann sieht er wieder seinen Vater vor sich, für den das Leben in dem einen Wort „Revolution” zusammenschoss. Er riecht den Tabak und hört das leise Geräusch der kleinen kubanischen Fahne vor dem Haus.
So rätselhaft und verschlungen wie die Wege in Victorios Träumen mutet auch die Struktur des Romans an. Die Streifzüge seiner Hauptfigur staut Estévez immer wieder in kleinen Bildern, in welchen die Zeit angehalten scheint. Es sind Beschreibungen von Parks, Gärten oder staubigen Interieurs. Ihre poetische Kraft gewinnen diese Skizzen aus einer eigentümlichen Beleuchtung. Erst das Licht gibt den Dingen so etwas wie Glanz, eine Gegenwärtigkeit, in der die vertrauten Bedeutungen flüssig werden. Die Übersetzerin Susanne Lange hat die atmosphärischen Teile in ein geschmeidiges Deutsch verwandelt, in dem die eingestreuten spanischen Liedstrophen wie kleine Schmucksteine sitzen.
Jene andere Vorstellung von Zeit, von der Victorio schwärmt, findet er eines Tages in den Ruinen eines alten Theaters. Hier erkundet er mit Salma und Don Fuco das Geheimnis der Marionetten. Und hier bündelt Abilio Estévez auf kunstvolle Art die Motive und Bilder seines Romans. Zuweilen lässt sich kaum mehr entscheiden, wo die beschriebene Gegenwart aufhört und das Zauberland aus Erinnerung und Fiktion recht eigentlich beginnt. Es ist fast wie in Don Fucos Sanduhr: „Statt hinunterzurieseln, steigt der Sand auf, wandert vom unteren Hohlraum in den oberen, als hätte sich die Welt umgekehrt und der Nordpol in den Südpol verwandelt.”
NICO BLEUTGE
ABILIO ESTÉVEZ: Ferne Paläste. Roman. Aus dem Spanischen von Susanne Lange. Luchterhand Literaturverlag, München 2004. 303 Seiten, 22 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Die Kubaner seien ein lesefreudiges Volk, behauptet Walter Haubrich und erklärt diesen Umstand mit der relativen Isolation der Insel. Kuba besitze auch eine große literarische Tradition, die sehr europäisch orientiert sei. Praktisch gesehen sei es für dortige Schriftsteller aber immer noch schwierig zu publizieren: zum einen wegen der Zensur, zum anderen schlicht aus Papiermangel. Autoren wie Abilio Estevez wichen darum seit einiger Zeit nach Spanien aus, wo Estevez' Romane zuerst publiziert wurden. Haubrich möchte Estevez scharf gegen so populäre, marktkonforme Autoren wie Zoe Valdes oder Pedro Juan Gutierrez abgrenzen; Estevez sei ein eher stiller Autor, der sehr variationsreich in einem "sehr klangvollen Spanisch" schreibe, das Susanne Lange im übrigen hervorragend ins Deutsche übertragen habe. Im Mittelpunkt von "Ferne Paläste" stehe die Stadt Havanna selbst, das so gespensterhaft verfallen sei, dessen verrottete "ferne" Paläste aber so viele interessante Geschichten bürgen. Dieses Havanna-Proträt sei nur auf den ersten Blick unpolitisch, so Haubrich, dahinter stehe eine scharfe Kritik an der Regierung Castro und dem langen Siechtum der kubanischen Revolution.
© Perlentaucher Medien GmbH
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