Sommer in Berlin. Die Familie des Erzählers – ein französischer Kunsthistoriker, der nicht unabsichtlich deutliche Züge des Autors trägt – hält sich zum Badeurlaub im Süden auf. Gelegenheit für ihn, sich seiner lang aufgeschobenen Tizian-Studie widmen zu können. Als erstes schaltet er, bis auf weiteres, den Fernsehapparat ab. Eine Tat, die dem begeisterten Telesport-Verfolger nicht leichtfällt. Gefühle von Entbehrung bis hin zu diffusem Schmerz stellen sich ein. Wie ein Spiegel schaut ihn der leere Bildschirm an und reflektiert nichts anderes als das eigene willensschwache Porträt. Jean-Philippe Toussaint hat ein vergnügliches und sehr persönliches Buch zum Thema Fernsehen geschrieben. Leichtfüßig durchdringt er die Rätsel des Alltags und fördert dabei existentielle Fragen zutage: Gehen wir unserem eigenen Leben aus dem Weg? Konsumieren wir lieber, als selbst tätig zu werden? Am Ende jener harten Probe der Selbstdisziplin stehen die Erkenntnis, daß es einfacher ist, der Versuchung nachzugeben - und der Erwerb eines Zweitgeräts.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.01.2002Vom Glück der Schildkröte
Klammerton: Zwei neue Bücher von Jean-Philippe Toussaint
Mal angenommen, daß es nicht immer gut ist, wenn alles so funktioniert, wie man es sich vorgestellt hat; angenommen, die Dinge würden spannender und wahrer und schöner, wenn sie sich verknoten, verhaken und verlieren, und auch angenommen, es gäbe so etwas wie ein Glück der mißglückten Begegnung: Es wäre das große Verdienst des belgischen Schriftstellers Jean-Philippe Toussaint, dieses Glück in einer unvergleichlich lapidaren Szene beschrieben zu haben.
Ein Mann, Kunsthistoriker und Franzose, steht in einer sommerlich erleuchteten Berliner Straße vor einem schönen Altbau; auf der Straße hält ein Auto. Zwei gebräunte Gestalten steigen aus, es handelt sich um Uwe und Inge Drescher, seine Nachbarn. Sie kommen aus dem Urlaub zurück, sie hatten ihn gebeten, die Pflanzen zu gießen, aber von den Pflanzen hat keine einzige überlebt. Der Franzose hat ein schlechtes Gewissen, als Inge lächelnd auf ihn zukommt. Er findet sie attraktiv. Sie möchte den französischen Nachbarn französisch mit Küßchen begrüßen, trois bisous, links, rechts, links. Aber im Moment der Annäherung gibt es ein Mißverständnis, beide neigen den Kopf in die gleiche Richtung, so daß der routinierte Wangenkuß zu einer ungeplanten Intimität wird - "wobei unsere Münder sich für einen kurzen Augenblick streiften und unsere Lippen sich sachte berührten". Später, als sie wortlos vor den vertrockneten Pflanzen stehen, weht ihm ihr Haar ins Gesicht, das ist das vorläufige Ende dieser Begegnung und der Anfang subtiler Verunsicherungen.
Ansonsten arbeitet Toussaints französischer Wahlberliner an einer kunstwissenschaftlichen Studie über Tizian, weswegen er beschließt, nicht mehr fernzusehen - doch das ohne großen Erfolg: Nach 162 Romanseiten hat Toussaints Erzähler gerade einmal zwei Seiten über Tizian verfaßt, den Leser mit einer Persiflage auf ambitiöse Medientheorien nachhaltig verwirrt und ein Deutschlandbild entworfen, das seinesgleichen sucht. "Fernsehen" ist ein böser, brillanter kleiner Deutschlandroman.
In der französischen Literatur ist das selten: Während in jedem drittklassigen deutschen Befindlichkeitsroman die Helden nach Frankreich fahren und dort ihr Glück zwischen provencalischem Lavendelduft und provinziellen "Leben-wie-Gott-in-Frankreich"-Orgien suchen, ist das Deutschland der Gegenwart nicht oft Schauplatz des französischen Romans. Wo Deutschland in der französischen Literatur zum Thema wurde, da war es meistens das finstere Land des Dritten Reichs, in Michel Tourniers "Erlkönig" etwa oder in Jacques Peuchemards "Nuit Allemande", oder aber das stinkende Wirtschaftswunderland des Ruhrgebietes, wie in Alain Bosquets 1997 erschienenem Roman "Portrait d'un milliardaire malheureux".
Eine Ausnahme war in den zwanziger Jahren René Trintzius' Roman "Deutschland". Trintzius' Werk projizierte auf das Deutschland der Weimarer Republik exakt jenes Idealbild einer hellen, aufgeklärt fortschrittlichen Nation, das deutsche Schriftsteller zur gleichen Zeit in Frankreich suchten. Deutschland war bei Trintzius ein Land, in dem es nur "la Verrückheit", "la Neue Sachlichkeit", "la Sozialdemokratie" und "la Sehnsucht" gab.
Toussaints Hauptfigur ist, rund siebzig Jahre nach Trintzius' schwärmerischem Helden André Lehucher, dessen würdiger Erbe, wenn auch ungleich kritischer mit dem fremden Nachbarn. Der Kunsthistoriker gerät in die Plattenbauwüsten des Ostens, wo bleiche Menschen mittags fernsehen, bummelt durch den Dürersaal der Dahlemer Sammlungen, legt sich zum Mittagsschlaf am Müggelsee halbnackt auf eine Wiese, bekommt an delikaten Stellen Sonnenbrände, will diese, einmal erwacht, schnell im Wasser des Sees kühlen und läuft dabei, fasernackt, dem im Anzug vorbeipromenierenden Cees Nooteboom in die Arme - eine angeblich autobiographische Peinlichkeit, die Toussaint während eines Gastaufenthaltes am Berliner Wissenschaftskolleg widerfuhr.
Und er trifft die Dreschers: Uwe Drescher ist Anwalt, politisch engagiert, begeisterter Mountainbikefahrer mit Hang zur Selbstdarstellung, seine schöne Frau Inge ist hübsch und hat wenig zu sagen, weshalb sie mit den Pflanzen spricht. Selten ist einem Autor ein so ätzendes Porträt des neuen deutschen Mittelstandes gelungen: Die Dreschers sind angestrengt weltoffen und anstrengend provinziell, ein Zerrbild des Neuberliners und das Gegenteil von Toussaints Helden.
Die sind allesamt seltsame Figuren: Menschen, die stundenlang in leeren Zimmern sitzen und an die Decke starren, nichts tun, sich zurückziehen, die Zeit zerdehnen und mit einer irgendwie schildkrötenhaften Mischung aus Gelassenheit und Resignation ein widerständiges Glück finden, sich im Labyrinth der Nebensächlichkeiten verheddern und plötzlich das Leben aufblitzen sehen. Das war schon in Toussaints erstem Roman "Das Badezimmer" so, wo sich der Erzähler entschließt, sein Leben in der Badewanne liegend zu führen und sich dort von Freunden versorgen zu lassen, und auch in Toussaints zweitem Roman "Monsieur", einer großartigen, lakonischen Hommage an kalte Helden wie Paul Valérys Monsieur Teste und den Mann ohne Eigenschaften.
Dort, wo Toussaints Helden ihren beglückenden Ruhezustand aufgeben müssen, entsteht stets eine nicht enden wollende Verkettung von Komplikationen und unendlichen Mühen; die Möglichkeit des Todes schwebt als feiner Schatten neben jeder Bewegung auf das Glück hin - oder wie es Toussaint als Präambel seines kleinen Reisebuches "Selbstporträt (in der Fremde)" schreibt: "Jedesmal, wenn ich reise, befällt mich im Moment der Abreise eine ganz leichte Angst, eine Angst, die manchmal getönt ist von einem sanften Schauer der Erregung. Weiß ich doch, daß mit dem Reisen stets die Möglichkeit zu sterben einhergeht - oder Sex zu haben (natürlich höchst unwahrscheinliche Eventualitäten, die dennoch nie ganz auszuschließen sind)."
Auch das Sprechen in Klammern ist eine Eigenart von Toussaint, die er mittlerweile zu einer literarischen Kunstform ausgebaut hat; der Erzähler spricht gewissermaßen aus zwei Perspektiven, als kommentiere ein am Kamin sitzender Gesprächspartner den Erzählfluß des anderen. Auch dieser Kunstgriff ist einer der zahllosen Tricks, mit denen sich Toussaint aus der Verantwortung stiehlt, Fallen stellt, ausweicht und alles relativiert - ganz wie seine Helden, die stets darum bemüht sind, Verletzungen auszuweichen. Sie kühlen sich ab auf die Temperatur ihres Umfeldes und überleben so als seltsame wechselwarme Geschöpfe, die glauben, daß sich die Höhepunkte des Lebens in leeren Cappuccinotassen verstecken.
Er wünsche sich, hat Thomas Mann einmal gesagt, "daß man einst von seinem Werk sagen möge", es sei "lebensfreundlich, obwohl es vom Tode weiß"; wollte man Toussaints Romane mit einem halben Satz beschreiben, es wäre dieser.
NIKLAS MAAK.
Jean-Philippe Toussaint: "Fernsehen". Roman. Aus dem Französischen übersetzt von Bernd Schwibs. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2001. 192 S., br., 9,- [Euro].
Jean-Philippe Toussaint: "Selbstporträt (in der Fremde)". Aus dem Französischen übersetzt von Bernd Schwibs. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2001. 93 S., geb., 16,50 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Klammerton: Zwei neue Bücher von Jean-Philippe Toussaint
Mal angenommen, daß es nicht immer gut ist, wenn alles so funktioniert, wie man es sich vorgestellt hat; angenommen, die Dinge würden spannender und wahrer und schöner, wenn sie sich verknoten, verhaken und verlieren, und auch angenommen, es gäbe so etwas wie ein Glück der mißglückten Begegnung: Es wäre das große Verdienst des belgischen Schriftstellers Jean-Philippe Toussaint, dieses Glück in einer unvergleichlich lapidaren Szene beschrieben zu haben.
Ein Mann, Kunsthistoriker und Franzose, steht in einer sommerlich erleuchteten Berliner Straße vor einem schönen Altbau; auf der Straße hält ein Auto. Zwei gebräunte Gestalten steigen aus, es handelt sich um Uwe und Inge Drescher, seine Nachbarn. Sie kommen aus dem Urlaub zurück, sie hatten ihn gebeten, die Pflanzen zu gießen, aber von den Pflanzen hat keine einzige überlebt. Der Franzose hat ein schlechtes Gewissen, als Inge lächelnd auf ihn zukommt. Er findet sie attraktiv. Sie möchte den französischen Nachbarn französisch mit Küßchen begrüßen, trois bisous, links, rechts, links. Aber im Moment der Annäherung gibt es ein Mißverständnis, beide neigen den Kopf in die gleiche Richtung, so daß der routinierte Wangenkuß zu einer ungeplanten Intimität wird - "wobei unsere Münder sich für einen kurzen Augenblick streiften und unsere Lippen sich sachte berührten". Später, als sie wortlos vor den vertrockneten Pflanzen stehen, weht ihm ihr Haar ins Gesicht, das ist das vorläufige Ende dieser Begegnung und der Anfang subtiler Verunsicherungen.
Ansonsten arbeitet Toussaints französischer Wahlberliner an einer kunstwissenschaftlichen Studie über Tizian, weswegen er beschließt, nicht mehr fernzusehen - doch das ohne großen Erfolg: Nach 162 Romanseiten hat Toussaints Erzähler gerade einmal zwei Seiten über Tizian verfaßt, den Leser mit einer Persiflage auf ambitiöse Medientheorien nachhaltig verwirrt und ein Deutschlandbild entworfen, das seinesgleichen sucht. "Fernsehen" ist ein böser, brillanter kleiner Deutschlandroman.
In der französischen Literatur ist das selten: Während in jedem drittklassigen deutschen Befindlichkeitsroman die Helden nach Frankreich fahren und dort ihr Glück zwischen provencalischem Lavendelduft und provinziellen "Leben-wie-Gott-in-Frankreich"-Orgien suchen, ist das Deutschland der Gegenwart nicht oft Schauplatz des französischen Romans. Wo Deutschland in der französischen Literatur zum Thema wurde, da war es meistens das finstere Land des Dritten Reichs, in Michel Tourniers "Erlkönig" etwa oder in Jacques Peuchemards "Nuit Allemande", oder aber das stinkende Wirtschaftswunderland des Ruhrgebietes, wie in Alain Bosquets 1997 erschienenem Roman "Portrait d'un milliardaire malheureux".
Eine Ausnahme war in den zwanziger Jahren René Trintzius' Roman "Deutschland". Trintzius' Werk projizierte auf das Deutschland der Weimarer Republik exakt jenes Idealbild einer hellen, aufgeklärt fortschrittlichen Nation, das deutsche Schriftsteller zur gleichen Zeit in Frankreich suchten. Deutschland war bei Trintzius ein Land, in dem es nur "la Verrückheit", "la Neue Sachlichkeit", "la Sozialdemokratie" und "la Sehnsucht" gab.
Toussaints Hauptfigur ist, rund siebzig Jahre nach Trintzius' schwärmerischem Helden André Lehucher, dessen würdiger Erbe, wenn auch ungleich kritischer mit dem fremden Nachbarn. Der Kunsthistoriker gerät in die Plattenbauwüsten des Ostens, wo bleiche Menschen mittags fernsehen, bummelt durch den Dürersaal der Dahlemer Sammlungen, legt sich zum Mittagsschlaf am Müggelsee halbnackt auf eine Wiese, bekommt an delikaten Stellen Sonnenbrände, will diese, einmal erwacht, schnell im Wasser des Sees kühlen und läuft dabei, fasernackt, dem im Anzug vorbeipromenierenden Cees Nooteboom in die Arme - eine angeblich autobiographische Peinlichkeit, die Toussaint während eines Gastaufenthaltes am Berliner Wissenschaftskolleg widerfuhr.
Und er trifft die Dreschers: Uwe Drescher ist Anwalt, politisch engagiert, begeisterter Mountainbikefahrer mit Hang zur Selbstdarstellung, seine schöne Frau Inge ist hübsch und hat wenig zu sagen, weshalb sie mit den Pflanzen spricht. Selten ist einem Autor ein so ätzendes Porträt des neuen deutschen Mittelstandes gelungen: Die Dreschers sind angestrengt weltoffen und anstrengend provinziell, ein Zerrbild des Neuberliners und das Gegenteil von Toussaints Helden.
Die sind allesamt seltsame Figuren: Menschen, die stundenlang in leeren Zimmern sitzen und an die Decke starren, nichts tun, sich zurückziehen, die Zeit zerdehnen und mit einer irgendwie schildkrötenhaften Mischung aus Gelassenheit und Resignation ein widerständiges Glück finden, sich im Labyrinth der Nebensächlichkeiten verheddern und plötzlich das Leben aufblitzen sehen. Das war schon in Toussaints erstem Roman "Das Badezimmer" so, wo sich der Erzähler entschließt, sein Leben in der Badewanne liegend zu führen und sich dort von Freunden versorgen zu lassen, und auch in Toussaints zweitem Roman "Monsieur", einer großartigen, lakonischen Hommage an kalte Helden wie Paul Valérys Monsieur Teste und den Mann ohne Eigenschaften.
Dort, wo Toussaints Helden ihren beglückenden Ruhezustand aufgeben müssen, entsteht stets eine nicht enden wollende Verkettung von Komplikationen und unendlichen Mühen; die Möglichkeit des Todes schwebt als feiner Schatten neben jeder Bewegung auf das Glück hin - oder wie es Toussaint als Präambel seines kleinen Reisebuches "Selbstporträt (in der Fremde)" schreibt: "Jedesmal, wenn ich reise, befällt mich im Moment der Abreise eine ganz leichte Angst, eine Angst, die manchmal getönt ist von einem sanften Schauer der Erregung. Weiß ich doch, daß mit dem Reisen stets die Möglichkeit zu sterben einhergeht - oder Sex zu haben (natürlich höchst unwahrscheinliche Eventualitäten, die dennoch nie ganz auszuschließen sind)."
Auch das Sprechen in Klammern ist eine Eigenart von Toussaint, die er mittlerweile zu einer literarischen Kunstform ausgebaut hat; der Erzähler spricht gewissermaßen aus zwei Perspektiven, als kommentiere ein am Kamin sitzender Gesprächspartner den Erzählfluß des anderen. Auch dieser Kunstgriff ist einer der zahllosen Tricks, mit denen sich Toussaint aus der Verantwortung stiehlt, Fallen stellt, ausweicht und alles relativiert - ganz wie seine Helden, die stets darum bemüht sind, Verletzungen auszuweichen. Sie kühlen sich ab auf die Temperatur ihres Umfeldes und überleben so als seltsame wechselwarme Geschöpfe, die glauben, daß sich die Höhepunkte des Lebens in leeren Cappuccinotassen verstecken.
Er wünsche sich, hat Thomas Mann einmal gesagt, "daß man einst von seinem Werk sagen möge", es sei "lebensfreundlich, obwohl es vom Tode weiß"; wollte man Toussaints Romane mit einem halben Satz beschreiben, es wäre dieser.
NIKLAS MAAK.
Jean-Philippe Toussaint: "Fernsehen". Roman. Aus dem Französischen übersetzt von Bernd Schwibs. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2001. 192 S., br., 9,- [Euro].
Jean-Philippe Toussaint: "Selbstporträt (in der Fremde)". Aus dem Französischen übersetzt von Bernd Schwibs. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2001. 93 S., geb., 16,50 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Ina Hartwig bespricht zwei zweitgleich auf Deutsch erschienene Bücher, in denen sich der gebürtige Belgier Toussaint über Berlin äußert, wo er 1993 als Stipendiat des DAAD eine Zeit gelebt hat.
1) Jean-Philippe Toussaint: "
1) Jean-Philippe Toussaint: "