Produktdetails
  • Verlag: Ammann
  • ISBN-13: 9783250600954
  • ISBN-10: 3250600954
  • Artikelnr.: 20856055
  • Herstellerkennzeichnung
  • Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.07.2007

Kein Zutritt zu dieser Moschee
Und bitte keine Bilder: Stefan Weidner bereist die Stadt Fes

Die Zeit adelt selbst den Vandalismus. Oder was haben Wandschmierereien und die Aufschrift "Pissen verboten!", die sich in einer düsteren Ecke der Altstadt von Marrakesch finden, mit dem abstrakten Expressionismus eines Mark Rothko zu tun, dessen Wandgemälde für das Seagram-Gebäude in New York heute in der Londoner Tate Gallery zu bewundern sind? Es sei, so meint Stefan Weidner in seinem Buch "Fes", die "pure, deshalb nicht leere, sondern nur auf unbestimmte Weise zu erfahrende Präsenz eines Geheimnisses, das nie enthüllt zu werden braucht, weil es im Geheimbleiben sich erfüllt". Die Mehrdimensionalität der Pinkelecke mit ihren arabischen Schriftzügen und den rotbraunen Farbschichten ist freilich eine Metapher. Es geht um die Kunst des Orients, die ohne Mimesis auskomme, deren verborgenes Geheimnis es zu entdecken gelte ohne den im Westen typischen Drang zur Entschlüsselung - wider die Dekonstruktion!

Die Ästhetik islamischer Kunst und orientalischer Lebensweise, von der die Mehrheit im Abendland nur eine vage, von Klischees verstellte Vorstellung hat, ist für den Orientkenner und Übersetzer Weidner der Kompass, mit dem er sich durch die Königsstädte Fes und Marrakesch bewegt, vorbei an schäbigen Straßenhändlern, die köstliche Kringel verkaufen, durch dunkle Buchkeller, in denen orientalische Schönheiten in engen Jeans nach Bänden mittelalterlicher arabischer Poesie greifen. Geheimnis und Klischee, denkt da der Leser, liegen wohl auch für den Kenner nah beieinander. Der Autor bedient sich jedoch eines Tricks, eines irritierenden Mittels der Verfremdung, indem er einen Protagonisten namens R. durch Gassen und Winkel der beiden Städte begleitet und so ein Orientbild zwischen Realität, Kanonisierung und Inszenierung der Illusion entstehen lässt, das wohl nicht das seine ist. Ein Palast entpuppt sich als "Club Med"-Touristenresort, im Pool aber spiegelt sich das Minarett einer echten Moschee. Schein und Sein, ein ewiger Trugschluss.

Anlass der Reise war ein deutsch-arabisches Dichtertreffen, eines von so vielen nach dem 11. September, bei dem sich die arabischen Kollegen für R. als hoffnungslose Romantiker erweisen, während die deutschen Poeten als schnaufende Zyniker daherkommen. Seite um Seite, Gasse um Gasse scheint diese Gewissheit ins Wanken zu geraten. Kenntnisreich sinniert R. über den maghrebinisch-andalusischen Kulturraum als Brücke zwischen Afrika und Europa, wobei Letzteres seine Geschichte auch der Abgrenzung vom Orient und der Auseinandersetzung mit ihm verdankt, während für die islamische Kultur der Westen erst in jüngerer Zeit eine ähnliche Bedeutung erlangte.

Nicht ohne Pathos balanciert R. zwischen Realitätssinn und einer naiven Verführbarkeit durch das Fremde. Die Knochenarbeit der Töpfer, Färber und Lastenträger wird ästhetisch verklärt, während der Deutsche beim Anblick des Korans in DVD-Form um einen "verlorenen und zerstörten Islam" trauert - so, als könne man ausgerechnet dieses heilige Buch vor dem schnöden Mammon bewahren. Am Ende wird gerade er, der Orientalist, profanieren, indem er die Kairuan-Moschee, die wie alle Hauptmoscheen von Fes Ungläubigen verschlossen ist, als vermeintlicher Muslim betritt. Ausgerechnet der Moschee-Narr wird ihn demütigend enttarnen. Eilends flüchtend, landet er im Innenhof der Medersa al-Attarin, einer mit Ornamenten, Korankalligraphie und Intarsien geschmückten Religionsschule aus dem vierzehnten Jahrhundert. Das Geheimnis dieser Schönheit entzieht sich jeder Hermeneutik.

Dem zwischen Schwärmerei und Kulturpessimismus oszillierenden R. ist in einer Art ostwestlichem Dialog ein marokkanischer Dichter zur Seite gestellt. Ganz unromantisch argumentiert dieser Nassib, dass den Muslimen in Europa zwar die Kirchen offenstünden, der Kontinent als solcher aber weitgehend verschlossen bleibe. Die Staatsbürgerschaft sei im Gegensatz zur Religion, die jeder annehmen könne, eine eher perfide westliche Erfindung, die letztlich gerade jene ausgrenze, die eben einen anderen als den christlichen Glauben haben.

Selbst die feudale Leibeigenschaft aus vorkolonialer Zeit war gewissermaßen humaner als ihre moderne Variante, bei der sich die Sklaven freiwillig und unter Todesgefahr entlang der ewigen Leidensrouten durch Wüsten und über Meere quälen. Die Sklaverei sei heute verpönt, am Elend der Versklavten habe dies aber wenig geändert. Während R. über die Ästhetik sinniert, kommt für den Orientalen erst das Fressen und gleich danach die Moral. "East turns west, and west turns east", möchte man in Abwandlung Kiplings meinen.

Siebenmal muss der Leser Fes umkreisen wie die Pilger die Kaaba in Mekka. Dass wir den ästhetischen Aspekt einer Kultur im Konfliktfall nicht, wie Stefan Weidner schon in seinen "Mohammedanischen Versuchungen" (2004) schrieb, als Quantité négligeable betrachten, dass wir an die fremde Kultur dieselben Maßstäbe anlegen wie an die eigene, ist seine Botschaft in einer Zeit, in der die Kunst kaum noch von der Politik getrennt wird. Die Front im Kampf der Kulturen verläuft für Weidner in der Grauzone des Geredes über den Islam. Nicht "Fes", so der Erzähler, hätte das Buch eigentlich heißen sollen, sondern "Untitled". Du sollst dir kein Bildnis machen: Das gilt in allen Buchreligionen.

SABINE BERKING

Stefan Weidner: "Fes". Sieben Umkreisungen. Ammann Verlag, Zürich 2006. 200 S., geb., 19,90 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Rezensent Hans-Volkmar Findeisen vermag Stefan Weidners neues Buch nicht so recht einem herkömmlichen Genre zuweisen: Literarische Autobiografie, Essay, Reportage oder Fotoband? Ein "Gemenge" aus alledem am ehesten, und das kommt dem Gegenstand zugute, applaudiert er. Um sich der postkolonialen Moderne in Nordafrika anzunähern, stelle Weidner fiktive Dispute über religionspolitische und ästhetische Fragen neben Fotografien und anekdotische Berichte von zweideutigen Avancen junger Fundamentalmuslime. Mit diesem Ansatz bietet der Autor nach Ansicht des Rezensenten thematisch wie formal einen "ungemein anregenden Brückenschlag", weshalb sich das Buch als eine Vorschule zu einem neuen Zugang zum Orient empfehle.

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