Die marokkanische Stadt Fes war für den Orientalisten und Kunsthistoriker Titus Burckhardt Inbegriff der idealen islamischen Stadt, in der Religion, Gesellschaft und Wirtschaft eine stimmige Einheit bilden. Indem er Fes mit seinen Moscheen und Häusern, Handwerkern und Händlern, Gelehrten und Heiligen beschreibt, bietet er dem Leser zugleich ein eindrucksvolles Panorama der islamischen Zivilisation insgesamt. Ein Meisterwerk der literarischen Kulturgeschichtsschreibung.
Eine Stadt, die sich ihre jahrhundertealte Ordnung bewahrt hat, von modernen europäischen Einflüssen unberührt, trotz des französischen Protektorats selbstbewusst in sich und der Religion ruhend - so sah Titus Burckhardt Fes, als er die Stadt in den 1930er Jahren besuchte und lange blieb. In den fünfziger Jahren kehrte er zurück, entdeckte kaum merkliche Zeichen einer Veränderung und hielt das Leben der Stadt in seinem grandiosen Buch fest. Mit seinen Einblicken in Moscheen und Privathäuser, die dem Fremden sonst verschlossen sind, mit ausführlichen Zitaten klassischer arabischer Autoren sowie mit zahlreichen historischen Fotografien ist das Buch ein einzigartiges Dokument einer islamischen Kultur, die im 20. Jahrhundert versunken ist.
Eine Stadt, die sich ihre jahrhundertealte Ordnung bewahrt hat, von modernen europäischen Einflüssen unberührt, trotz des französischen Protektorats selbstbewusst in sich und der Religion ruhend - so sah Titus Burckhardt Fes, als er die Stadt in den 1930er Jahren besuchte und lange blieb. In den fünfziger Jahren kehrte er zurück, entdeckte kaum merkliche Zeichen einer Veränderung und hielt das Leben der Stadt in seinem grandiosen Buch fest. Mit seinen Einblicken in Moscheen und Privathäuser, die dem Fremden sonst verschlossen sind, mit ausführlichen Zitaten klassischer arabischer Autoren sowie mit zahlreichen historischen Fotografien ist das Buch ein einzigartiges Dokument einer islamischen Kultur, die im 20. Jahrhundert versunken ist.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.09.2015Vor dieser Stadt muss jeder Besucher kapitulieren
Aus der Zeit gefallen: Titus Burckhardts eindrucksvolles Porträt des marokkanischen Fes zeichnet eine islamische Welt im Übergang.
Dass die islamische Welt nicht ausschließlich aus Katastrophen besteht, könnte man allzu leicht vergessen in diesen Zeiten. Selbst die ubiquitären Islamdebatten scheinen für einen Augenblick zu verstummen angesichts der ausufernden Gewalt im Nahen Osten und ihrer Folgen. Verstört blickt Europa auf eine Region, in der in den letzten Jahren alles zerbrochen zu sein scheint, was an sozialen und religiösen Bindungen und Traditionen noch vorhanden war.
Da tut es gut, ein Buch aufzuschlagen, das sich mit Akribie und Leidenschaft einem Thema widmet, das irritierend aus der Zeit gefallen wirkt: der marokkanischen Stadt Fes als geistigem Kosmos, in dem die Rituale des Alltags und der Religion aufeinander bezogen sind und eine harmonische Ordnung bilden. Ein Thema, das aber die ganze Widersprüchlichkeit der arabisch-islamischen Zivilisation in der Moderne in sich birgt und die des westlichen Blicks auf sie dazu.
Irritierend ist in der Tat einiges an Titus Burckhardts "Fes. Stadt des Islam". Das Buch, das zuerst 1960 erschien, beruht auf Beobachtungen, die der Basler Autor, Verleger und Gelehrte während zweier Aufenthalte gemacht hatte, Anfang der dreißiger und Mitte der fünfziger Jahre. Wiederum zwanzig Jahre später entwarf er für die Unesco ein Konzept zum Erhalt der Altstadt von Fes. In der Zwischenzeit hatte Marokko die Unabhängigkeit von Frankreich erlangt - was Burckhardts zweiten Besuch überhaupt erst möglich machte: Die Protektoratsverwaltung hatte ihn bei seinem ersten Aufenthalt des Landes verwiesen; der junge Schweizer, der sich wie die Einheimischen kleidete, in der Moschee betete und bei Islamgelehrten studierte, war den Franzosen verdächtig erschienen.
Dabei war es nur die Liebe zum Arabischen und zur islamischen Kultur - insbesondere zur Mystik -, die der wissbegierige Student auf ungewöhnlichen Pfaden zu verwirklichen suchte. Das "Erspüren", die unmittelbare ästhetische und sinnliche Annäherung an ein Thema, stellt der Islamwissenschaftler Navid Kermani in seiner Einführung denn auch als Charakteristikum von Burckhardts Werken heraus; und das Buch "Fes", schreibt er, sei "ein leuchtendes Zeugnis einer solchen Reise, die Burckhardt zugleich im Inneren unternahm". Die doppelte Exemplarität - die von Burckhardts Art und Weise, sich seinem Gegenstand zu nähern, und die von Fes als traditionell-islamischer Stadtkultur - mag es wohl gewesen sein, die den Verlag dazu bewog, ein Werk neu aufzulegen, das bislang nicht zu den Klassikern der Orient-Reiseliteratur zählte.
Für letzteren Umstand gibt es dabei durchaus Gründe. "Fes" ist verwirrend, widersprüchlich, überfordernd, zuweilen trügerisch - und damit dem real existierenden Fes erstaunlich ähnlich. In das Gassengewirr der alten marokkanischen Königsstadt steigt man auch heute noch hinab wie in eine mythische Gegenwelt, um sich - Kermani macht es im Nachwort vor - binnen Minuten zwischen den dichtgedrängten, hoch aufragenden Hausburgen zu verlieren. Der Tourismus hat die Stadt ergriffen, gewiss, sie sich aber nicht untertan gemacht. Vielmehr muss jeder Besucher vor Fes kapitulieren oder besser: sich ihm ergeben.
Burckhardts Buch ist ähnlich schwer auf einen Nenner zu bringen; es ist teils Stadtgeschichte, teils Reportage, teils Typologie maghrebinischer Stände und Berufe, teils Abhandlung über den Sufismus. Wann immer man denkt, man sei dem Muster des Buches auf die Spur gekommen, nimmt es eine unerwartete Wendung, wechselt Stil oder Thema und mäandert so durch und um seinem Gegenstand herum.
Wiederholt scheint dabei ein Bild auf: dasjenige des unverdorbenen Orients, der sich in Fes bis vor kurzem noch gezeigt habe - nun aber der Moderne zum Opfer falle. Wo, fragt Burckhardt gleich eingangs, "gäbe es einen Ausgleich zwischen der ererbten Lebensform, die bei all ihren Mängeln einen Schatz eines ewigen Sinnes in sich birgt, und der modernen europäischen Welt, die so, wie sie sich handgreiflich kundgibt, ganz eine diesseitige, auf Besitz und Genuß gerichtete, alles Heilige verachtende Macht darstellt?" Dieser wehmütig-anklagende Ton freilich lässt sofort die Orientalismus-Alarmglocke schrillen. Geht der Autor hier einem Trugbild vom "wahren, unwandelbaren Orient" auf den Leim?
Um die gefährdete Welt von Fes zu beschreiben, greift Burckhardt oft auf Ibn Khaldun zurück, den großen mittelalterlichen Geschichtsdeuter, dessen Theorie des Gegen- und Miteinanders von Sesshaften und Nomaden er prägnant zusammenfasst und am Beispiel nordafrikanischer Dynastien durchspielt. Auch sonst bettet er Quellen verschiedenster Provenienz in seine Darstellung der Naturgegebenheiten, Bevölkerungsgruppen und Geschichte der Stadt ein - ein großer Vorzug, der jedoch zugleich Burckhardts Neigung zur erbaulichen, unkritischen Darstellung verstärkt. Gerade wenn man beginnt, sich daran zu stoßen, folgt jedoch wieder eine traumwandlerische Beschreibung eines - praktisch ereignislosen - Wüstenritts im Morgenlicht, und man begreift ein wenig, was an dieser Welt Burckhardt so für sich eingenommen hat.
Diese Welt - sie scheint ewig und von transzendenter Perfektion. Der Einzelne geht im Strudel der Zeiten unter: "Das Reich der Toten ist größer als das der Lebenden", zitiert Burckhardt ein Sprichwort über Fes, die "Stadt der Heiligen". Die nehmen großen Raum ein, in der Stadt wie im Buch: Ausgiebig gibt er Biographien bedeutender Scheichs wieder und beschreibt Pilgerstätten. Dabei interessiert er sich weniger für die Geschichte als dafür, wie diese einen mit historischem Bewusstsein gefüllten Stadtraum geschaffen hat, der das Leben der Menschen prägt. Dass der Mensch bei Burckhardt Gottes Gefäß ist, zeigt sich aber vor allem in dem langen Kapitel über die "goldene Kette" der islamischen Mystik, die ihn selbst stark beeinflusst hat.
Gab es das Fes von Titus Burckhardts "Fes" jemals wirklich? Gewiss nicht so ausschließlich und so intakt, wie er es beschreibt - und wie er es dem Rationalismus der westlichen Moderne gegenüberstellt. Dieser zerstöre alle traditionellen Lebensformen, die - laut Burckhardt - so gestaltet sind, "daß sie von außen nach innen, zum ewigen Sinn des Lebens führen können". Aber Presse und Rundfunk als Bedrohung für alles "echte Denken"? An zahlreichen Stellen darf man mit dem Autor durchaus nicht einer Meinung sein; dies zwingt dann aber auch dazu, sich differenziertere Gedanken zu machen über Wohl und Wehe, die der Einbruch der Moderne für die arabisch-islamische Welt bedeutet hat. Allein deshalb lohnt die Lektüre dieses Buches - weil es keine aus heutiger Zeit verfasste Apologie des Islams darstellt, sondern als Augenzeugenbericht den Übergang selbst beschreibt. Auf jeden Fall aber sollte man es lesen, bevor man Fes besucht - es ist ein guter Wegweiser, um sich dort zu verlaufen.
CHRISTIAN H. MEIER.
Titus Burckhardt: "Fes". Stadt des Islam.
Verlag C. H. Beck, München 2015. 219 S., Abb., geb., 26,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Aus der Zeit gefallen: Titus Burckhardts eindrucksvolles Porträt des marokkanischen Fes zeichnet eine islamische Welt im Übergang.
Dass die islamische Welt nicht ausschließlich aus Katastrophen besteht, könnte man allzu leicht vergessen in diesen Zeiten. Selbst die ubiquitären Islamdebatten scheinen für einen Augenblick zu verstummen angesichts der ausufernden Gewalt im Nahen Osten und ihrer Folgen. Verstört blickt Europa auf eine Region, in der in den letzten Jahren alles zerbrochen zu sein scheint, was an sozialen und religiösen Bindungen und Traditionen noch vorhanden war.
Da tut es gut, ein Buch aufzuschlagen, das sich mit Akribie und Leidenschaft einem Thema widmet, das irritierend aus der Zeit gefallen wirkt: der marokkanischen Stadt Fes als geistigem Kosmos, in dem die Rituale des Alltags und der Religion aufeinander bezogen sind und eine harmonische Ordnung bilden. Ein Thema, das aber die ganze Widersprüchlichkeit der arabisch-islamischen Zivilisation in der Moderne in sich birgt und die des westlichen Blicks auf sie dazu.
Irritierend ist in der Tat einiges an Titus Burckhardts "Fes. Stadt des Islam". Das Buch, das zuerst 1960 erschien, beruht auf Beobachtungen, die der Basler Autor, Verleger und Gelehrte während zweier Aufenthalte gemacht hatte, Anfang der dreißiger und Mitte der fünfziger Jahre. Wiederum zwanzig Jahre später entwarf er für die Unesco ein Konzept zum Erhalt der Altstadt von Fes. In der Zwischenzeit hatte Marokko die Unabhängigkeit von Frankreich erlangt - was Burckhardts zweiten Besuch überhaupt erst möglich machte: Die Protektoratsverwaltung hatte ihn bei seinem ersten Aufenthalt des Landes verwiesen; der junge Schweizer, der sich wie die Einheimischen kleidete, in der Moschee betete und bei Islamgelehrten studierte, war den Franzosen verdächtig erschienen.
Dabei war es nur die Liebe zum Arabischen und zur islamischen Kultur - insbesondere zur Mystik -, die der wissbegierige Student auf ungewöhnlichen Pfaden zu verwirklichen suchte. Das "Erspüren", die unmittelbare ästhetische und sinnliche Annäherung an ein Thema, stellt der Islamwissenschaftler Navid Kermani in seiner Einführung denn auch als Charakteristikum von Burckhardts Werken heraus; und das Buch "Fes", schreibt er, sei "ein leuchtendes Zeugnis einer solchen Reise, die Burckhardt zugleich im Inneren unternahm". Die doppelte Exemplarität - die von Burckhardts Art und Weise, sich seinem Gegenstand zu nähern, und die von Fes als traditionell-islamischer Stadtkultur - mag es wohl gewesen sein, die den Verlag dazu bewog, ein Werk neu aufzulegen, das bislang nicht zu den Klassikern der Orient-Reiseliteratur zählte.
Für letzteren Umstand gibt es dabei durchaus Gründe. "Fes" ist verwirrend, widersprüchlich, überfordernd, zuweilen trügerisch - und damit dem real existierenden Fes erstaunlich ähnlich. In das Gassengewirr der alten marokkanischen Königsstadt steigt man auch heute noch hinab wie in eine mythische Gegenwelt, um sich - Kermani macht es im Nachwort vor - binnen Minuten zwischen den dichtgedrängten, hoch aufragenden Hausburgen zu verlieren. Der Tourismus hat die Stadt ergriffen, gewiss, sie sich aber nicht untertan gemacht. Vielmehr muss jeder Besucher vor Fes kapitulieren oder besser: sich ihm ergeben.
Burckhardts Buch ist ähnlich schwer auf einen Nenner zu bringen; es ist teils Stadtgeschichte, teils Reportage, teils Typologie maghrebinischer Stände und Berufe, teils Abhandlung über den Sufismus. Wann immer man denkt, man sei dem Muster des Buches auf die Spur gekommen, nimmt es eine unerwartete Wendung, wechselt Stil oder Thema und mäandert so durch und um seinem Gegenstand herum.
Wiederholt scheint dabei ein Bild auf: dasjenige des unverdorbenen Orients, der sich in Fes bis vor kurzem noch gezeigt habe - nun aber der Moderne zum Opfer falle. Wo, fragt Burckhardt gleich eingangs, "gäbe es einen Ausgleich zwischen der ererbten Lebensform, die bei all ihren Mängeln einen Schatz eines ewigen Sinnes in sich birgt, und der modernen europäischen Welt, die so, wie sie sich handgreiflich kundgibt, ganz eine diesseitige, auf Besitz und Genuß gerichtete, alles Heilige verachtende Macht darstellt?" Dieser wehmütig-anklagende Ton freilich lässt sofort die Orientalismus-Alarmglocke schrillen. Geht der Autor hier einem Trugbild vom "wahren, unwandelbaren Orient" auf den Leim?
Um die gefährdete Welt von Fes zu beschreiben, greift Burckhardt oft auf Ibn Khaldun zurück, den großen mittelalterlichen Geschichtsdeuter, dessen Theorie des Gegen- und Miteinanders von Sesshaften und Nomaden er prägnant zusammenfasst und am Beispiel nordafrikanischer Dynastien durchspielt. Auch sonst bettet er Quellen verschiedenster Provenienz in seine Darstellung der Naturgegebenheiten, Bevölkerungsgruppen und Geschichte der Stadt ein - ein großer Vorzug, der jedoch zugleich Burckhardts Neigung zur erbaulichen, unkritischen Darstellung verstärkt. Gerade wenn man beginnt, sich daran zu stoßen, folgt jedoch wieder eine traumwandlerische Beschreibung eines - praktisch ereignislosen - Wüstenritts im Morgenlicht, und man begreift ein wenig, was an dieser Welt Burckhardt so für sich eingenommen hat.
Diese Welt - sie scheint ewig und von transzendenter Perfektion. Der Einzelne geht im Strudel der Zeiten unter: "Das Reich der Toten ist größer als das der Lebenden", zitiert Burckhardt ein Sprichwort über Fes, die "Stadt der Heiligen". Die nehmen großen Raum ein, in der Stadt wie im Buch: Ausgiebig gibt er Biographien bedeutender Scheichs wieder und beschreibt Pilgerstätten. Dabei interessiert er sich weniger für die Geschichte als dafür, wie diese einen mit historischem Bewusstsein gefüllten Stadtraum geschaffen hat, der das Leben der Menschen prägt. Dass der Mensch bei Burckhardt Gottes Gefäß ist, zeigt sich aber vor allem in dem langen Kapitel über die "goldene Kette" der islamischen Mystik, die ihn selbst stark beeinflusst hat.
Gab es das Fes von Titus Burckhardts "Fes" jemals wirklich? Gewiss nicht so ausschließlich und so intakt, wie er es beschreibt - und wie er es dem Rationalismus der westlichen Moderne gegenüberstellt. Dieser zerstöre alle traditionellen Lebensformen, die - laut Burckhardt - so gestaltet sind, "daß sie von außen nach innen, zum ewigen Sinn des Lebens führen können". Aber Presse und Rundfunk als Bedrohung für alles "echte Denken"? An zahlreichen Stellen darf man mit dem Autor durchaus nicht einer Meinung sein; dies zwingt dann aber auch dazu, sich differenziertere Gedanken zu machen über Wohl und Wehe, die der Einbruch der Moderne für die arabisch-islamische Welt bedeutet hat. Allein deshalb lohnt die Lektüre dieses Buches - weil es keine aus heutiger Zeit verfasste Apologie des Islams darstellt, sondern als Augenzeugenbericht den Übergang selbst beschreibt. Auf jeden Fall aber sollte man es lesen, bevor man Fes besucht - es ist ein guter Wegweiser, um sich dort zu verlaufen.
CHRISTIAN H. MEIER.
Titus Burckhardt: "Fes". Stadt des Islam.
Verlag C. H. Beck, München 2015. 219 S., Abb., geb., 26,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main