Produktdetails
- Verlag: Penguin Books UK / Viking
- Seitenzahl: 320
- Erscheinungstermin: 3. Februar 2010
- Englisch
- Abmessung: 230mm
- Gewicht: 404g
- ISBN-13: 9780670917709
- ISBN-10: 0670917702
- Artikelnr.: 26866749
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.11.2010Der Weg ins Verschwinden
Joshua Ferris' Roman "Ins Freie" erzählt von Liebe, Tod und einer Krankheit ohne Namen
Dies ist ein tolles Buch und ein trauriges. Ein Roman über die menschliche Existenz, das Sein und das Nichts - und die kleinen Dinge des Alltags. Ein Buch über Krankheit und Tod - und ein Liebesroman, einer der seltsamsten, schönsten seit langem. Und, ja, ein Experiment.
Also all das, was (wie uns die Experten sagen) nicht zusammenpasst. Was in der Literatur nicht geht, jedenfalls nicht gleichzeitig und in einem einzigen Buch, weil es - jedenfalls bei uns - zu ganz verschiedenen Genres und in säuberlich getrennte Schubladen gehört. Deshalb fallen in Deutschland der sogenannte Realismus (also das, was beispielsweise Daniel Kehlmann und Katharina Hacker schreiben) und das sogenannte Experimentelle (Thomas Lehr, Georg Klein, Reinhard Jirgl) immer noch in separate Fächer des Betriebs, als wäre die Trennung von Erzählform und Erzählinhalt nicht seit hundert Jahren erledigt. In der angelsächsischen Welt hat man weniger Probleme mit derart künstlich gezogenen Grenzen, und Joshua Ferris hat sie offenbar nie gehabt, denn Ferris, 36, ist der Autor des Buches, um das es hier geht: "Ins Freie", die Geschichte einer amerikanischen Familie. Einer Familie in Not.
Es beginnt in New York. Tim und Jane Farnsworth führen jenes Aufsteigerleben, von dem die unteren Schichten träumen, sie ist Immobilienmaklerin, er Partner in einer Anwaltskanzlei, ihr Zuhause eine Zehnzimmervilla vor den Toren der Stadt. Die Tochter Becka neigt zu Fettpolstern, aber das ist beinahe das einzige Problem dieser Mittelstandsehe, in der selbst im Bett noch alles im Lot ist und regelmäßige Fernreisen zum Pflichtprogramm gehören. Beinahe.
Denn eines Tages kommt Tim Farnsworth aus seinem Büro nach Hause, zieht sich sein Jackett wie ein T-Shirt über den Kopf herunter, reißt es in zwei Teile und sagt: "Es geht wieder los." Es, das ist eine Krankheit, für die die Wissenschaft keinen Namen hat - weshalb der Roman im Original "The Unnamed" heißt, "Das Namenlose" - und von der Tim in unberechenbaren Abständen heimgesucht wird. "Benigner ideopathischer Ambulismus", so versucht ein Arzt im Verlauf der Geschichte zu beschreiben, woran der Karriereanwalt aus Manhattan leidet, aber damit ist fast nichts oder sogar das Falsche gesagt, denn benign, also gutartig, ist die Laufwut, die Tim ohne Vorwarnung überfällt, beileibe nicht. Von einem Moment auf den anderen bricht er auf, hastig, bei Regen, Kälte und Hitze, ohne geeignete Kleidung, ohne Vorräte, ohne Ziel, und rennt durch die Straßen der Stadt und die öde Landschaft, bis er irgendwo erschöpft zusammenbricht, auf einer Bank im Central Park, auf dem Parkplatz eines Supermarkts, auf einem Golfplatz weit draußen oder tief im Wald. "Ins Freie" hat der deutsche Verlag dieses Buch genannt, aber Tims morbider Marathon hat nichts Befreiendes, er ist ein schrecklicher, sinnloser Zwang, bei dem sich die Welt um den Laufenden zusammenzieht, bis sie ihn erdrückt. Wenn Tim aus dem bleiernen Schlaf erwacht, der seine Anfälle begleitet, ist er nur ein frierender, kraftloser Körper, ein Fremder in einem Land ohne Gnade.
Benigner ideopathischer Ambulismus? Diese Krankheit gibt es nicht. Joshua Ferris hat sie sich ausgedacht. Und schon nach den ersten paar Seiten, auf denen man Tim durch den New Yorker Winter irren, seine Frau Thermounterwäsche, Daunenjacke und Energy-Riegel zusammenpacken und das Farnsworthsche Heim in den Ausnahmezustand geraten sieht, in dem es den Rest der Geschichte über bleibt, wird klar, worum es Ferris geht. Er will seine Figuren, Vater, Mutter, Tochter, an den Rand des Zusammenbruchs führen (und darüber hinaus) - aber nicht auf die übliche Art. Nicht auf die Art eines Updike, Franzen, Powers oder Ford. Nicht durch Affären, Ichkrisen, Arbeitslosigkeit, Verarmung, die gewöhnliche Speisekarte des Schicksals. Und auch nicht durch die üblichen Krankheiten. Sondern durch etwas, das so unausweichlich ist wie eine Naturkatastrophe und zugleich so privat wie ein Traum. Ferris, könnte man sagen, sucht nach einem literarischen Kunstgriff, um den Grundton der Sterblichkeit, das Memento Mori, von dem die langen Jahrhunderte vor der technisch-medizinischen Moderne widerhallten, in die heutige Welt zurückzuholen.
Und er findet ihn - nicht indem er zu moralisieren anfinge (das bleibt eine europäische Spezialität), sondern indem er die Höllenfahrt seines Helden geduldig nachzeichnet, Station für Station, von den letzten vergeblichen Therapieversuchen über die ersten erfrorenen Zehen und Finger bis zum allmählichen Verlöschen im Schnee. Als die Erzählung einsetzt, hat Tim schon eine lange Geschichte von Arztbesuchen und Diagnosen hinter sich, er weiß, dass ihm keiner helfen kann, und dennoch lässt er sich ein letztes Mal zu einer Behandlung überreden. Der Apparat zur Messung von Gehirnströmen, den er sich wie einen Helm auf den kahlrasierten Kopf stülpen muss, kostet ihn seinen Job - und seinen Mandanten, der des Mordes verdächtigt wird, zuerst die Freiheit und dann das Leben.
Tim Farnsworth aber geht seinen Weg ins Verschwinden weiter, in bizarren, unberechenbaren Zickzacklinien, die ihn immer weiter weg von New York und immer näher zum Tod bringen. Er ist der Antipode jenes Forrest Gump, den Tom Hanks 1994 in Robert Zemeckis' Film spielte und der ein amerikanischer Held alten Schlages war, ein Mann, der in der Einsamkeit zu sich selbst und seiner wahren Bestimmung findet. Tim dagegen findet nur Blasen, Muskelentzündungen, Geschwüre, Fieberkrämpfe - und jene Stimme, in der sich der Krieg, den sein Körper gegen sich selbst führt, materialisiert, die Stimme des Anderen, des Nicht-Ichs, das gleichwohl aus seinem tiefsten Innern spricht. Diesem Anderen erzählt Tim, dass er jetzt, anders als zuvor, an die Existenz der Seele glaube, und als die Stimme ihn fragt, woher dieser Glaube komme, antwortet er: "Ohne Gott hast du gewonnen." Worauf der Andere verstummt und sich damit zufriedengibt, Tim mit körperlichen Schmerzen zu quälen.
Das Wunderbare an diesem Buch aber liegt nicht in dieser Geschichte des Leidens. Es liegt darin, dass "Ins Freie" trotz allem eine Geschichte des Glücks ist. Denn zwischen den Schüben, den Irrläufen und Klinikaufenthalten erlebt Tim Farnsworth immer wieder Augenblicke einer Lust am Dasein, die umso intensiver ist, als sie jederzeit vom Dunkel verschlungen werden kann. Und Jane, die seine Mitgefangene in diesem schrecklichen Spiel ist, die sich hundertmal vornimmt, ihn zu verlassen, und ihm doch immer wieder die Treue hält, gibt sich diesen Augenblicken hin, ohne zu fragen, wie lang sie dauern werden. Am Ende schlafen sie auf ihrem Sterbebett miteinander. Dann verabschiedet sich der Mann für immer. Aber selbst das ist nicht das letzte Wort.
Es gibt Romane, die aus der Oberfläche der Dinge schöpfen und das Nächstliegende geschickt zum Klingen bringen; Joshua Ferris' Erstling, die Angestelltenfarce "Wir waren unsterblich", gehörte dazu. Und es gibt Romane, die sich ins Unbekannte vortasten, das hinter unserem Alltag liegt, und Töne anschlagen, die wir selten hören - nicht weil sie der Literatur und dem Leben fremd, sondern weil sie so schwierig zu spielen sind. Ein solches Buch ist "Ins Freie". Ein Geschenk, ein Fund, ein Blitz in der Nacht. Hollywood, hat Joshua Ferris bei seiner Lesung in Berlin im September erzählt, habe auch schon angefragt. Aber dann besannen sich die Abgesandten der Studios eines Besseren und verzichteten auf die Filmrechte. Das muss man als Kompliment verstehen.
ANDREAS KILB
Joshua Ferris: "Ins Freie". Roman. Übersetzt von Marcus Ingendaay. Luchterhand, 352 Seiten, 19,99 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Joshua Ferris' Roman "Ins Freie" erzählt von Liebe, Tod und einer Krankheit ohne Namen
Dies ist ein tolles Buch und ein trauriges. Ein Roman über die menschliche Existenz, das Sein und das Nichts - und die kleinen Dinge des Alltags. Ein Buch über Krankheit und Tod - und ein Liebesroman, einer der seltsamsten, schönsten seit langem. Und, ja, ein Experiment.
Also all das, was (wie uns die Experten sagen) nicht zusammenpasst. Was in der Literatur nicht geht, jedenfalls nicht gleichzeitig und in einem einzigen Buch, weil es - jedenfalls bei uns - zu ganz verschiedenen Genres und in säuberlich getrennte Schubladen gehört. Deshalb fallen in Deutschland der sogenannte Realismus (also das, was beispielsweise Daniel Kehlmann und Katharina Hacker schreiben) und das sogenannte Experimentelle (Thomas Lehr, Georg Klein, Reinhard Jirgl) immer noch in separate Fächer des Betriebs, als wäre die Trennung von Erzählform und Erzählinhalt nicht seit hundert Jahren erledigt. In der angelsächsischen Welt hat man weniger Probleme mit derart künstlich gezogenen Grenzen, und Joshua Ferris hat sie offenbar nie gehabt, denn Ferris, 36, ist der Autor des Buches, um das es hier geht: "Ins Freie", die Geschichte einer amerikanischen Familie. Einer Familie in Not.
Es beginnt in New York. Tim und Jane Farnsworth führen jenes Aufsteigerleben, von dem die unteren Schichten träumen, sie ist Immobilienmaklerin, er Partner in einer Anwaltskanzlei, ihr Zuhause eine Zehnzimmervilla vor den Toren der Stadt. Die Tochter Becka neigt zu Fettpolstern, aber das ist beinahe das einzige Problem dieser Mittelstandsehe, in der selbst im Bett noch alles im Lot ist und regelmäßige Fernreisen zum Pflichtprogramm gehören. Beinahe.
Denn eines Tages kommt Tim Farnsworth aus seinem Büro nach Hause, zieht sich sein Jackett wie ein T-Shirt über den Kopf herunter, reißt es in zwei Teile und sagt: "Es geht wieder los." Es, das ist eine Krankheit, für die die Wissenschaft keinen Namen hat - weshalb der Roman im Original "The Unnamed" heißt, "Das Namenlose" - und von der Tim in unberechenbaren Abständen heimgesucht wird. "Benigner ideopathischer Ambulismus", so versucht ein Arzt im Verlauf der Geschichte zu beschreiben, woran der Karriereanwalt aus Manhattan leidet, aber damit ist fast nichts oder sogar das Falsche gesagt, denn benign, also gutartig, ist die Laufwut, die Tim ohne Vorwarnung überfällt, beileibe nicht. Von einem Moment auf den anderen bricht er auf, hastig, bei Regen, Kälte und Hitze, ohne geeignete Kleidung, ohne Vorräte, ohne Ziel, und rennt durch die Straßen der Stadt und die öde Landschaft, bis er irgendwo erschöpft zusammenbricht, auf einer Bank im Central Park, auf dem Parkplatz eines Supermarkts, auf einem Golfplatz weit draußen oder tief im Wald. "Ins Freie" hat der deutsche Verlag dieses Buch genannt, aber Tims morbider Marathon hat nichts Befreiendes, er ist ein schrecklicher, sinnloser Zwang, bei dem sich die Welt um den Laufenden zusammenzieht, bis sie ihn erdrückt. Wenn Tim aus dem bleiernen Schlaf erwacht, der seine Anfälle begleitet, ist er nur ein frierender, kraftloser Körper, ein Fremder in einem Land ohne Gnade.
Benigner ideopathischer Ambulismus? Diese Krankheit gibt es nicht. Joshua Ferris hat sie sich ausgedacht. Und schon nach den ersten paar Seiten, auf denen man Tim durch den New Yorker Winter irren, seine Frau Thermounterwäsche, Daunenjacke und Energy-Riegel zusammenpacken und das Farnsworthsche Heim in den Ausnahmezustand geraten sieht, in dem es den Rest der Geschichte über bleibt, wird klar, worum es Ferris geht. Er will seine Figuren, Vater, Mutter, Tochter, an den Rand des Zusammenbruchs führen (und darüber hinaus) - aber nicht auf die übliche Art. Nicht auf die Art eines Updike, Franzen, Powers oder Ford. Nicht durch Affären, Ichkrisen, Arbeitslosigkeit, Verarmung, die gewöhnliche Speisekarte des Schicksals. Und auch nicht durch die üblichen Krankheiten. Sondern durch etwas, das so unausweichlich ist wie eine Naturkatastrophe und zugleich so privat wie ein Traum. Ferris, könnte man sagen, sucht nach einem literarischen Kunstgriff, um den Grundton der Sterblichkeit, das Memento Mori, von dem die langen Jahrhunderte vor der technisch-medizinischen Moderne widerhallten, in die heutige Welt zurückzuholen.
Und er findet ihn - nicht indem er zu moralisieren anfinge (das bleibt eine europäische Spezialität), sondern indem er die Höllenfahrt seines Helden geduldig nachzeichnet, Station für Station, von den letzten vergeblichen Therapieversuchen über die ersten erfrorenen Zehen und Finger bis zum allmählichen Verlöschen im Schnee. Als die Erzählung einsetzt, hat Tim schon eine lange Geschichte von Arztbesuchen und Diagnosen hinter sich, er weiß, dass ihm keiner helfen kann, und dennoch lässt er sich ein letztes Mal zu einer Behandlung überreden. Der Apparat zur Messung von Gehirnströmen, den er sich wie einen Helm auf den kahlrasierten Kopf stülpen muss, kostet ihn seinen Job - und seinen Mandanten, der des Mordes verdächtigt wird, zuerst die Freiheit und dann das Leben.
Tim Farnsworth aber geht seinen Weg ins Verschwinden weiter, in bizarren, unberechenbaren Zickzacklinien, die ihn immer weiter weg von New York und immer näher zum Tod bringen. Er ist der Antipode jenes Forrest Gump, den Tom Hanks 1994 in Robert Zemeckis' Film spielte und der ein amerikanischer Held alten Schlages war, ein Mann, der in der Einsamkeit zu sich selbst und seiner wahren Bestimmung findet. Tim dagegen findet nur Blasen, Muskelentzündungen, Geschwüre, Fieberkrämpfe - und jene Stimme, in der sich der Krieg, den sein Körper gegen sich selbst führt, materialisiert, die Stimme des Anderen, des Nicht-Ichs, das gleichwohl aus seinem tiefsten Innern spricht. Diesem Anderen erzählt Tim, dass er jetzt, anders als zuvor, an die Existenz der Seele glaube, und als die Stimme ihn fragt, woher dieser Glaube komme, antwortet er: "Ohne Gott hast du gewonnen." Worauf der Andere verstummt und sich damit zufriedengibt, Tim mit körperlichen Schmerzen zu quälen.
Das Wunderbare an diesem Buch aber liegt nicht in dieser Geschichte des Leidens. Es liegt darin, dass "Ins Freie" trotz allem eine Geschichte des Glücks ist. Denn zwischen den Schüben, den Irrläufen und Klinikaufenthalten erlebt Tim Farnsworth immer wieder Augenblicke einer Lust am Dasein, die umso intensiver ist, als sie jederzeit vom Dunkel verschlungen werden kann. Und Jane, die seine Mitgefangene in diesem schrecklichen Spiel ist, die sich hundertmal vornimmt, ihn zu verlassen, und ihm doch immer wieder die Treue hält, gibt sich diesen Augenblicken hin, ohne zu fragen, wie lang sie dauern werden. Am Ende schlafen sie auf ihrem Sterbebett miteinander. Dann verabschiedet sich der Mann für immer. Aber selbst das ist nicht das letzte Wort.
Es gibt Romane, die aus der Oberfläche der Dinge schöpfen und das Nächstliegende geschickt zum Klingen bringen; Joshua Ferris' Erstling, die Angestelltenfarce "Wir waren unsterblich", gehörte dazu. Und es gibt Romane, die sich ins Unbekannte vortasten, das hinter unserem Alltag liegt, und Töne anschlagen, die wir selten hören - nicht weil sie der Literatur und dem Leben fremd, sondern weil sie so schwierig zu spielen sind. Ein solches Buch ist "Ins Freie". Ein Geschenk, ein Fund, ein Blitz in der Nacht. Hollywood, hat Joshua Ferris bei seiner Lesung in Berlin im September erzählt, habe auch schon angefragt. Aber dann besannen sich die Abgesandten der Studios eines Besseren und verzichteten auf die Filmrechte. Das muss man als Kompliment verstehen.
ANDREAS KILB
Joshua Ferris: "Ins Freie". Roman. Übersetzt von Marcus Ingendaay. Luchterhand, 352 Seiten, 19,99 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.10.2010Der Mann
auf dem Marsch
Joshua Ferris’ dunkler
Roman „Ins Freie“
Durch Joshua Ferris’ neuen Roman dröhnt von der ersten bis zur letzten Seite ein rhythmisches Stampfen. Es sind die Schritte des Anwalts Tim Farnsworth. Immer wieder übernehmen sie das Kommando über seinen Körper und tragen ihn aus New York hinaus. Mal überkommt ihn ein Anfall in seinem Büro in einer New Yorker Kanzlei. Dann treibt es ihn von Zuhause weg, weg von seiner wunderbaren Frau Jane und von seiner Tochter Rebecca, die eines Tages ganz bestimmt auch eine wunderbare Frau sein wird. Tim Farnsworth muss laufen, laufen, laufen, immer länger, immer weiter. Mit Outdoor-Abenteuern haben seine Gewaltmärsche schon längst nichts mehr zu tun. Tim sucht nicht die idyllische Einsamkeit der Natur, sein Kopf weiß überhaupt nicht, wohin ihn die Beine tragen. Er verausgabt sich bis zum Zusammenbruch, bis zu einem Zustand totaler Erschöpfung, der es ihm gerade noch erlaubt, mit dem Handy seine Frau anzurufen. Die darf sich dann ins Auto setzen und in irgendwo aufsammeln, am Rande eines Highways vielleicht oder auf dem Parkplatz einer Shopping Mall.
Alles Mögliche haben Ärzte und Familie schon versucht, um Tim von seinen mörderischen Märschen abzuhalten. Sie haben ihm Medikamente gegeben, in seinem Gehirn nach neuronalen Auffälligkeiten gesucht, natürlich auch nach Verletzungen seiner Seele geforscht: Doch alle Bemühungen waren vergeblich. Am Ende bleibt nichts anderes übrig, als ihn an seinem Bett anzubinden und ihm einen Notfallrucksack zu packen für den Fall, dass er sich losreißt und wieder auf den Weg macht. Und natürlich macht sich Tim auf den Weg, ohne Ziel, einfach nur weit weg.
Dem Körper den Krieg erklären
Wenn man die Handlung in diesen Umrissen erzählt, dann scheint der Fall klar zu sein. Tims Leben ist vermutlich eben nur scheinbar ein perfektes Leben, irgend etwas nagt in ihm – und eigentlich wäre es nun Sache des Romans, diesen Mangel aufzudecken und zu benennen. Diesen Gefallen tut Ferris seinen Lesern nicht. Tims Krankheit widersetzt sich allen aufwendigen Diagnosen und abenteuerlichen Therapien. Da ist ein Eigensinn am Werk, gegen den kein Kraut gewachsen ist. Mit einem solchen Mann im Haus zu leben, ist eine Katastrophe. Jede Hoffnung auf ein Ende der Anfälle wird durch einen neuen Ausbruch erstickt.
Kein Wunder, dass das fürsorgliche Mitleid von Frau und Tochter in Aggression umkippt und die Aggression selbstzerstörerische Züge annimmt. Wenn Tim wieder einmal verschwunden ist, setzt sich die gar nicht mehr attraktive Jane ins Auto und fährt aufs Land zu einem Hotel, wo sie sich in zweifelhafter Männergesellschaft mit harten Drinks abfüllt. Auch daheim steht nun immer eine offene Flasche Weißwein in Griffweite. Tochter Rebecca, eigentlich auf dem Sprung zu einer Karriere im Musikgeschäft, verfällt aus Verzweiflung über ihre Eltern der Fettsucht. Damit haben alle drei ihren Körpern den Krieg erklärt. Ein starkes, geradezu allegorisches Bild baut Ferris da auf. Der abgemagerte, von Frostbeulen gezeichnete Vater, assistiert von seiner alkoholisierten Ehefrau und der aufgeschwemmten Tochter: drei Körper, von denen man einst erwartet hatte, dass sie in jeder Lebenslage eine gute Figur machen, sind außer Kontrolle geraten. Nur noch ein kleiner Schritt trennt den körperlichen vom sozialen Ruin. Der Weg „ins Freie“ (so der deutsche Titel des Romans) führt tatsächlich ins Nichts.
Mit sadistischer Präzision protokolliert Ferris Stufe für Stufe diesen Verfall. Auch die dazugehörigen Kulissen gestaltet er bis ins Detail: Tims nobles Büro in Manhattan, darin die Kollegen, die nur darauf warten, seine Mandanten zu übernehmen, die billige Absteige, in der sich Jane, umgeben von altersgeilen Männern, um den Verstand trinkt, schließlich die trostlosen Gewerbegebiete, in denen Tim nach seinen Gewaltmärschen erwacht. Es ist die Abfolge dieser intensiven Bilder, untermalt von Tims Schritten, die den Roman in Gang hält. Die Farnsworths bewohnen eine Welt, die dem Gesetz des Untergangs unterworfen sind. Alle realistischen Accessoires täuschen nur vor, dass dort noch ein gelungenes Leben möglich sei, tatsächlich kaschieren sie eine kalte, am Ende tödliche Wirklichkeit. Ferris geht aufs Ganze, entwirft eine Realität, von der aus kein Weg mehr zurückführt in eine erträgliche Existenz. Einen Roman der jüngeren Zeit zu finden, der in solch ästhetischer Konsequenz abrechnet, dürfte so leicht nicht fallen. TOBIAS HEYL
JOSHUA FERRIS: Ins Freie. Roman. Aus dem Amerikanischen von Marcus Ingendaay. Luchterhand Verlag, München 2010. 339 Seiten, 19,95 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
auf dem Marsch
Joshua Ferris’ dunkler
Roman „Ins Freie“
Durch Joshua Ferris’ neuen Roman dröhnt von der ersten bis zur letzten Seite ein rhythmisches Stampfen. Es sind die Schritte des Anwalts Tim Farnsworth. Immer wieder übernehmen sie das Kommando über seinen Körper und tragen ihn aus New York hinaus. Mal überkommt ihn ein Anfall in seinem Büro in einer New Yorker Kanzlei. Dann treibt es ihn von Zuhause weg, weg von seiner wunderbaren Frau Jane und von seiner Tochter Rebecca, die eines Tages ganz bestimmt auch eine wunderbare Frau sein wird. Tim Farnsworth muss laufen, laufen, laufen, immer länger, immer weiter. Mit Outdoor-Abenteuern haben seine Gewaltmärsche schon längst nichts mehr zu tun. Tim sucht nicht die idyllische Einsamkeit der Natur, sein Kopf weiß überhaupt nicht, wohin ihn die Beine tragen. Er verausgabt sich bis zum Zusammenbruch, bis zu einem Zustand totaler Erschöpfung, der es ihm gerade noch erlaubt, mit dem Handy seine Frau anzurufen. Die darf sich dann ins Auto setzen und in irgendwo aufsammeln, am Rande eines Highways vielleicht oder auf dem Parkplatz einer Shopping Mall.
Alles Mögliche haben Ärzte und Familie schon versucht, um Tim von seinen mörderischen Märschen abzuhalten. Sie haben ihm Medikamente gegeben, in seinem Gehirn nach neuronalen Auffälligkeiten gesucht, natürlich auch nach Verletzungen seiner Seele geforscht: Doch alle Bemühungen waren vergeblich. Am Ende bleibt nichts anderes übrig, als ihn an seinem Bett anzubinden und ihm einen Notfallrucksack zu packen für den Fall, dass er sich losreißt und wieder auf den Weg macht. Und natürlich macht sich Tim auf den Weg, ohne Ziel, einfach nur weit weg.
Dem Körper den Krieg erklären
Wenn man die Handlung in diesen Umrissen erzählt, dann scheint der Fall klar zu sein. Tims Leben ist vermutlich eben nur scheinbar ein perfektes Leben, irgend etwas nagt in ihm – und eigentlich wäre es nun Sache des Romans, diesen Mangel aufzudecken und zu benennen. Diesen Gefallen tut Ferris seinen Lesern nicht. Tims Krankheit widersetzt sich allen aufwendigen Diagnosen und abenteuerlichen Therapien. Da ist ein Eigensinn am Werk, gegen den kein Kraut gewachsen ist. Mit einem solchen Mann im Haus zu leben, ist eine Katastrophe. Jede Hoffnung auf ein Ende der Anfälle wird durch einen neuen Ausbruch erstickt.
Kein Wunder, dass das fürsorgliche Mitleid von Frau und Tochter in Aggression umkippt und die Aggression selbstzerstörerische Züge annimmt. Wenn Tim wieder einmal verschwunden ist, setzt sich die gar nicht mehr attraktive Jane ins Auto und fährt aufs Land zu einem Hotel, wo sie sich in zweifelhafter Männergesellschaft mit harten Drinks abfüllt. Auch daheim steht nun immer eine offene Flasche Weißwein in Griffweite. Tochter Rebecca, eigentlich auf dem Sprung zu einer Karriere im Musikgeschäft, verfällt aus Verzweiflung über ihre Eltern der Fettsucht. Damit haben alle drei ihren Körpern den Krieg erklärt. Ein starkes, geradezu allegorisches Bild baut Ferris da auf. Der abgemagerte, von Frostbeulen gezeichnete Vater, assistiert von seiner alkoholisierten Ehefrau und der aufgeschwemmten Tochter: drei Körper, von denen man einst erwartet hatte, dass sie in jeder Lebenslage eine gute Figur machen, sind außer Kontrolle geraten. Nur noch ein kleiner Schritt trennt den körperlichen vom sozialen Ruin. Der Weg „ins Freie“ (so der deutsche Titel des Romans) führt tatsächlich ins Nichts.
Mit sadistischer Präzision protokolliert Ferris Stufe für Stufe diesen Verfall. Auch die dazugehörigen Kulissen gestaltet er bis ins Detail: Tims nobles Büro in Manhattan, darin die Kollegen, die nur darauf warten, seine Mandanten zu übernehmen, die billige Absteige, in der sich Jane, umgeben von altersgeilen Männern, um den Verstand trinkt, schließlich die trostlosen Gewerbegebiete, in denen Tim nach seinen Gewaltmärschen erwacht. Es ist die Abfolge dieser intensiven Bilder, untermalt von Tims Schritten, die den Roman in Gang hält. Die Farnsworths bewohnen eine Welt, die dem Gesetz des Untergangs unterworfen sind. Alle realistischen Accessoires täuschen nur vor, dass dort noch ein gelungenes Leben möglich sei, tatsächlich kaschieren sie eine kalte, am Ende tödliche Wirklichkeit. Ferris geht aufs Ganze, entwirft eine Realität, von der aus kein Weg mehr zurückführt in eine erträgliche Existenz. Einen Roman der jüngeren Zeit zu finden, der in solch ästhetischer Konsequenz abrechnet, dürfte so leicht nicht fallen. TOBIAS HEYL
JOSHUA FERRIS: Ins Freie. Roman. Aus dem Amerikanischen von Marcus Ingendaay. Luchterhand Verlag, München 2010. 339 Seiten, 19,95 Euro.
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