Fette Welt ist die Geschichte von Hagen Trinker, der auf der abschüssigen Bahn des Lebens zum Alkoholiker geworden und unter die Stadtstreicher gegangen ist. Der Roman erzählt auch von der sechzehnjährigen Ausreißerin Judith, in die er sich verliebt - und von einer Berbergruppe, die trotzig und mit anarchischem Witz gegen die drohende Verzweiflung ankämpft. "Selten war in einem deutschen Roman so viel Gegenwart." (Der Spiegel) Helmut Kraussers Roman wurde von Jan Schütte verfilmt. In der Hauptrolle Jürgen Vogel als Hagen Trinker.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.03.2002Helmut Krausser: Fette Welt
1992 - Hagen trinkt und sieht die Bilder einer Generation
Im Sommer 1992 warfen die achtziger Jahre noch ihre tiefen Schatten ins neue Jahrzehnt, schwarz und glänzend wie die glatte Fassade des Hertie-Hochhauses an der Münchner Freiheit, das bald abgerissen werden sollte, hieß es. An dem hatte man sich in der Jugend, wie die Zugvögel, auf dem Weg in vermeintliche Abenteuer orientiert, jetzt schien es wie das Mahnmal einer in Spiegelungen und Symbolen und Simulationen aufgelösten Gegenwart dieser nun erwachsenen Generation.
Das weiß auch Kraussers Held, der Hagen heißt, und stellt gleich eine Metapher zwischen sich und das Hochhaus, schaufelt sich mit wütender Sprache den Weg frei durch die "Light-Gesellschaft", dieses München, das tot und öde sei und gerade deshalb vielleicht der einzige Ort, dem man mit Haltung begegnen könne, Hagen jedenfalls geht rüber zu den Stadtstreichern und trinkt erst mal ein Bier. Diese Romanfigur macht es sich leicht, spielt halb Poet, halb Penner. Ein Pennerroman, der zudem in München angesiedelt ist, jener Stadt, die man sicher am wenigsten mit Pennertum verbindet, dieser letzte Band der Trinker-Trilogie war ein verwegenes Buch, damals, als Authentizität so unwahrscheinlich geworden war, wie im Venezia auf der Leopoldstraße einen Kern in der Cocktailkirsche zu finden. Aber um das sogenannte wahre Leben ging es in diesem Buch ebenso wenig wie um eine Handlung, die einen guten Stoff hergegeben hätte für ein Germanistikseminar. Kurz: Hagen trinkt, verliebt sich, in der Stadt geht ein Serienkiller um, Hagen arbeitet bei einem Bestattungsinstitut, wird ohnmächtig angesichts der ersten Leiche, und doch taucht die Frage auf, ob Hagen und der Mörder eine Person sind. Es gibt romantische Szenen im Schlafsack an der Isar und ein Berlin, das fies ist zu Hagen. Das alles klang sehr erfunden, aber, wie Hagen vielleicht sagen würde, warum sind die Menschen enttäuscht, wo sie doch die Täuschung wollen. Die Kritiker waren interessiert, was vermutlich auch daran lag, daß Krausser selbst angeblich ein Jahr "halbfreiwillig" auf der Straße gelebt hat, davor war er Spieler, Nachtwächter, Zeitungswerber, Opernstatist. Mit gerade 28 Jahren hatte der einen Lebenslauf, als andere so eine Geschichte, die für ein ganzes Leben gereicht hätte, nur aus dem Kino kannten.
Aber ob Krausser wirklich auf der Straße, unter Isarbrücken recherchiert hat, war unerheblich für das Buch - und verschaffte ihm erst seine wahre Größe. Denn Kraussers Figuren und Mythen waren vor allem dazu da, die Nähe oder die Ferne der Literatur zur Welt aufzuheben in einer Sprache, die sich aus dem Fernsehen, dem Wirtshaus, der Oper, der Kindheit, dem Splatterkino, antiker Archaik und aktuellem Dreck speiste, die keinen homogenen Fluß ergab, aber multiple Persönlichkeiten beschrieb. Eine Sprache, die ein neues Jahrzehnt aufscheinen ließ, das warm und intelligent werden sollte. Eine Sprache also, die nicht den Autor und seine Figur in eine Erzählung inhaftierte, sondern in der Erzählung das Ich und die Figur auflöste, bis da nur noch Poesie war, die vielleicht etwas pubertär oder größenwahnsinnig eine andere Realität herbeischrieb, eine Poesie, die einen vor der Welt schützte, ans Herz ging und zugleich manchmal wegstieß wie ein leeres Glas Bier. Krausser fand plastische Bilder für eine Generation und der ihr eigenen Unschärfe, an denen man sich festhalten konnte, als wäre es die eigene Geschichte, die groß und stark waren wie das Hertie-Hochhaus: "Es hat mich immer fasziniert, dieses Gebäude, und das Licht, das sich darin suhlt. Ein Licht wie es im Kaffee schwimmt oder im Ozean bei Dämmerung."
smag
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
1992 - Hagen trinkt und sieht die Bilder einer Generation
Im Sommer 1992 warfen die achtziger Jahre noch ihre tiefen Schatten ins neue Jahrzehnt, schwarz und glänzend wie die glatte Fassade des Hertie-Hochhauses an der Münchner Freiheit, das bald abgerissen werden sollte, hieß es. An dem hatte man sich in der Jugend, wie die Zugvögel, auf dem Weg in vermeintliche Abenteuer orientiert, jetzt schien es wie das Mahnmal einer in Spiegelungen und Symbolen und Simulationen aufgelösten Gegenwart dieser nun erwachsenen Generation.
Das weiß auch Kraussers Held, der Hagen heißt, und stellt gleich eine Metapher zwischen sich und das Hochhaus, schaufelt sich mit wütender Sprache den Weg frei durch die "Light-Gesellschaft", dieses München, das tot und öde sei und gerade deshalb vielleicht der einzige Ort, dem man mit Haltung begegnen könne, Hagen jedenfalls geht rüber zu den Stadtstreichern und trinkt erst mal ein Bier. Diese Romanfigur macht es sich leicht, spielt halb Poet, halb Penner. Ein Pennerroman, der zudem in München angesiedelt ist, jener Stadt, die man sicher am wenigsten mit Pennertum verbindet, dieser letzte Band der Trinker-Trilogie war ein verwegenes Buch, damals, als Authentizität so unwahrscheinlich geworden war, wie im Venezia auf der Leopoldstraße einen Kern in der Cocktailkirsche zu finden. Aber um das sogenannte wahre Leben ging es in diesem Buch ebenso wenig wie um eine Handlung, die einen guten Stoff hergegeben hätte für ein Germanistikseminar. Kurz: Hagen trinkt, verliebt sich, in der Stadt geht ein Serienkiller um, Hagen arbeitet bei einem Bestattungsinstitut, wird ohnmächtig angesichts der ersten Leiche, und doch taucht die Frage auf, ob Hagen und der Mörder eine Person sind. Es gibt romantische Szenen im Schlafsack an der Isar und ein Berlin, das fies ist zu Hagen. Das alles klang sehr erfunden, aber, wie Hagen vielleicht sagen würde, warum sind die Menschen enttäuscht, wo sie doch die Täuschung wollen. Die Kritiker waren interessiert, was vermutlich auch daran lag, daß Krausser selbst angeblich ein Jahr "halbfreiwillig" auf der Straße gelebt hat, davor war er Spieler, Nachtwächter, Zeitungswerber, Opernstatist. Mit gerade 28 Jahren hatte der einen Lebenslauf, als andere so eine Geschichte, die für ein ganzes Leben gereicht hätte, nur aus dem Kino kannten.
Aber ob Krausser wirklich auf der Straße, unter Isarbrücken recherchiert hat, war unerheblich für das Buch - und verschaffte ihm erst seine wahre Größe. Denn Kraussers Figuren und Mythen waren vor allem dazu da, die Nähe oder die Ferne der Literatur zur Welt aufzuheben in einer Sprache, die sich aus dem Fernsehen, dem Wirtshaus, der Oper, der Kindheit, dem Splatterkino, antiker Archaik und aktuellem Dreck speiste, die keinen homogenen Fluß ergab, aber multiple Persönlichkeiten beschrieb. Eine Sprache, die ein neues Jahrzehnt aufscheinen ließ, das warm und intelligent werden sollte. Eine Sprache also, die nicht den Autor und seine Figur in eine Erzählung inhaftierte, sondern in der Erzählung das Ich und die Figur auflöste, bis da nur noch Poesie war, die vielleicht etwas pubertär oder größenwahnsinnig eine andere Realität herbeischrieb, eine Poesie, die einen vor der Welt schützte, ans Herz ging und zugleich manchmal wegstieß wie ein leeres Glas Bier. Krausser fand plastische Bilder für eine Generation und der ihr eigenen Unschärfe, an denen man sich festhalten konnte, als wäre es die eigene Geschichte, die groß und stark waren wie das Hertie-Hochhaus: "Es hat mich immer fasziniert, dieses Gebäude, und das Licht, das sich darin suhlt. Ein Licht wie es im Kaffee schwimmt oder im Ozean bei Dämmerung."
smag
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«Fette Welt», der Pennerroman, ist keine Sozialreportage vom untersten Rand der Gesellschaft und auch kein schwärmerisch romantisches Werk, das die Freiheit und das Abenteuer bei den Verstoßenen und Verlierern suchte. Eher ist es ein Härtetest für die deutsche Sprache, ein schnelles und heftiges Spiel. Der Spiegel