Mit der Festschrift für Christian Kirchner sollte ein außergewöhnlicher akademischer Lehrer und Forscher zu seinem 70. Geburtstag geehrt werden, der in seiner die Rechts- und Wirtschaftswissenschaften umfassenden Laufbahn, zuletzt während seiner fast 20-jährigen Tätigkeit als Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin, entscheidend zur Entwicklung des modernen Wirtschaftsrechts, insbesondere des Wettbewerbs- sowie des Regulierungsrechts, beigetragen hat. Er gilt als einer der führenden Vordenker der Ökonomischen Theorie des Rechts. Überraschend ist der zu Ehrende am 17. Januar 2014 verstorben. Das Werk ist daher seinem Andenken gewidmet. Für die Festschrift haben zahlreiche renommierte Autoren aus Deutschland sowie unter anderem der Schweiz, den USA und Asien als Freunde, Weggefährten, Schüler und Kollegen Beiträge verfasst, die sich mit Problemen aus den zentralen Arbeitsgebieten des zu Ehrenden wissenschaftlich auseinandersetzen. Schwerpunkte der Beiträge bilden das Wirtschafts- und Gesellschaftsrecht, Kartellrecht, Recht und Ökonomie der Regulierung sowie Institutionenökonomie. Dabei wird meist ein europäischer oder internationaler Bezug hergestellt und häufig eine wirtschaftswissenschaftliche Sichtweise gewählt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.11.2014Ökonomische Blindheit
Lebenserfahrung ersetzt keine Wissenschaft
Die immer wieder verbreitete Ansicht, der Euro und eine Transferunion seien der Preis für die Einheit gewesen, kann als widerlegt gelten - meinen Charles B. Blankert und David Ehmke. Schon vor der Wiedervereinigung hätte sich Paris immer wieder über das "D-Mark-Diktat" der Deutschen beschwert, und die Deutsche Bundesbank sei der Sündenbock der Franzosen gewesen. Deshalb wurde bereits im Jahre 1988 das Ziel einer Europäischen Währungsunion formuliert. Zwar war damals noch nicht vom Euro die Rede, doch Jacques Delors sprach aus, wohin die Reise gehen würde, als er prognostizierte, dass eine einheitliche Währung die natürliche und wünschenswerte Entwicklung der Zusammenarbeit sei.
Während des Gipfeltreffens der Staats- und Regierungschefs im Juni 1989 in Madrid wurden die Wünsche Delors' offizielle Politik der Gemeinschaft. All das geschah Monate vor dem Fall der Berliner Mauer. Und auch danach habe es, so Blankert und Ehmke, keine Vereinbarungen "Euro gegen Wiedervereinigung" gegeben: Keine einzige Äußerung der handelnden Akteure lege dies nahe, außerdem wäre eine entsprechende Vereinbarung ungültig gewesen, da der Deutsche Bundestag hätte hinzugezogen werden müssen. Auch die Transferunion war keine Bedingung: Im Vertrag von Maastricht war der Haftungsverbund nicht vorgesehen, die spätere Entwicklung nicht prognostizierbar.
Der Aufsatz des Ökonomen Blankert und des Juristen Ehmke lebt von den beiderseitig eingebrachten Sichtweisen: Ein lebendiges Beispiel, wie befruchtend die Zusammenarbeit dieser Professionen sein kann. Das zeigt sich in vielen Beiträgen des Bandes zu Ehren von Christian Kirchner. Oft sind Festschriften wenig erkenntnisfördernd, aber dieses Werk beweist das Gegenteil. Es lebt vor, was auch Kirchner war: heimisch in zwei Welten, die er als Einheit betrachtete. Der Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin lehrte sowohl als Ökonom als auch als Jurist an zwei Fakultäten. Im Januar 2014 ist er nach kurzer, schwerer Krankheit verstorben. Er konnte diese Schrift, die anlässlich seines 70. Geburtstages vorbereitet war, nicht mehr in Händen halten.
Andernfalls hätte er beispielsweise lesen können, wie Alexander Fritzsche das Bundeskartellamt dafür lobt, ökonomische Expertise aufgebaut zu haben, die den mit kartellrechtlichen Verfahren befassten Gerichten manchmal fehle. Sie würden sich zu oft an der bisherigen Rechtspraxis orientieren, "ohne den Erkenntnisfortschritt in der Referenzwissenschaft Ökonomik wahrzunehmen". In der Tat sind gerade Spieltheorie und moderne Industrieökonomik sehr dynamische Gebiete. "Nur mit einem hinreichend guten Überblick über die ökonomische Literatur ist es möglich, die Wandlungen gewisser Gesetzmäßigkeiten zu identifizieren."
Dass dies oft unterbleibt, macht den Frankfurter Rechtsanwalt Fritzsche ungehalten. Doch nicht jeder Jurist hatte während seiner Ausbildung die Möglichkeit, Veranstaltungen zur "Ökonomischen Theorie des Rechts" zu hören, wie sie Kirchner als einer der Pioniere in Deutschland angeboten hatte. Dies darf selbstredend keine Entschuldigung dafür sein, dass Gerichte naheliegende und empirisch bestätigte Erfahrungssätze einfach mit dem Verweis auf die "Lebenserfahrung" ablehnen: "Bei komplexen Sachverhalten muss eine wissenschaftlich fundierte Tatsachenfeststellung Vorrang vor subjektiven, womöglich kaum reflektierten Wahrnehmungen einzelner Personen haben." Andernfalls liege Urteilen ein Rechtsfehler zugrunde, der sie anfechtbar macht, legt Fritzsche überzeugend dar.
Auch der Beitrag von Daniel Zimmer über den Wettbewerb im Kraftstoffsektor wandelt zwischen der Theorie von Handlungsanreizen und den sich daraus möglicherweise ergebenden juristischen Verbotsnormen. Dass die gegenwärtigen Marktbedingungen beim Kraftstoff eine Preissetzung oberhalb des Wettbewerbsniveaus begünstigen, entspricht dem Gefühl vieler Autofahrer. Zimmer bringt das westaustralische Modell ins Spiel, nach der eine Preisveränderung nur einmal täglich zu einem festgesetzten Zeitpunkt möglich ist.
Damit sind auch Preissenkungen ausgeschlossen, und es fehlt - jedenfalls für den betreffenden Tag - der Vergeltungsmechanismus und damit eine der Voraussetzungen, die von der Rechtsprechung an den Nachweis einer kollektiv marktbeherrschenden Position gestellt werden. Allerdings sind die Ergebnisse in Westaustralien nicht eindeutig. Zimmer setzt daher eher auf Benzinpreis-Vergleichsportale.
In einem weiteren Beitrag weisen Jörg Baetge, Ilka Lappenküper und Markus May nach, wie sich die Qualität der Unternehmenskultur auf wirtschaftskriminelle Handlungen auswirkt. Nur wo die Compliance-Regeln durch das Management konsequent eingehalten werden, können Delikte wie Unterschlagungen vermieden werden.
Peter Bernholz von der Universität Basel hält ein erfrischendes Plädoyer gegen die Anhäufung von Staatsschulden - man sollte seinen Text ins Französische übersetzen. Detmar Doering zeigt auf, dass Fiskalautonomie im Föderalismus zu geringerer Steuerlast führt; Andreas Engert formuliert spannende Gedanken zur Verhaltenssteuerung mittels Verschuldenshaftung. Schließlich legt Wolfgang Kilian dar, dass jede Person eigentumsähnliche Verfügungsrechte über ihre Daten hat - volkswirtschaftlich sei eine Kumulation bei Dienstleistungsunternehmen nicht sinnvoll. Denn die Vermarktung der Daten erfolge zum überwiegenden Teil ohne Kenntnis der Kunden und auf deren Kosten. Außerdem müsse es kollektive Schutzmaßnahmen und Gruppenklagen gegen amerikanische Unternehmen geben. Der vielseitige Christian Kirchner hätte seine Freude an dieser erquickenden Festschrift gehabt, die zeigt, wie viel Verständnis Juristen und Ökonomen inzwischen füreinander aufbringen können - wenn sie denn wollen.
JOCHEN ZENTHÖFER
Wulf A. Kaal, Matthias Schmidt, Andreas Schwartze (Hrsg.): Festschrift zu Ehren von Christian Kirchner. Mohr Siebeck, Tübingen 2014, 1387 Seiten, 249 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Lebenserfahrung ersetzt keine Wissenschaft
Die immer wieder verbreitete Ansicht, der Euro und eine Transferunion seien der Preis für die Einheit gewesen, kann als widerlegt gelten - meinen Charles B. Blankert und David Ehmke. Schon vor der Wiedervereinigung hätte sich Paris immer wieder über das "D-Mark-Diktat" der Deutschen beschwert, und die Deutsche Bundesbank sei der Sündenbock der Franzosen gewesen. Deshalb wurde bereits im Jahre 1988 das Ziel einer Europäischen Währungsunion formuliert. Zwar war damals noch nicht vom Euro die Rede, doch Jacques Delors sprach aus, wohin die Reise gehen würde, als er prognostizierte, dass eine einheitliche Währung die natürliche und wünschenswerte Entwicklung der Zusammenarbeit sei.
Während des Gipfeltreffens der Staats- und Regierungschefs im Juni 1989 in Madrid wurden die Wünsche Delors' offizielle Politik der Gemeinschaft. All das geschah Monate vor dem Fall der Berliner Mauer. Und auch danach habe es, so Blankert und Ehmke, keine Vereinbarungen "Euro gegen Wiedervereinigung" gegeben: Keine einzige Äußerung der handelnden Akteure lege dies nahe, außerdem wäre eine entsprechende Vereinbarung ungültig gewesen, da der Deutsche Bundestag hätte hinzugezogen werden müssen. Auch die Transferunion war keine Bedingung: Im Vertrag von Maastricht war der Haftungsverbund nicht vorgesehen, die spätere Entwicklung nicht prognostizierbar.
Der Aufsatz des Ökonomen Blankert und des Juristen Ehmke lebt von den beiderseitig eingebrachten Sichtweisen: Ein lebendiges Beispiel, wie befruchtend die Zusammenarbeit dieser Professionen sein kann. Das zeigt sich in vielen Beiträgen des Bandes zu Ehren von Christian Kirchner. Oft sind Festschriften wenig erkenntnisfördernd, aber dieses Werk beweist das Gegenteil. Es lebt vor, was auch Kirchner war: heimisch in zwei Welten, die er als Einheit betrachtete. Der Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin lehrte sowohl als Ökonom als auch als Jurist an zwei Fakultäten. Im Januar 2014 ist er nach kurzer, schwerer Krankheit verstorben. Er konnte diese Schrift, die anlässlich seines 70. Geburtstages vorbereitet war, nicht mehr in Händen halten.
Andernfalls hätte er beispielsweise lesen können, wie Alexander Fritzsche das Bundeskartellamt dafür lobt, ökonomische Expertise aufgebaut zu haben, die den mit kartellrechtlichen Verfahren befassten Gerichten manchmal fehle. Sie würden sich zu oft an der bisherigen Rechtspraxis orientieren, "ohne den Erkenntnisfortschritt in der Referenzwissenschaft Ökonomik wahrzunehmen". In der Tat sind gerade Spieltheorie und moderne Industrieökonomik sehr dynamische Gebiete. "Nur mit einem hinreichend guten Überblick über die ökonomische Literatur ist es möglich, die Wandlungen gewisser Gesetzmäßigkeiten zu identifizieren."
Dass dies oft unterbleibt, macht den Frankfurter Rechtsanwalt Fritzsche ungehalten. Doch nicht jeder Jurist hatte während seiner Ausbildung die Möglichkeit, Veranstaltungen zur "Ökonomischen Theorie des Rechts" zu hören, wie sie Kirchner als einer der Pioniere in Deutschland angeboten hatte. Dies darf selbstredend keine Entschuldigung dafür sein, dass Gerichte naheliegende und empirisch bestätigte Erfahrungssätze einfach mit dem Verweis auf die "Lebenserfahrung" ablehnen: "Bei komplexen Sachverhalten muss eine wissenschaftlich fundierte Tatsachenfeststellung Vorrang vor subjektiven, womöglich kaum reflektierten Wahrnehmungen einzelner Personen haben." Andernfalls liege Urteilen ein Rechtsfehler zugrunde, der sie anfechtbar macht, legt Fritzsche überzeugend dar.
Auch der Beitrag von Daniel Zimmer über den Wettbewerb im Kraftstoffsektor wandelt zwischen der Theorie von Handlungsanreizen und den sich daraus möglicherweise ergebenden juristischen Verbotsnormen. Dass die gegenwärtigen Marktbedingungen beim Kraftstoff eine Preissetzung oberhalb des Wettbewerbsniveaus begünstigen, entspricht dem Gefühl vieler Autofahrer. Zimmer bringt das westaustralische Modell ins Spiel, nach der eine Preisveränderung nur einmal täglich zu einem festgesetzten Zeitpunkt möglich ist.
Damit sind auch Preissenkungen ausgeschlossen, und es fehlt - jedenfalls für den betreffenden Tag - der Vergeltungsmechanismus und damit eine der Voraussetzungen, die von der Rechtsprechung an den Nachweis einer kollektiv marktbeherrschenden Position gestellt werden. Allerdings sind die Ergebnisse in Westaustralien nicht eindeutig. Zimmer setzt daher eher auf Benzinpreis-Vergleichsportale.
In einem weiteren Beitrag weisen Jörg Baetge, Ilka Lappenküper und Markus May nach, wie sich die Qualität der Unternehmenskultur auf wirtschaftskriminelle Handlungen auswirkt. Nur wo die Compliance-Regeln durch das Management konsequent eingehalten werden, können Delikte wie Unterschlagungen vermieden werden.
Peter Bernholz von der Universität Basel hält ein erfrischendes Plädoyer gegen die Anhäufung von Staatsschulden - man sollte seinen Text ins Französische übersetzen. Detmar Doering zeigt auf, dass Fiskalautonomie im Föderalismus zu geringerer Steuerlast führt; Andreas Engert formuliert spannende Gedanken zur Verhaltenssteuerung mittels Verschuldenshaftung. Schließlich legt Wolfgang Kilian dar, dass jede Person eigentumsähnliche Verfügungsrechte über ihre Daten hat - volkswirtschaftlich sei eine Kumulation bei Dienstleistungsunternehmen nicht sinnvoll. Denn die Vermarktung der Daten erfolge zum überwiegenden Teil ohne Kenntnis der Kunden und auf deren Kosten. Außerdem müsse es kollektive Schutzmaßnahmen und Gruppenklagen gegen amerikanische Unternehmen geben. Der vielseitige Christian Kirchner hätte seine Freude an dieser erquickenden Festschrift gehabt, die zeigt, wie viel Verständnis Juristen und Ökonomen inzwischen füreinander aufbringen können - wenn sie denn wollen.
JOCHEN ZENTHÖFER
Wulf A. Kaal, Matthias Schmidt, Andreas Schwartze (Hrsg.): Festschrift zu Ehren von Christian Kirchner. Mohr Siebeck, Tübingen 2014, 1387 Seiten, 249 Euro
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