Dieses Buch muss nicht mehr vorgestellt werden: 'Feuchtgebiete' war ein gesellschaftliches Ereignis, das niemanden unberührt ließ, zu dem jeder eine Meinung hatte. Von Bild bis ZEITmagazin wurde es euphorisch besprochen, die Leserschaft durchzog alle Schichten. Ein echter Volksbestseller.Charlotte Roche erkundet hier schonungslos, wie wir mit unseren Tabus umgehen: 'Feuchtgebiete' zeigt einen weiblichen Körper in Nahaufnahme. Mutig, radikal und provokant rebelliert der Roman gegen Hygienehysterie und die sterile Ästhetik der Frauenzeitschriften, gegen den standardisierten Umgang mit dem weiblichen Körper und seiner Sexualität - und erzählt dabei die wunderbar wilde Geschichte einer ebenso genusssüchtigen wie verletzlichen Heldin. Helen Memel liegt auf der Inneren Abteilung von Maria Hilf. Sie wartet auf den Besuch ihrer geschiedenen Eltern, in der irren Hoffnung, die beiden könnten sich am Krankenbett der Tochter endlich versöhnen. Unterdessen nimmt sie jene Bereiche ihres Körpers unter die Lupe, die gewöhnlich als unmädchenhaft gelten, und lässt Krankenpfleger Robin die Stellen fotografieren, die sich ihrem neugierigen Blick entziehen. Nebenher pflegt sie ihre Sammlung von Avocadokernen, die ihr auch in sexueller Hinsicht wertvolle Dienste leisten. Selbst wenn Helens Besessenheit eine Notoperation nötig werden lässt - ihr ungestümer Witz und ihre Wahrhaftigkeit machen sie zu einer Sensation nicht nur auf der Station des Krankenhauses. Denn sie spricht aus, was andere nicht einmal zu denken wagen.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Lothar Müller gibt sich Mühe zu verstehen, was Charlotte Roches Buch "Feuchtgebiete" so erfolgreich macht, dass es selbst im internationalen Buchhandel Spitzenplätze belegt, und zwar in der deutschen Version. Um es gleich zu verraten: Einleuchten wird ihm das Ganze nicht, dafür wiegen die Minus-Punkte zu schwer: die abgedroschene Geschichte vom Scheidungspunkt, das seine Eltern wieder zusammenbringen will, die schlichte Prosa, das immergleiche Geplappere, das seinen Witz aus der vermeintlichen Nüchternheit bezieht, mit der hier die Intimbereiche, Ausscheidungen und Flüssigkeiten des weiblichen Körpers erkundet werden. Immerhin muss Müller zugeben gelacht zu haben, halb aus "peinlicher Berührtheit", halb aus "Genuss an der polemischen Energie", mit der Roche hier dem schmutzigen Körper zu einem großem, wenn auch "überkandidelten Comedy-Auftritt" verhilft. Denn wenn er dem Buch und seiner "Propaganda für das Ungewaschensein" etwas positiv anrechnet, dann seine Opposition gegen die Heidi-Klum-Welt der "reinen, schönen Körperoberfläche".
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 16.04.2008Das neue Parfüm
Comedy total: Charlotte Roche und ihre „Feuchtgebiete”
In den Jahren 2005 und 2006 tourte die Fernsehmoderatorin Charlotte Roche, deren Musiksendung „Fast Forward” vom Sender VIVA Ende 2004 abgesetzt worden war, unter wechselnder Begleitung männlicher Schauspieler durchs Land. Ihr war, darf man vermuten, als PDF-Datei im Internet (denn die gibt es) eine Dissertation der Urologischen Poliklinik rechts der Isar der Technischen Universität München aus dem Jahr 1978 in die Hände gefallen. Charlotte Roche collagierte aus dieser Dissertation einen Text, mit dem sie Heiterkeitserfolge erzielte, denen – zumal im männlichen Publikum – ein mehr oder weniger leichter Hauch von Unwohlsein beigemischt war.
Die Dissertation trug den Titel „Penisverletzungen bei Masturbation mit Staubsaugern” und berichtete über 16 Fälle aus den Jahren 1966 bis 1972, in denen Männern verschiedenen Alters der „Kobold”-Staubsauger der Firma Vorwerk & Co. zum Verhängnis geworden war: „Wie die eingehende Exploration einiger Patienten ergeben hat, führen die Patienten den nicht erigierten Penis in den Ansaugstutzen ein (in erigiertem Zustand ist dies nicht möglich). Durch den Luftstrom wird der Penis in Vibration versetzt und erigiert. Mit zunehmender Erektion wird der Sog stärker, und schließlich wird der ganze Staubsauger an den Unterleib gepresst und der Penis völlig in den Ansaugstutzen gezogen. In diesem Augenblick kommt er mit dem rotierenden Propeller in Berührung und wird, je nach Motorisierung und Schnelligkeit des Abwehrreflexes, der Länge und dem Erektionszustand unterschiedlich traumatisiert.”
Lob des schmutzigen Körpers
Für die Traumatisierung und die Ausmaße der unfreiwilligen Selbstverstümmelungen bringt die Dissertation eindrucksvolle Belege. Charlotte Roche aber hatte für ihren Leseabend etwas anderes im Auge: das komische Potential der Nüchternheit und Präzision, die wissenschaftliche Beschreibungsprosa auch im Blick auf groteske Verwundungen aufzubringen vermag. Und das komische Potential der Erklärungen, die die Patienten, um ihre Verletzungen plausibel zu machen, den Ärzten vortrugen.
Ihre Idee war einfach, aber doppelt gestrickt: Zum einen lebte das Rezitationsprogramm von der Ausdehnung des im deutschen Fernsehen altehrwürdigen Formats „Pleiten, Pech und Pannen” auf das Feld der Sexunfälle. Zum anderen machte es sich eine Technik zunutze, die etwa Harald Schmidt in seiner Late Night Show immer wieder erfolgreich angewandt hatte, wenn er per Zitat scheinbar weit entfernte Kultursphären miteinander verkuppelte, also etwa Kants Begriffsarchitektur in der „Kritik der reinen Vernunft” nachbaute oder klassische Dramen mit Playmobil-Figuren nachspielte.
In diesem Frühjahr macht Charlotte Roche mit dem zur Leipziger Buchmesse erschienenen Roman „Feuchtgebiete” (DuMont Buchverlag, Köln 2008. 220 Seiten, 14,90 Euro) Furore. Innerhalb von vier Wochen sind 400 000 Exemplare verkauft worden, auf der Spiegel-Bestsellerliste belegt das Buch in der Rubrik Belletristik den ersten Platz. Selbst im internationalen Internethandel belegt es, obwohl bisher noch nicht in andere Sprachen übersetzt, beim Anbieter Amazon in mehreren Ländern den Spitzenplatz. Im deutschen Fernsehen gibt es kaum eine Talkshow, in der sie nicht schon zu Gast war. Und weil hier eine versierte und vielfach ausgezeichnete Fernsehmoderatorin einen Bestseller gelandet hat, liegt die Versuchung nahe, den Erfolg des Buches vor allem der Medienpräsenz der Autorin zuzuschreiben – und dem Prinzip „Sex sells”.
Denn der Titel „Feuchtgebiete” des knallig tiefrosa gewandeten Buches spielt zwar auch mit der Assoziation an den tropischen Regenwald, verspricht aber vor allem die Erkundung der Feuchtgebiete, Ausscheidungen und Flüssigkeiten des weiblichen Körpers. Aber der Roman, der aus dieser Feier des Feuchten erwächst, hat mit Büchern wie „Das Delta der Venus”, in denen einst Anaïs Nin das Über-die-Ufer-Treten der weiblichen Sexualität beschwor, wenig zu tun. Denn Charlotte Roche hat für den Plot ihres Romans das Comedy-Prinzip ihres Rezitationsabends über die Männer und den Staubsauger „Kobold” beibehalten. Ihre Heldin, die 18-jährige Schülerin Helen Memel, ist mit den „Pleiten, Pech und Pannen”-Helden aus der Welt der Sexunfälle verwandt. Sie leidet von Kindheit an unter Hämorrhoiden und liegt im Krankenhaus, weil sie sich bei der Intimrasur im Analbereich selbst verletzt hat.
Aber sie ist mit ihrer Wunde und in ihrem Krankenhausbett nicht die Dumme und wird auch nicht in eine Parodie wissenschaftlicher Prosa verpackt. Anders als die verschämten Männer in der Staubsauger-Rezitation ist die junge Ich-Erzählerin des Romans ein gänzlich schamloses Plappermaul. Mit den Staubsauger-Vertretern hat sie allenfalls die Grundgesetze der Werbesprache, die Rhetorik des Anpreisens gemein. Denn sie hat eine Botschaft. Und diese Botschaft heißt: Nichts geht über Analsex, und nichts ist bekämpfenswerter als der Terror der „Hygienefanatiker”. Von der Comedy-Welt übernimmt das schamlose Plappermaul die Neigung zu Anekdote, Sketch, Kalauer und Pointe und als deren ideales Biotop die Krankenhauswelt, in der sich alles um den Körper dreht.
Doch mit ihrer Botschaft ist es der Heldin bitter ernst. Auf dem Umschlag des Buches steht: „Hygiene wird bei mir kleingeschrieben.”Und im Buch nimmt der Aufstand gegen die Konventionen der Hygiene im Intimbereich das einschmeichelnde Genre der Ratgeber-Literatur in seinen Dienst. In dem kennerschaftlichen Ton, in dem sich früher Hausfrauen Geheimrezepte beim Einkochen von Äpfeln zugeflüstert haben mögen, gibt hier die junge Heldin Tipps für die möglichst effektive Konservierung des Eigengeruchs der Geschlechts- und Ausscheidungsorgane.
Über nichts jauchzt sie mehr, als wenn es ihr gelingt, dem Kampf der Mitmenschen – sie ist im Krankenhaus – und zumal der eigenen Mutter gegen Schmutz und Ansteckungsgefahren ein Schnippchen zu schlagen und mittels der eigenen Ausscheidungen möglichst viele Bakterien durch die Umwelt zirkulieren zu lassen. Schon dass man sich überhaupt wäscht, fällt bei ihr unter die Rubrik Waschzwang. Helen Memel, nicht eben subtil nach dem Urbild irdischer weiblicher Schönheit benannt, ist als lustvoll sich selbst feierndes Monstrum konstruiert, das alle Schwellen des Ekels und der Peinlichkeit übertritt, die als Errungenschaften im Prozess der Zivilisation gelten. Und die Schöpferin dieses Monstrums – feiert einen der größten Verkaufserfolge in der jüngeren Geschichte des deutschen Buchmarktes.
Es gab schon einmal ein auf Gerüche spezialisiertes Monstrum in der deutschen Bestsellerwelt: Jean-Baptist Grenouille, den Helden in Patrick Süskinds 1985 erschienenem Roman „Das Parfüm”. Grenouille erschien seiner Amme als Teufelskind, weil er ihr als geruchslos erschien. Umso ausgeprägter war dann später seine feine Nase. Kein Mädchenduft entging ihr, und kein duftendes Mädchen entging Grenouille, wenn er auf der Suche nach dem Stoff für die Schaffung eines neuen Parfüms war.
Grenouille vernichtete die Körper der Mädchen, um ihren Duft seinen Essenzen zuzuführen. Er war als Allegorie des Genies und Schöpfer des vollkommenen Kunstwerks, das aus der Zerstörung der Natur erwächst, ebenfalls ein nicht sehr subtil konstruiertes Monster. Aber er besaß einen großen Vorzug: Er verknüpfte die Hohlform des Künstlerromans mit einer ungeheuren Aufwertung des traditionell niedersten aller Sinne, des Geruchssinns. Auch darum kam er als ein Bastard, der nach seiner Geburt aus stinkenden Fischköpfen hervorgezogen wurde, in die feine Welt seiner Kunden.
Charlotte Roche hat ihrem Anti-Parfüm-Roman, der den Eigengeruch des Körpers und die darin enthaltene sexuelle Attraktion als das beste Parfüm feiert, eine melodramatische Maske übergeworfen. Die junge Helen ist ein Scheidungskind, das partout ihre Eltern wieder zusammenbringen will, und zwar im Krankenhaus, in Sorge um die gemeinsame Tochter vereint und versöhnt. Darum muss sie mit derb-drastischen Mitteln ihre Wunde möglichst lange offenlassen: Ihre Selbstverstümmelung ist aus der Sehnsucht des Scheidungskindes nach der heilen Familie geboren.
Wenn irgendwo das Erfolgsgeheimnis dieses anti-hygienischen Romans liegt, dann gewiss nicht in diesem Familienmelodram, an dessen Ende das Happy End der Tochter mit dem verständnisvollen Pfleger Robin steht. Denn man muss dem Plappermaul dieses Scheidungskindes nicht lange zuhören, um zu begreifen: Es leidet in Wahrheit nicht an seinen Eltern. Es leidet an Heidi Klum. Es ist von seiner dreißigjährigen Autorin eigens als obszöne 18-Jährige erfunden worden, um den Mädchen, die nach Castingshows wie „Deutschland sucht das Supermodel” anstehen, eine möglichst rabiate Gegenfigur anzubieten.
Das unhygienische Monstrum
Das Comedy-Format der Bekenntnisse eines unhygienischen Monstrums hat deshalb mit der Literatur der sexuellen Entgrenzung und Verausgabung, mit der Anbetung des Eros von de Sade bis George Bataille wenig zu tun. Nur beiläufig, wie ein müde-gelangweilter Barpianist, klimpert Charlotte Roche, wenn ihre Heldin gegen die scheinheilige Mutter und die Kruzifixe im katholischen Krankenhaus wettert, auf der Klaviatur der Blasphemie. Und literarischen Glanz strahlt die schlichte, neckische Prosa dieses Romans schon gar nicht aus. Dafür umso mehr polemische Energie gegen die Heidi-Klum-Welt, gegen die reine, schöne Körperoberfläche. Zu allem gibt es bei Charlotte Roche das monströse Gegenstück: zu den langen Wimpern, zum Kult des Kopfhaars in der Werbefotografie, zur weiblichen Rasur der Achseln, zu den kalkulierten Effekten der Ausstellung des eigenen Körpers.
Es mag sein, dass zum Erfolg dieses Buches auch sein Kokettieren mit den marktgängigen Sexratgebern beiträgt. Aber wie man als Frau am besten mit Duschköpfen masturbieren kann, ließe sich wahrscheinlich notfalls auch anderswo erfahren. Und womöglich findet die grob-radikale Propaganda für das Ungewaschensein weniger Nachahmerinnen, als die kulturkritische Sorge befürchten mag. Sie ist im Übrigen eher notdürftig in einen Ich-auch-Feminismus eingebettet, der die traditionell männliche Domäne zwischen laxer Hygiene und forcierter Unsauberkeit erobern will.
Das Lachen über den Anti-Parfüm-Roman, zumal wenn die Autorin ihn in einer ihrer Lesungen vorstellt, ist halb peinliches Berührtsein, halb Genuss an der polemischen Energie. Der Druck der Heidi-Klum-Welt muss schon sehr stark sein, wenn ihm ein solch überkandidelter Comedy-Auftritt des schmutzigen Körpers so erfolgreich als Polemik gegenübertritt. LOTHAR MÜLLER
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Comedy total: Charlotte Roche und ihre „Feuchtgebiete”
In den Jahren 2005 und 2006 tourte die Fernsehmoderatorin Charlotte Roche, deren Musiksendung „Fast Forward” vom Sender VIVA Ende 2004 abgesetzt worden war, unter wechselnder Begleitung männlicher Schauspieler durchs Land. Ihr war, darf man vermuten, als PDF-Datei im Internet (denn die gibt es) eine Dissertation der Urologischen Poliklinik rechts der Isar der Technischen Universität München aus dem Jahr 1978 in die Hände gefallen. Charlotte Roche collagierte aus dieser Dissertation einen Text, mit dem sie Heiterkeitserfolge erzielte, denen – zumal im männlichen Publikum – ein mehr oder weniger leichter Hauch von Unwohlsein beigemischt war.
Die Dissertation trug den Titel „Penisverletzungen bei Masturbation mit Staubsaugern” und berichtete über 16 Fälle aus den Jahren 1966 bis 1972, in denen Männern verschiedenen Alters der „Kobold”-Staubsauger der Firma Vorwerk & Co. zum Verhängnis geworden war: „Wie die eingehende Exploration einiger Patienten ergeben hat, führen die Patienten den nicht erigierten Penis in den Ansaugstutzen ein (in erigiertem Zustand ist dies nicht möglich). Durch den Luftstrom wird der Penis in Vibration versetzt und erigiert. Mit zunehmender Erektion wird der Sog stärker, und schließlich wird der ganze Staubsauger an den Unterleib gepresst und der Penis völlig in den Ansaugstutzen gezogen. In diesem Augenblick kommt er mit dem rotierenden Propeller in Berührung und wird, je nach Motorisierung und Schnelligkeit des Abwehrreflexes, der Länge und dem Erektionszustand unterschiedlich traumatisiert.”
Lob des schmutzigen Körpers
Für die Traumatisierung und die Ausmaße der unfreiwilligen Selbstverstümmelungen bringt die Dissertation eindrucksvolle Belege. Charlotte Roche aber hatte für ihren Leseabend etwas anderes im Auge: das komische Potential der Nüchternheit und Präzision, die wissenschaftliche Beschreibungsprosa auch im Blick auf groteske Verwundungen aufzubringen vermag. Und das komische Potential der Erklärungen, die die Patienten, um ihre Verletzungen plausibel zu machen, den Ärzten vortrugen.
Ihre Idee war einfach, aber doppelt gestrickt: Zum einen lebte das Rezitationsprogramm von der Ausdehnung des im deutschen Fernsehen altehrwürdigen Formats „Pleiten, Pech und Pannen” auf das Feld der Sexunfälle. Zum anderen machte es sich eine Technik zunutze, die etwa Harald Schmidt in seiner Late Night Show immer wieder erfolgreich angewandt hatte, wenn er per Zitat scheinbar weit entfernte Kultursphären miteinander verkuppelte, also etwa Kants Begriffsarchitektur in der „Kritik der reinen Vernunft” nachbaute oder klassische Dramen mit Playmobil-Figuren nachspielte.
In diesem Frühjahr macht Charlotte Roche mit dem zur Leipziger Buchmesse erschienenen Roman „Feuchtgebiete” (DuMont Buchverlag, Köln 2008. 220 Seiten, 14,90 Euro) Furore. Innerhalb von vier Wochen sind 400 000 Exemplare verkauft worden, auf der Spiegel-Bestsellerliste belegt das Buch in der Rubrik Belletristik den ersten Platz. Selbst im internationalen Internethandel belegt es, obwohl bisher noch nicht in andere Sprachen übersetzt, beim Anbieter Amazon in mehreren Ländern den Spitzenplatz. Im deutschen Fernsehen gibt es kaum eine Talkshow, in der sie nicht schon zu Gast war. Und weil hier eine versierte und vielfach ausgezeichnete Fernsehmoderatorin einen Bestseller gelandet hat, liegt die Versuchung nahe, den Erfolg des Buches vor allem der Medienpräsenz der Autorin zuzuschreiben – und dem Prinzip „Sex sells”.
Denn der Titel „Feuchtgebiete” des knallig tiefrosa gewandeten Buches spielt zwar auch mit der Assoziation an den tropischen Regenwald, verspricht aber vor allem die Erkundung der Feuchtgebiete, Ausscheidungen und Flüssigkeiten des weiblichen Körpers. Aber der Roman, der aus dieser Feier des Feuchten erwächst, hat mit Büchern wie „Das Delta der Venus”, in denen einst Anaïs Nin das Über-die-Ufer-Treten der weiblichen Sexualität beschwor, wenig zu tun. Denn Charlotte Roche hat für den Plot ihres Romans das Comedy-Prinzip ihres Rezitationsabends über die Männer und den Staubsauger „Kobold” beibehalten. Ihre Heldin, die 18-jährige Schülerin Helen Memel, ist mit den „Pleiten, Pech und Pannen”-Helden aus der Welt der Sexunfälle verwandt. Sie leidet von Kindheit an unter Hämorrhoiden und liegt im Krankenhaus, weil sie sich bei der Intimrasur im Analbereich selbst verletzt hat.
Aber sie ist mit ihrer Wunde und in ihrem Krankenhausbett nicht die Dumme und wird auch nicht in eine Parodie wissenschaftlicher Prosa verpackt. Anders als die verschämten Männer in der Staubsauger-Rezitation ist die junge Ich-Erzählerin des Romans ein gänzlich schamloses Plappermaul. Mit den Staubsauger-Vertretern hat sie allenfalls die Grundgesetze der Werbesprache, die Rhetorik des Anpreisens gemein. Denn sie hat eine Botschaft. Und diese Botschaft heißt: Nichts geht über Analsex, und nichts ist bekämpfenswerter als der Terror der „Hygienefanatiker”. Von der Comedy-Welt übernimmt das schamlose Plappermaul die Neigung zu Anekdote, Sketch, Kalauer und Pointe und als deren ideales Biotop die Krankenhauswelt, in der sich alles um den Körper dreht.
Doch mit ihrer Botschaft ist es der Heldin bitter ernst. Auf dem Umschlag des Buches steht: „Hygiene wird bei mir kleingeschrieben.”Und im Buch nimmt der Aufstand gegen die Konventionen der Hygiene im Intimbereich das einschmeichelnde Genre der Ratgeber-Literatur in seinen Dienst. In dem kennerschaftlichen Ton, in dem sich früher Hausfrauen Geheimrezepte beim Einkochen von Äpfeln zugeflüstert haben mögen, gibt hier die junge Heldin Tipps für die möglichst effektive Konservierung des Eigengeruchs der Geschlechts- und Ausscheidungsorgane.
Über nichts jauchzt sie mehr, als wenn es ihr gelingt, dem Kampf der Mitmenschen – sie ist im Krankenhaus – und zumal der eigenen Mutter gegen Schmutz und Ansteckungsgefahren ein Schnippchen zu schlagen und mittels der eigenen Ausscheidungen möglichst viele Bakterien durch die Umwelt zirkulieren zu lassen. Schon dass man sich überhaupt wäscht, fällt bei ihr unter die Rubrik Waschzwang. Helen Memel, nicht eben subtil nach dem Urbild irdischer weiblicher Schönheit benannt, ist als lustvoll sich selbst feierndes Monstrum konstruiert, das alle Schwellen des Ekels und der Peinlichkeit übertritt, die als Errungenschaften im Prozess der Zivilisation gelten. Und die Schöpferin dieses Monstrums – feiert einen der größten Verkaufserfolge in der jüngeren Geschichte des deutschen Buchmarktes.
Es gab schon einmal ein auf Gerüche spezialisiertes Monstrum in der deutschen Bestsellerwelt: Jean-Baptist Grenouille, den Helden in Patrick Süskinds 1985 erschienenem Roman „Das Parfüm”. Grenouille erschien seiner Amme als Teufelskind, weil er ihr als geruchslos erschien. Umso ausgeprägter war dann später seine feine Nase. Kein Mädchenduft entging ihr, und kein duftendes Mädchen entging Grenouille, wenn er auf der Suche nach dem Stoff für die Schaffung eines neuen Parfüms war.
Grenouille vernichtete die Körper der Mädchen, um ihren Duft seinen Essenzen zuzuführen. Er war als Allegorie des Genies und Schöpfer des vollkommenen Kunstwerks, das aus der Zerstörung der Natur erwächst, ebenfalls ein nicht sehr subtil konstruiertes Monster. Aber er besaß einen großen Vorzug: Er verknüpfte die Hohlform des Künstlerromans mit einer ungeheuren Aufwertung des traditionell niedersten aller Sinne, des Geruchssinns. Auch darum kam er als ein Bastard, der nach seiner Geburt aus stinkenden Fischköpfen hervorgezogen wurde, in die feine Welt seiner Kunden.
Charlotte Roche hat ihrem Anti-Parfüm-Roman, der den Eigengeruch des Körpers und die darin enthaltene sexuelle Attraktion als das beste Parfüm feiert, eine melodramatische Maske übergeworfen. Die junge Helen ist ein Scheidungskind, das partout ihre Eltern wieder zusammenbringen will, und zwar im Krankenhaus, in Sorge um die gemeinsame Tochter vereint und versöhnt. Darum muss sie mit derb-drastischen Mitteln ihre Wunde möglichst lange offenlassen: Ihre Selbstverstümmelung ist aus der Sehnsucht des Scheidungskindes nach der heilen Familie geboren.
Wenn irgendwo das Erfolgsgeheimnis dieses anti-hygienischen Romans liegt, dann gewiss nicht in diesem Familienmelodram, an dessen Ende das Happy End der Tochter mit dem verständnisvollen Pfleger Robin steht. Denn man muss dem Plappermaul dieses Scheidungskindes nicht lange zuhören, um zu begreifen: Es leidet in Wahrheit nicht an seinen Eltern. Es leidet an Heidi Klum. Es ist von seiner dreißigjährigen Autorin eigens als obszöne 18-Jährige erfunden worden, um den Mädchen, die nach Castingshows wie „Deutschland sucht das Supermodel” anstehen, eine möglichst rabiate Gegenfigur anzubieten.
Das unhygienische Monstrum
Das Comedy-Format der Bekenntnisse eines unhygienischen Monstrums hat deshalb mit der Literatur der sexuellen Entgrenzung und Verausgabung, mit der Anbetung des Eros von de Sade bis George Bataille wenig zu tun. Nur beiläufig, wie ein müde-gelangweilter Barpianist, klimpert Charlotte Roche, wenn ihre Heldin gegen die scheinheilige Mutter und die Kruzifixe im katholischen Krankenhaus wettert, auf der Klaviatur der Blasphemie. Und literarischen Glanz strahlt die schlichte, neckische Prosa dieses Romans schon gar nicht aus. Dafür umso mehr polemische Energie gegen die Heidi-Klum-Welt, gegen die reine, schöne Körperoberfläche. Zu allem gibt es bei Charlotte Roche das monströse Gegenstück: zu den langen Wimpern, zum Kult des Kopfhaars in der Werbefotografie, zur weiblichen Rasur der Achseln, zu den kalkulierten Effekten der Ausstellung des eigenen Körpers.
Es mag sein, dass zum Erfolg dieses Buches auch sein Kokettieren mit den marktgängigen Sexratgebern beiträgt. Aber wie man als Frau am besten mit Duschköpfen masturbieren kann, ließe sich wahrscheinlich notfalls auch anderswo erfahren. Und womöglich findet die grob-radikale Propaganda für das Ungewaschensein weniger Nachahmerinnen, als die kulturkritische Sorge befürchten mag. Sie ist im Übrigen eher notdürftig in einen Ich-auch-Feminismus eingebettet, der die traditionell männliche Domäne zwischen laxer Hygiene und forcierter Unsauberkeit erobern will.
Das Lachen über den Anti-Parfüm-Roman, zumal wenn die Autorin ihn in einer ihrer Lesungen vorstellt, ist halb peinliches Berührtsein, halb Genuss an der polemischen Energie. Der Druck der Heidi-Klum-Welt muss schon sehr stark sein, wenn ihm ein solch überkandidelter Comedy-Auftritt des schmutzigen Körpers so erfolgreich als Polemik gegenübertritt. LOTHAR MÜLLER
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Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.04.2008Sexualität ist Wahrheit
Mehr als 400 000 verkaufte Bücher in vier Wochen: Was bedeutet der Erfolg von Charlotte Roches Roman "Feuchtgebiete"?
Mit ihrem ersten Roman hat die Fernsehmoderatorin Charlotte Roche dem Fräuleinwunder in der deutschen Zeitgeistliteratur abrupt ein Ende gemacht. Ob ihm die "Schlacht der Krawall-Uschis" folgt, wie die Berliner "BZ" ihre Besprechung von "Feuchtgebiete" übertitelte, ist zu bezweifeln. Bei seinem Erscheinen vor sechs Wochen wurde das Buch in den Medien kurz und heftig abgefeiert und dann vergessen. Die meisten Rezensenten urteilten reflexhaft und ließen sich von der schwer einzuordnenden Art der Obszönität, mit der die Autorin spielt, zu polemischen Tönen hinreißen. Erst bei der Beurteilung griff man auf literarische Kriterien zurück: Das geradezu romantische Happy End des Romans schien seine Radikalität zu entschärfen und lieferte einen Vorwand, der Autorin eine effekthascherische Konstruktion vorzuwerfen, die am Ende nicht aufgeht. Die sensationellen Verkaufszahlen belegen jedoch, dass Charlotte Roche einen Nerv getroffen hat, der sich so schnell nicht wieder beruhigen lässt. Denn ihr Roman über eine junge Frau namens Helen, die eine Hämorrhoidenoperation ins Krankenhaus führt, bleibt gerade durch seine Widersprüchlichkeit eine Irritation, die in ihren moralischen Implikationen weit über den Schock der systematischen Tabuverletzung hinausgeht. Ungefragt werden wir von Roche in die Position des Klinikpersonals versetzt, dem nichts Menschliches fremd ist, und hören alarmiert einer Patientin zu, die sich weigert, mit ihrer Intimsphäre auch ihr Selbstbewusstsein aufzugeben. Während Helen uns mit einer Direktheit, die Matthias Grünewald und Lucian Freud erröten lassen würde, über ihre gequälten Körperregionen informiert und dabei ganz unklinisch von "wolkenförmigen Hautlappen", "Muschiflora", "Hahnenkämmen" und ihrem "Perlenrüssel" spricht, ertrotzt sie sich eine Würde, die sonst denen vorbehalten bleibt, die das Pech nicht bäuchlings, ohne Decke und mit offenem OP-Hemd in ein viel frequentiertes Krankenhauszimmer verschlägt. Um Würde müssen plötzlich die Zuschauer kämpfen, die der sprachlichen Verarbeitung dessen, was sie täglich sehen, nicht gewachsen sind.
Weil sie die Operation nicht defätistisch hinnimmt, sondern wie ein um den Schleier der Natur unbesorgter Naturwissenschaftler allen Aspekten ihrer Erkrankung auf den Grund geht, löst es kaum noch Überraschung aus, dass sie von der Rosettenzone ihrer Hämorrhoiden umstandslos zu den weiblichen Geschlechtsorganen übergeht, die nun einmal in der Nähe liegen. Trotzdem ist diese Gratwanderung eine Sensation, denn sie springt von den Bereichen des Schmerzes zu denen der Lust, als wäre das in höherem Sinne alles eins.
So erfahren wir, dass Helen auch im Sexleben die Forscherbrille aufhat, den individuellen Vorlieben und Perversionen ihrer Partner nachgeht und mit den eigenen experimentiert. Damit hat Charlotte Roche sich das Etikett des Pornographischen eingehandelt. Dabei ist die Lust gar nicht der Nenner, auf den sich Helens Neugier reduzieren lässt. Vielmehr bewegt sie sich sicher jenseits jenes Lustprinzips, das Sigmund Freud nach dem Ersten Weltkrieg revidieren musste. Die Angstträume von Kriegsheimkehrern hatten seine Erkenntnisse über den Traum als verhüllter Wunscherfüllung ins Wanken gebracht. Freud zog sich aus der Affäre, indem er es als Lusterlebnis deutete, von Ereignissen zu träumen, die den Träumer im Schützengraben traumatisch überfallen hatten. In der nachträglichen Simulation konnte er jene Angst vor dem Entsetzlichen aufbauen, zu der es ihm ursprünglich keine Zeit ließ. Denn nur ein vorhergesehenes Übel, so Freud, erlaubt es dem Individuum, sich innerlich dafür zu rüsten. Ohne solche Abwehrkräfte geht der Schock an die Substanz.
Für Helen war die Trennung ihrer Eltern so ein traumatisches Erlebnis. Sie quittiert es mit der bitteren Bemerkung: "Nur zu bleiben, solange die Liebe noch da ist, reicht nicht, wenn man Kinder hat." Dass Helen sich sterilisieren ließ, wie wir beiläufig erfahren, geht mit diesem Satz eine Heisenbergsche Unschärferelation ein, die nur zwei einander ausschließende Deutungen zulässt. Entweder Roches Heldin ist naturnahe Erotomanin, die alles den Körper Betreffende wie ein großes Abenteuer angeht und die Sabotagen der Hygieneindustrie verachtet, aber bei der Sterilisation eine Ausnahme macht, weil sie bei ihren Eskapaden durch keine Schwangerschaft ins Stolpern kommen will. Oder sie ist ein gebranntes Scheidungskind, das im Dschungel zeitgenössischer Sexbesessenheit nach Liebe und einer Treue sucht, der sie den Härtetest der Familiengründung nicht mehr zutraut. Furcht vor den Strapazen einer Geburt wird kaum der Grund für die Sterilisation sein. Denn in der Hoffnung, ihre Eltern durch einen verlängerten Klinikaufenthalt doch noch zusammenzuführen, fügt Helen sich bedenkenlos eine schreckliche Verletzung zu. Das Thema Geburt lässt andere Warnlichter aufleuchten: In der Kindheit wurde sie heimliche Zeugin eines Gesprächs, in dem ihr Vater einem Freund davon berichtete, "wie schlimm es für ihn war, bei meiner Geburt zugucken zu müssen". So wie Helen bei der Begutachtung ihrer OP-Wunde malt auch ihr Vater alle Details der ihn überfordernden Szene inbrünstig aus. Der Freund flüchtet sich in Gelächter: Denn "über das, wovor man am meisten Angst hat", so Helen, "lacht man immer am lautesten". Es bleibt in der Schwebe, ob Helen die eigene Geburt für die Trennung der Eltern verantwortlich macht. Klar ist auf alle Fälle, dass Charlotte Roche das Lachen für eine noch bessere Traumaprophylaxe hält als den Albtraum. Ihr satirischer Roman setzt sich beherzt dafür ein, dass die Beziehungen zwischen Mann und Frau nicht noch einmal an unzureichender Aufklärung scheitern. So macht sich ihre Heldin systematisch mit allen Eventualitäten des Liebeslebens vertraut. Ihr Verhalten ist ein einziges Antiprogramm zum Treuephantasma, ein Abwehrzauber und eine Flucht nach vorn, die jeder möglichen neuen Verletzung zuvorkommen möchte. "Eine Art sexuelle Überforderung von sich selber", nannte Roche das in einem Interview: "Die will sich stählen für irgendwelche Ernstfälle."
Zur Errichtung dieses Frühwarnsystems macht sich Helen systematisch mit der Grauzone des männlichen Sexuallebens vertraut. Sie besucht Bordelle, wo sie Prostituierte auswählt und mit ihnen ins Bett geht, phantasiert von pubertären Spermaorgien auf Pizzadienstlieferungen und beschäftigt sich ausführlich mit dem Onanieren. Doch so wie die überdrehten und aufs Technische abhebenden Onanieszenen ohne stimulierende Phantasmen, Bildvorlagen und ideale Partner auskommen, bleiben auch die Bordellszenen schemenhaft und konstruiert. Im "Playboy" äußerte sich die Autorin positiv zur Pornographie. Doch im "Spiegel"-Gespräch gestand sie: "Das Pin-up, das ich auf einem C&A-Plakat sehe, wenn ich mein Kind zum Kindergarten fahre, das stört mich auch." Roche begründet ihre Aversion damit, dass der in der Öffentlichkeit ad nauseam propagierte Sex "langweiliger, flacher, spießiger und unaufregender" sei als die Wirklichkeit: "Ich bin für mehr Sex - mehr Schweinereien, keine Tabus. Ich glaube, dass es vom echten Sex, dem Sex, der riecht und schmeckt und schmutzige Geräusche macht, nie genug geben kann." Die Differenz, die Charlotte Roche mit dem C&A-Plakat aufmacht, ist keine zwischen Sex und Sex, sondern eine zwischen Sex und idealisierten Sexobjekten, die unaufgeregt im Sinne des von Freud definierten weiblichen Narzissmus und "flach" im Sinne des geschlossenen, wenn auch weitgehend nackten Körpers sind. Sie sind Charlotte Roche ein Dorn im Auge, während sie das pornographische Spektakel aufgelöster Leiber begrüßt. Insofern ist "Feuchtgebiete" auch ein Pamphlet gegen die Pin-up-Kultur der lückenlos Attraktiven und die Zumutung, die sie für wirkliche Frauen bedeutet. "Was diese Frauen aber nicht wissen", so Helen über die Blondierungs-, Maniküre-, Peeling- und Intimwaschkünstlerinnen, die eine solche Kultur hervorbringt: "Je mehr sie sich um all diese kleinen Stellen kümmern, desto unbeweglicher werden sie. Ihre Haltung wird steif und unsexy, weil sie sich ihre ganze Arbeit nicht kaputtmachen wollen."
Vielleicht, um nicht in unerwünschte Nachbarschaft zu geraten, spart die Helen in den Mund gelegte Hygieneliste die Martyrien aus, denen sich all die unterwerfen, die kein klassischen Proportionen gehorchendes Gesicht und einen achtzehnjährigen Modelkörper besitzen. Schönheitsoperationen, teure Spa-Aufenthalte und Hungerkuren haben hier bekanntlich ein weites Feld. Dabei weiß Charlotte Roche, dass "Feuchtgebiete" gerade auch diese Bastion in Angriff nimmt und mit der proklamierten Rückkehr zu den fünf Sinnen in der öffentlichen Sexverhandlung an der Diktatur der Optik rüttelt. Der Eros, den sie beschwört, sendet nicht nur Gerüche aus, erlaubt sich Tuchfühlung und durchdringende Blicke, er macht auch den Mund auf. Helens schamlose Reden wirken auf ihren Pfleger Robin anziehend.
"Feuchtgebiete" ist auch ein Crash-Kurs in Sachen Verführung, und das macht den Roman vielleicht am deutlichsten zum Hybrid des Feminismus. Eckhard Fuhr wies in der "Welt" darauf hin, dass Charlotte Roche einen Faden aufnimmt, den der Feminismus vor dreißig Jahren fallen ließ. Vielleicht sollte man eher von einer aufgefischten Fahrradkette sprechen, denn Helen steht auf die Schmerzlust der Piercings. Wo aber Punk und Emanze sich treffen, da geht es um die Verachtung der aufgebrezelten Frau: "Was ihre physische Erscheinung betrifft, leiden Frauen unter Gehirnwäsche", schrieb Germaine Greer 1971: "Ihre Haltung dem eigenen Körper gegenüber ist oft apologetisch, denn sie vergleichen ihn mit dem plastischen Objekt des Begehrens, das durch die Medien verbreitet wird." Greers Diagnose löste unter politisch denkenden Frauen eine Welle demonstrativer Entspannung aus. Ohne Rücksicht auf Attraktivitätswerte warfen sie ihr Make-up in den Abfall, zogen bequeme Gummisohlenschuhe, Beutelhosen und lagenreiche Kleider an und wurden prompt als "Möchtegern-Kräuterhexen" abgestempelt. Bis heute leidet die weibliche Emanzipationsbewegung am Image, das damals geboren wurde, einem Frauenbild, das islamischen Verhüllungsgepflogenheiten in mancher Hinsicht näher ist als der Barbiewelt von Mattel. Der Frauenkörper löste sich unter Stoffschichten auf und verquoll auf schweren Schritten mit der Umwelt. Damit aktivierte er eine archaische Furcht vor den ausufernden Dimensionen mütterlicher Weiblichkeit und jenem Verschlungenwerden, das Freud als Angstvision dem Ödipuskomplex zugrunde legte. Wenn Charlotte Roche die Hämorrhoiden ihrer Protagonistin mit den "Fangarmen einer Seeanemone" vergleicht, greift sie genüsslich auf dieses phantasmagorische Horrorkabinett zurück.
Das mit dem Tod auf Du und Du lebende Mittelalter nahm körperliche Monstrositäten gelassener hin. Für den Christen war jeder Leib grotesk und ein stets gegenwärtiges Mal der Sünde. Deshalb störte sich niemand daran, dass das Intimleben auf der Straße stattfand, Kranke und Verrückte nicht weggeschlossen wurden und peinliche Strafen der Volksbelustigung dienten. Der groteske Leib, schrieb Michail M. Bachtin in seinem Rabelaisbuch, "ist ein werdender Leib. Er ist niemals fertig, niemals abgeschlossen. Er schlingt die Welt in sich hinein und wird selber von der Welt verschlungen. Die wesentliche Rolle im grotesken Leib spielen deshalb jene Teile, jene Stellen, wo er über sich hinauswächst." Was Bachtin nun aufzählt, ist ein Katalog der rocheschen Lieblingsthemen: "Ausscheidungen (Kot, Urin, Schweiß, Nasenschleim, Mundschleim), Begattung, Schwangerschaft, Niederkunft, Körperwuchs, Altern, Krankheiten, Tod, Zerfetzung, Zerteilung". Mit dem Schwinden der christlichen Glaubensgewissheit ist dieses Schauspiel des reproduktiven Körpers, über dem kein beruhigender Jenseitsvorhang mehr fällt, immer unerträglicher geworden. 1766 führt Lessing den modernen Leibeskanon ein, der alle Sekretbereiche des Körpers als nicht abbildbar unterdrückt. An der antiken Figurengruppe des mit zwei Schlangen ringenden Laokoon erläutert er die Grenzen der klassischen Figurendarstellung: Der Schmerz des Trojaners ist nur an den gespannten Muskeln abzulesen, er "äußert sich dennoch mit keiner Wut in dem Gesichte und in der ganzen Stellung. Er erhebt kein schreckliches Geschrei; die Öffnung des Mundes gestattet es nicht." Der Bildhauer gönnte dem Gequälten nur ein leises Stöhnen. Warum? Weil der aufgerissene Mund "das Gesicht auf eine ekelhafte Weise verstellet". Das Mitleid, das Laokoon verdient, wäre durch die in Stein gehauene Verewigung seines Schreis auf der Strecke geblieben. Von der Hässlichkeit des undressierten Leibs wendet Lessings Betrachter sich mit "Unlust" ab.
An diese Einsicht haben sich die medialen Erben der klassischen Ästhetik bis heute gehalten. Sowie es Lust zu erzeugen gilt, und das ist der Zweck des kommerziellen Spektakels, wird das groteske Eigenleben des Körpers unter Verschluss gehalten. Alles, was als Pornographisierung des öffentlichen Raums diskutiert wird und was Charlotte Roche mit dem C&A-Pin-up herbeizitiert, fällt unter den klassischen Kanon. Die meist weibliche Blöße, mit der uns der Werbemarkt bombardiert, entspricht dem, was Brad Easton Ellis in "American Psycho" als "hardbody" bezeichnet und was Bachtin die "massive und taube Fassade" des Körpers nennt: "Alles, was herausragt und absteht, alle scharf ausgeprägten Extremitäten, Auswüchse und Knospungen, wird entfernt, weggelassen, zugedeckt." Von Bachtins Mittelalter aus müssen die makellosen Ikonen, mit denen die Konsumwelt das Bewusstsein flutet, als postreligiöse Versicherung gegen den grotesken Leib verstanden werden. Trotzdem wird die schöne, der Zeit trotzende Nacktheit seit den Sechzigern mit Wahrheit, Natur und Aufklärung gleichgesetzt. Dabei ist sie die Lebenslüge eines Kapitalismus, der die klassische Gestalt des Menschen längst in ihre zahllosen, vermarktbaren Teile zerlegt hat und aus der Genomanalyse eine Aktiengesellschaft macht: nur weil der Konsument seine beschämende Unvollkommenheit durch stets neue Warenfetische zu kaschieren sucht, kann das biotechnologische Zeitalter zur Hochform auflaufen.
"Feuchtgebiete" deshalb als Plädoyer für die Rückkehr zur Natur zu lesen, übersieht, wie jüngst Winfried Menninghaus in seinem Darwin-Buch zeigte, dass nichts so raffiniert ist wie die Natur. Auch bei Charlotte Roches Interesse am grotesken Körper handelt es sich um keinen grünen Werbefeldzug zur sexuellen Artenerhaltung, sondern um ein Experiment. Indem Helen den Körper mit seinen polymorph-perversen Trieben fest ins Auge fasst, legt sie einen sprachlichen Boden, wo in der euphemistischen Gesellschaft der stumme Schrecken vor der je eigenen Monstrosität gelauert hat. Wie schon die Schwulenbewegung zeigte, wird das Peinliche ins Selbstbewusstsein aufgenommen, sobald es formuliert ist. Was einen Ort in der Sprache hat, wird nicht länger verdrängt und muss nicht provozierend demonstriert werden. In diesem Sinne schafft Roches Roman die Grundlage für ein weibliches Selbstbild, in das die Differenz zwischen intimer Wirklichkeit und öffentlicher Inszenierung ganz selbstverständlich eingespeist ist und souverän verwaltet werden kann.
Autoren wie Lessing und Richard Sennett haben plausible Gründe dafür geliefert, warum man die Promenade nicht als Abort benutzen, im Restaurant rülpsen, im Zug in der Nase, den Zähnen oder Zehen bohren, Sex in den Supermarkt verlegen oder auf andere Weise allzu deutlich seine Triebe spazieren führen sollte. Die Lust des einen erzeugt im anderen Unlust, wie Lessing bemerkte, schon weil sie den sich Gehenlassenden physisch entstellt. In einer Gesellschaft, die jeden laufend mit zahllosen Fremden konfrontiert, hängt das Funktionieren von einer gewissen Geschäftsmäßigkeit der Beziehungen und der Möglichkeit ab, von der Kreatürlichkeit der anderen abstrahieren zu dürfen. Trüge jeder seinen mittelalterlichen Leib zu Markte, wären wir unablässig in den Strudel seiner biologischen Funktionen hineingezogen. Die Unlust, die im Widerstand gegen solche Zumutung entsteht, würde das allgemeine Aggressionspotential unnötig steigern.
Deshalb ist der historische Referenzpunkt für "Feuchtgebiete" nicht das Mittelalter, sondern die Kultur des achtzehnten Jahrhunderts. Eine Epoche, in der, wie Richard Sennett nicht genügend loben kann, jeder öffentlich Theater spielte und das auch vom anderen wusste. Seinen Zeitgenossen wirft der Soziologe vor, dass sie sich mit ihren Rollen identifizieren und von ihren öffentlichen Repräsentanten weniger eine solide Politik als ein Privatleben erwarten, das moralischen Idealen lückenlos entspricht. Roches Roman spricht es aus, dass heute vor allem Frauen der Verwechslung von Rolle und Realität zum Opfer fallen. Dabei könnten sie mit den Idealen, die sich nicht erreichen lassen, spielerisch umgehen. Denn in der Sexualität geht es immer um die Wirklichkeit hinter der Fassade. Erotisch ist, wer seine Schwächen kennt und sie nicht nur in Kauf nimmt, sondern seine Erscheinung gelegentlich für intime Signale durchsichtig macht. Ist die Andeutung des eigenen grotesken Leibs doch die vielleicht galanteste Form der Höflichkeit, weil sie auch andere vom Perfektionsanspruch entlastet. Genau hier fängt die Verführung an. Es ist das Skandalon des Romans, dass Robin von Helens schamloser Leiblichkeit nicht abgestoßen wird, im Gegenteil, er nimmt sie mit nach Haus. Gehört die Verwechslung von blendender Schönheit und Verführungskraft doch zu den notorischen Zeitgeistirrtümern. So wurde die große Verführerin Anne Boleyn in "Die Schwester der Königin" von Justin Chadwick jüngst mit Natalie Portman besetzt - die auf den ersten Blick so attraktiv ist, dass Verführungskünste völlig überflüssig scheinen. Stephen Frears wusste noch, dass der Verführer nicht schön sein darf, und wählte bei der Verfilmung der "Gefährlichen Liebschaften" vor zwanzig Jahren John Malkovich für die Rolle des Valmont.
"Solche Frauen", sagt Helen von den Rasierten und Gekämmten, "traut sich doch keiner durchzuwuscheln und zu ficken." Damit fordert sie das Klischee heraus, die Wahl des Sexualobjekts laufe bis heute evolutionistisch ab und werde von Fortpflanzungskriterien dominiert, die biometrischer Perfektion, männlichen Muskelpaketen und weiblicher Jungfrauenanmut den Vorzug geben. In der von Georg Franck beschriebenen Aufmerksamkeitsökonomie ist dieses Ideologem zur self-fulfilling prophecy geworden. Wie Helen predigt, kann aber nur der fehlerhafte, unfertige und ergänzungsbedürftige Leib eine Anziehungskraft entfalten, die der Sexualität gewachsen ist. "Knochiges leeres Gesicht", beschrieb Franz Kafka nach der ersten Begegnung Felice Bauer, "fast zerbrochene Nase", "reizloses Haar, starkes Kinn".
Und doch entwickelte er für sie eine Passion wie kaum für eine andere Frau. Verführbarkeit und Verführung haben mit der Freiheit zu tun, vom großen Marschweg abzuweichen. Wenn man den ersten Anzeichen bei Autoren wie Charlotte Roche, Iris Hanika und Clemens Meyer trauen darf, nimmt die Literatur von den Hardbodies Abschied, die auch bei Michel Houellebecq die Romanhandlung diktieren. Selbst der Autor der "Wohlgesinnten" Jonathan Littell bekannte jüngst, dass ihn an seinem SS-Stoff weniger die schneidige Gestalt des perfekten Soldaten als das Phantasma der Orgie interessierte. Schneidigkeit und Orgie sind die beiden Pole von Gesellschaften, in denen es keine Verführung gibt. Sie ist eine Begleiterscheinung wirklich aufgeklärter, erwachsener Kulturen, deren Mitglieder im Bewusstsein der Krise leben, statt sich in soziale Idyllen zu träumen. Zu diesen Idyllen zählt die Münzautomatenökonomie der männlichen Triebabfuhr genauso wie der weibliche Traum von der ewigen Liebe. Nur wer weiß, dass das Glück "gebrechlich" ist, wie Kleist am Ende der "Marquise" schreibt, wird von Wechselfällen nicht entmutigt und nimmt den Kampf auch in der Liebe mit Widerständen auf. Insofern ist die Wall Street wirklich, wie Brad Easton Ellis meinte, die Hieroglyphe unserer Gegenwart. Dort wechseln ständig Glück und Pech, und alle machen weiter und trinken darauf. Dabei hängen die viel beneideten Boni der Finanzjongleure unmittelbar mit der Risikoscheu des Rests zusammen. Im Geschäftsleben beginnt sich das Wissen um die Bedeutung von Spiel und Verführung durchzusetzen. Nur im Privatleben gilt Diplomatie weiterhin als genauso überflüssig wie spielerische Unberechenbarkeit. Dort herrschen zwei fundamentalistische Sätze: Biologie ist Schicksal, und Sublimation ist verlogen. Zu dieser Tyrannei der Intimität ist Charlotte Roches Buch nur auf den ersten Blick zu zählen. Denn die Intimität, die Richard Sennett beklagte, verlangt vom anderen weniger Transparenz als Kunstlosigkeit. Für die frustrierten Idyllen in unseren Köpfen ist Helen ein gefährliches Monstrum, das uns daran erinnert, dass wir nicht sind, wie wir uns geben. Charlotte Roche ist sprachlich etwas fast Unmögliches gelungen. Sie versöhnt uns mit dem Beschämenden, bei dem alle Verführung anfängt. Indem ihr kaltblütiger Seiltanz den grotesken Leib begnadigt, erlöst er die Erotik aus der Verfallenheit ans vollkommene Bild. "Feuchtgebiete" ermächtigt zum Spiel mit der individuellen Versehrtheit und ermutigt den kunstlosen Sexus, endlich erwachsen zu werden.
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Mehr als 400 000 verkaufte Bücher in vier Wochen: Was bedeutet der Erfolg von Charlotte Roches Roman "Feuchtgebiete"?
Mit ihrem ersten Roman hat die Fernsehmoderatorin Charlotte Roche dem Fräuleinwunder in der deutschen Zeitgeistliteratur abrupt ein Ende gemacht. Ob ihm die "Schlacht der Krawall-Uschis" folgt, wie die Berliner "BZ" ihre Besprechung von "Feuchtgebiete" übertitelte, ist zu bezweifeln. Bei seinem Erscheinen vor sechs Wochen wurde das Buch in den Medien kurz und heftig abgefeiert und dann vergessen. Die meisten Rezensenten urteilten reflexhaft und ließen sich von der schwer einzuordnenden Art der Obszönität, mit der die Autorin spielt, zu polemischen Tönen hinreißen. Erst bei der Beurteilung griff man auf literarische Kriterien zurück: Das geradezu romantische Happy End des Romans schien seine Radikalität zu entschärfen und lieferte einen Vorwand, der Autorin eine effekthascherische Konstruktion vorzuwerfen, die am Ende nicht aufgeht. Die sensationellen Verkaufszahlen belegen jedoch, dass Charlotte Roche einen Nerv getroffen hat, der sich so schnell nicht wieder beruhigen lässt. Denn ihr Roman über eine junge Frau namens Helen, die eine Hämorrhoidenoperation ins Krankenhaus führt, bleibt gerade durch seine Widersprüchlichkeit eine Irritation, die in ihren moralischen Implikationen weit über den Schock der systematischen Tabuverletzung hinausgeht. Ungefragt werden wir von Roche in die Position des Klinikpersonals versetzt, dem nichts Menschliches fremd ist, und hören alarmiert einer Patientin zu, die sich weigert, mit ihrer Intimsphäre auch ihr Selbstbewusstsein aufzugeben. Während Helen uns mit einer Direktheit, die Matthias Grünewald und Lucian Freud erröten lassen würde, über ihre gequälten Körperregionen informiert und dabei ganz unklinisch von "wolkenförmigen Hautlappen", "Muschiflora", "Hahnenkämmen" und ihrem "Perlenrüssel" spricht, ertrotzt sie sich eine Würde, die sonst denen vorbehalten bleibt, die das Pech nicht bäuchlings, ohne Decke und mit offenem OP-Hemd in ein viel frequentiertes Krankenhauszimmer verschlägt. Um Würde müssen plötzlich die Zuschauer kämpfen, die der sprachlichen Verarbeitung dessen, was sie täglich sehen, nicht gewachsen sind.
Weil sie die Operation nicht defätistisch hinnimmt, sondern wie ein um den Schleier der Natur unbesorgter Naturwissenschaftler allen Aspekten ihrer Erkrankung auf den Grund geht, löst es kaum noch Überraschung aus, dass sie von der Rosettenzone ihrer Hämorrhoiden umstandslos zu den weiblichen Geschlechtsorganen übergeht, die nun einmal in der Nähe liegen. Trotzdem ist diese Gratwanderung eine Sensation, denn sie springt von den Bereichen des Schmerzes zu denen der Lust, als wäre das in höherem Sinne alles eins.
So erfahren wir, dass Helen auch im Sexleben die Forscherbrille aufhat, den individuellen Vorlieben und Perversionen ihrer Partner nachgeht und mit den eigenen experimentiert. Damit hat Charlotte Roche sich das Etikett des Pornographischen eingehandelt. Dabei ist die Lust gar nicht der Nenner, auf den sich Helens Neugier reduzieren lässt. Vielmehr bewegt sie sich sicher jenseits jenes Lustprinzips, das Sigmund Freud nach dem Ersten Weltkrieg revidieren musste. Die Angstträume von Kriegsheimkehrern hatten seine Erkenntnisse über den Traum als verhüllter Wunscherfüllung ins Wanken gebracht. Freud zog sich aus der Affäre, indem er es als Lusterlebnis deutete, von Ereignissen zu träumen, die den Träumer im Schützengraben traumatisch überfallen hatten. In der nachträglichen Simulation konnte er jene Angst vor dem Entsetzlichen aufbauen, zu der es ihm ursprünglich keine Zeit ließ. Denn nur ein vorhergesehenes Übel, so Freud, erlaubt es dem Individuum, sich innerlich dafür zu rüsten. Ohne solche Abwehrkräfte geht der Schock an die Substanz.
Für Helen war die Trennung ihrer Eltern so ein traumatisches Erlebnis. Sie quittiert es mit der bitteren Bemerkung: "Nur zu bleiben, solange die Liebe noch da ist, reicht nicht, wenn man Kinder hat." Dass Helen sich sterilisieren ließ, wie wir beiläufig erfahren, geht mit diesem Satz eine Heisenbergsche Unschärferelation ein, die nur zwei einander ausschließende Deutungen zulässt. Entweder Roches Heldin ist naturnahe Erotomanin, die alles den Körper Betreffende wie ein großes Abenteuer angeht und die Sabotagen der Hygieneindustrie verachtet, aber bei der Sterilisation eine Ausnahme macht, weil sie bei ihren Eskapaden durch keine Schwangerschaft ins Stolpern kommen will. Oder sie ist ein gebranntes Scheidungskind, das im Dschungel zeitgenössischer Sexbesessenheit nach Liebe und einer Treue sucht, der sie den Härtetest der Familiengründung nicht mehr zutraut. Furcht vor den Strapazen einer Geburt wird kaum der Grund für die Sterilisation sein. Denn in der Hoffnung, ihre Eltern durch einen verlängerten Klinikaufenthalt doch noch zusammenzuführen, fügt Helen sich bedenkenlos eine schreckliche Verletzung zu. Das Thema Geburt lässt andere Warnlichter aufleuchten: In der Kindheit wurde sie heimliche Zeugin eines Gesprächs, in dem ihr Vater einem Freund davon berichtete, "wie schlimm es für ihn war, bei meiner Geburt zugucken zu müssen". So wie Helen bei der Begutachtung ihrer OP-Wunde malt auch ihr Vater alle Details der ihn überfordernden Szene inbrünstig aus. Der Freund flüchtet sich in Gelächter: Denn "über das, wovor man am meisten Angst hat", so Helen, "lacht man immer am lautesten". Es bleibt in der Schwebe, ob Helen die eigene Geburt für die Trennung der Eltern verantwortlich macht. Klar ist auf alle Fälle, dass Charlotte Roche das Lachen für eine noch bessere Traumaprophylaxe hält als den Albtraum. Ihr satirischer Roman setzt sich beherzt dafür ein, dass die Beziehungen zwischen Mann und Frau nicht noch einmal an unzureichender Aufklärung scheitern. So macht sich ihre Heldin systematisch mit allen Eventualitäten des Liebeslebens vertraut. Ihr Verhalten ist ein einziges Antiprogramm zum Treuephantasma, ein Abwehrzauber und eine Flucht nach vorn, die jeder möglichen neuen Verletzung zuvorkommen möchte. "Eine Art sexuelle Überforderung von sich selber", nannte Roche das in einem Interview: "Die will sich stählen für irgendwelche Ernstfälle."
Zur Errichtung dieses Frühwarnsystems macht sich Helen systematisch mit der Grauzone des männlichen Sexuallebens vertraut. Sie besucht Bordelle, wo sie Prostituierte auswählt und mit ihnen ins Bett geht, phantasiert von pubertären Spermaorgien auf Pizzadienstlieferungen und beschäftigt sich ausführlich mit dem Onanieren. Doch so wie die überdrehten und aufs Technische abhebenden Onanieszenen ohne stimulierende Phantasmen, Bildvorlagen und ideale Partner auskommen, bleiben auch die Bordellszenen schemenhaft und konstruiert. Im "Playboy" äußerte sich die Autorin positiv zur Pornographie. Doch im "Spiegel"-Gespräch gestand sie: "Das Pin-up, das ich auf einem C&A-Plakat sehe, wenn ich mein Kind zum Kindergarten fahre, das stört mich auch." Roche begründet ihre Aversion damit, dass der in der Öffentlichkeit ad nauseam propagierte Sex "langweiliger, flacher, spießiger und unaufregender" sei als die Wirklichkeit: "Ich bin für mehr Sex - mehr Schweinereien, keine Tabus. Ich glaube, dass es vom echten Sex, dem Sex, der riecht und schmeckt und schmutzige Geräusche macht, nie genug geben kann." Die Differenz, die Charlotte Roche mit dem C&A-Plakat aufmacht, ist keine zwischen Sex und Sex, sondern eine zwischen Sex und idealisierten Sexobjekten, die unaufgeregt im Sinne des von Freud definierten weiblichen Narzissmus und "flach" im Sinne des geschlossenen, wenn auch weitgehend nackten Körpers sind. Sie sind Charlotte Roche ein Dorn im Auge, während sie das pornographische Spektakel aufgelöster Leiber begrüßt. Insofern ist "Feuchtgebiete" auch ein Pamphlet gegen die Pin-up-Kultur der lückenlos Attraktiven und die Zumutung, die sie für wirkliche Frauen bedeutet. "Was diese Frauen aber nicht wissen", so Helen über die Blondierungs-, Maniküre-, Peeling- und Intimwaschkünstlerinnen, die eine solche Kultur hervorbringt: "Je mehr sie sich um all diese kleinen Stellen kümmern, desto unbeweglicher werden sie. Ihre Haltung wird steif und unsexy, weil sie sich ihre ganze Arbeit nicht kaputtmachen wollen."
Vielleicht, um nicht in unerwünschte Nachbarschaft zu geraten, spart die Helen in den Mund gelegte Hygieneliste die Martyrien aus, denen sich all die unterwerfen, die kein klassischen Proportionen gehorchendes Gesicht und einen achtzehnjährigen Modelkörper besitzen. Schönheitsoperationen, teure Spa-Aufenthalte und Hungerkuren haben hier bekanntlich ein weites Feld. Dabei weiß Charlotte Roche, dass "Feuchtgebiete" gerade auch diese Bastion in Angriff nimmt und mit der proklamierten Rückkehr zu den fünf Sinnen in der öffentlichen Sexverhandlung an der Diktatur der Optik rüttelt. Der Eros, den sie beschwört, sendet nicht nur Gerüche aus, erlaubt sich Tuchfühlung und durchdringende Blicke, er macht auch den Mund auf. Helens schamlose Reden wirken auf ihren Pfleger Robin anziehend.
"Feuchtgebiete" ist auch ein Crash-Kurs in Sachen Verführung, und das macht den Roman vielleicht am deutlichsten zum Hybrid des Feminismus. Eckhard Fuhr wies in der "Welt" darauf hin, dass Charlotte Roche einen Faden aufnimmt, den der Feminismus vor dreißig Jahren fallen ließ. Vielleicht sollte man eher von einer aufgefischten Fahrradkette sprechen, denn Helen steht auf die Schmerzlust der Piercings. Wo aber Punk und Emanze sich treffen, da geht es um die Verachtung der aufgebrezelten Frau: "Was ihre physische Erscheinung betrifft, leiden Frauen unter Gehirnwäsche", schrieb Germaine Greer 1971: "Ihre Haltung dem eigenen Körper gegenüber ist oft apologetisch, denn sie vergleichen ihn mit dem plastischen Objekt des Begehrens, das durch die Medien verbreitet wird." Greers Diagnose löste unter politisch denkenden Frauen eine Welle demonstrativer Entspannung aus. Ohne Rücksicht auf Attraktivitätswerte warfen sie ihr Make-up in den Abfall, zogen bequeme Gummisohlenschuhe, Beutelhosen und lagenreiche Kleider an und wurden prompt als "Möchtegern-Kräuterhexen" abgestempelt. Bis heute leidet die weibliche Emanzipationsbewegung am Image, das damals geboren wurde, einem Frauenbild, das islamischen Verhüllungsgepflogenheiten in mancher Hinsicht näher ist als der Barbiewelt von Mattel. Der Frauenkörper löste sich unter Stoffschichten auf und verquoll auf schweren Schritten mit der Umwelt. Damit aktivierte er eine archaische Furcht vor den ausufernden Dimensionen mütterlicher Weiblichkeit und jenem Verschlungenwerden, das Freud als Angstvision dem Ödipuskomplex zugrunde legte. Wenn Charlotte Roche die Hämorrhoiden ihrer Protagonistin mit den "Fangarmen einer Seeanemone" vergleicht, greift sie genüsslich auf dieses phantasmagorische Horrorkabinett zurück.
Das mit dem Tod auf Du und Du lebende Mittelalter nahm körperliche Monstrositäten gelassener hin. Für den Christen war jeder Leib grotesk und ein stets gegenwärtiges Mal der Sünde. Deshalb störte sich niemand daran, dass das Intimleben auf der Straße stattfand, Kranke und Verrückte nicht weggeschlossen wurden und peinliche Strafen der Volksbelustigung dienten. Der groteske Leib, schrieb Michail M. Bachtin in seinem Rabelaisbuch, "ist ein werdender Leib. Er ist niemals fertig, niemals abgeschlossen. Er schlingt die Welt in sich hinein und wird selber von der Welt verschlungen. Die wesentliche Rolle im grotesken Leib spielen deshalb jene Teile, jene Stellen, wo er über sich hinauswächst." Was Bachtin nun aufzählt, ist ein Katalog der rocheschen Lieblingsthemen: "Ausscheidungen (Kot, Urin, Schweiß, Nasenschleim, Mundschleim), Begattung, Schwangerschaft, Niederkunft, Körperwuchs, Altern, Krankheiten, Tod, Zerfetzung, Zerteilung". Mit dem Schwinden der christlichen Glaubensgewissheit ist dieses Schauspiel des reproduktiven Körpers, über dem kein beruhigender Jenseitsvorhang mehr fällt, immer unerträglicher geworden. 1766 führt Lessing den modernen Leibeskanon ein, der alle Sekretbereiche des Körpers als nicht abbildbar unterdrückt. An der antiken Figurengruppe des mit zwei Schlangen ringenden Laokoon erläutert er die Grenzen der klassischen Figurendarstellung: Der Schmerz des Trojaners ist nur an den gespannten Muskeln abzulesen, er "äußert sich dennoch mit keiner Wut in dem Gesichte und in der ganzen Stellung. Er erhebt kein schreckliches Geschrei; die Öffnung des Mundes gestattet es nicht." Der Bildhauer gönnte dem Gequälten nur ein leises Stöhnen. Warum? Weil der aufgerissene Mund "das Gesicht auf eine ekelhafte Weise verstellet". Das Mitleid, das Laokoon verdient, wäre durch die in Stein gehauene Verewigung seines Schreis auf der Strecke geblieben. Von der Hässlichkeit des undressierten Leibs wendet Lessings Betrachter sich mit "Unlust" ab.
An diese Einsicht haben sich die medialen Erben der klassischen Ästhetik bis heute gehalten. Sowie es Lust zu erzeugen gilt, und das ist der Zweck des kommerziellen Spektakels, wird das groteske Eigenleben des Körpers unter Verschluss gehalten. Alles, was als Pornographisierung des öffentlichen Raums diskutiert wird und was Charlotte Roche mit dem C&A-Pin-up herbeizitiert, fällt unter den klassischen Kanon. Die meist weibliche Blöße, mit der uns der Werbemarkt bombardiert, entspricht dem, was Brad Easton Ellis in "American Psycho" als "hardbody" bezeichnet und was Bachtin die "massive und taube Fassade" des Körpers nennt: "Alles, was herausragt und absteht, alle scharf ausgeprägten Extremitäten, Auswüchse und Knospungen, wird entfernt, weggelassen, zugedeckt." Von Bachtins Mittelalter aus müssen die makellosen Ikonen, mit denen die Konsumwelt das Bewusstsein flutet, als postreligiöse Versicherung gegen den grotesken Leib verstanden werden. Trotzdem wird die schöne, der Zeit trotzende Nacktheit seit den Sechzigern mit Wahrheit, Natur und Aufklärung gleichgesetzt. Dabei ist sie die Lebenslüge eines Kapitalismus, der die klassische Gestalt des Menschen längst in ihre zahllosen, vermarktbaren Teile zerlegt hat und aus der Genomanalyse eine Aktiengesellschaft macht: nur weil der Konsument seine beschämende Unvollkommenheit durch stets neue Warenfetische zu kaschieren sucht, kann das biotechnologische Zeitalter zur Hochform auflaufen.
"Feuchtgebiete" deshalb als Plädoyer für die Rückkehr zur Natur zu lesen, übersieht, wie jüngst Winfried Menninghaus in seinem Darwin-Buch zeigte, dass nichts so raffiniert ist wie die Natur. Auch bei Charlotte Roches Interesse am grotesken Körper handelt es sich um keinen grünen Werbefeldzug zur sexuellen Artenerhaltung, sondern um ein Experiment. Indem Helen den Körper mit seinen polymorph-perversen Trieben fest ins Auge fasst, legt sie einen sprachlichen Boden, wo in der euphemistischen Gesellschaft der stumme Schrecken vor der je eigenen Monstrosität gelauert hat. Wie schon die Schwulenbewegung zeigte, wird das Peinliche ins Selbstbewusstsein aufgenommen, sobald es formuliert ist. Was einen Ort in der Sprache hat, wird nicht länger verdrängt und muss nicht provozierend demonstriert werden. In diesem Sinne schafft Roches Roman die Grundlage für ein weibliches Selbstbild, in das die Differenz zwischen intimer Wirklichkeit und öffentlicher Inszenierung ganz selbstverständlich eingespeist ist und souverän verwaltet werden kann.
Autoren wie Lessing und Richard Sennett haben plausible Gründe dafür geliefert, warum man die Promenade nicht als Abort benutzen, im Restaurant rülpsen, im Zug in der Nase, den Zähnen oder Zehen bohren, Sex in den Supermarkt verlegen oder auf andere Weise allzu deutlich seine Triebe spazieren führen sollte. Die Lust des einen erzeugt im anderen Unlust, wie Lessing bemerkte, schon weil sie den sich Gehenlassenden physisch entstellt. In einer Gesellschaft, die jeden laufend mit zahllosen Fremden konfrontiert, hängt das Funktionieren von einer gewissen Geschäftsmäßigkeit der Beziehungen und der Möglichkeit ab, von der Kreatürlichkeit der anderen abstrahieren zu dürfen. Trüge jeder seinen mittelalterlichen Leib zu Markte, wären wir unablässig in den Strudel seiner biologischen Funktionen hineingezogen. Die Unlust, die im Widerstand gegen solche Zumutung entsteht, würde das allgemeine Aggressionspotential unnötig steigern.
Deshalb ist der historische Referenzpunkt für "Feuchtgebiete" nicht das Mittelalter, sondern die Kultur des achtzehnten Jahrhunderts. Eine Epoche, in der, wie Richard Sennett nicht genügend loben kann, jeder öffentlich Theater spielte und das auch vom anderen wusste. Seinen Zeitgenossen wirft der Soziologe vor, dass sie sich mit ihren Rollen identifizieren und von ihren öffentlichen Repräsentanten weniger eine solide Politik als ein Privatleben erwarten, das moralischen Idealen lückenlos entspricht. Roches Roman spricht es aus, dass heute vor allem Frauen der Verwechslung von Rolle und Realität zum Opfer fallen. Dabei könnten sie mit den Idealen, die sich nicht erreichen lassen, spielerisch umgehen. Denn in der Sexualität geht es immer um die Wirklichkeit hinter der Fassade. Erotisch ist, wer seine Schwächen kennt und sie nicht nur in Kauf nimmt, sondern seine Erscheinung gelegentlich für intime Signale durchsichtig macht. Ist die Andeutung des eigenen grotesken Leibs doch die vielleicht galanteste Form der Höflichkeit, weil sie auch andere vom Perfektionsanspruch entlastet. Genau hier fängt die Verführung an. Es ist das Skandalon des Romans, dass Robin von Helens schamloser Leiblichkeit nicht abgestoßen wird, im Gegenteil, er nimmt sie mit nach Haus. Gehört die Verwechslung von blendender Schönheit und Verführungskraft doch zu den notorischen Zeitgeistirrtümern. So wurde die große Verführerin Anne Boleyn in "Die Schwester der Königin" von Justin Chadwick jüngst mit Natalie Portman besetzt - die auf den ersten Blick so attraktiv ist, dass Verführungskünste völlig überflüssig scheinen. Stephen Frears wusste noch, dass der Verführer nicht schön sein darf, und wählte bei der Verfilmung der "Gefährlichen Liebschaften" vor zwanzig Jahren John Malkovich für die Rolle des Valmont.
"Solche Frauen", sagt Helen von den Rasierten und Gekämmten, "traut sich doch keiner durchzuwuscheln und zu ficken." Damit fordert sie das Klischee heraus, die Wahl des Sexualobjekts laufe bis heute evolutionistisch ab und werde von Fortpflanzungskriterien dominiert, die biometrischer Perfektion, männlichen Muskelpaketen und weiblicher Jungfrauenanmut den Vorzug geben. In der von Georg Franck beschriebenen Aufmerksamkeitsökonomie ist dieses Ideologem zur self-fulfilling prophecy geworden. Wie Helen predigt, kann aber nur der fehlerhafte, unfertige und ergänzungsbedürftige Leib eine Anziehungskraft entfalten, die der Sexualität gewachsen ist. "Knochiges leeres Gesicht", beschrieb Franz Kafka nach der ersten Begegnung Felice Bauer, "fast zerbrochene Nase", "reizloses Haar, starkes Kinn".
Und doch entwickelte er für sie eine Passion wie kaum für eine andere Frau. Verführbarkeit und Verführung haben mit der Freiheit zu tun, vom großen Marschweg abzuweichen. Wenn man den ersten Anzeichen bei Autoren wie Charlotte Roche, Iris Hanika und Clemens Meyer trauen darf, nimmt die Literatur von den Hardbodies Abschied, die auch bei Michel Houellebecq die Romanhandlung diktieren. Selbst der Autor der "Wohlgesinnten" Jonathan Littell bekannte jüngst, dass ihn an seinem SS-Stoff weniger die schneidige Gestalt des perfekten Soldaten als das Phantasma der Orgie interessierte. Schneidigkeit und Orgie sind die beiden Pole von Gesellschaften, in denen es keine Verführung gibt. Sie ist eine Begleiterscheinung wirklich aufgeklärter, erwachsener Kulturen, deren Mitglieder im Bewusstsein der Krise leben, statt sich in soziale Idyllen zu träumen. Zu diesen Idyllen zählt die Münzautomatenökonomie der männlichen Triebabfuhr genauso wie der weibliche Traum von der ewigen Liebe. Nur wer weiß, dass das Glück "gebrechlich" ist, wie Kleist am Ende der "Marquise" schreibt, wird von Wechselfällen nicht entmutigt und nimmt den Kampf auch in der Liebe mit Widerständen auf. Insofern ist die Wall Street wirklich, wie Brad Easton Ellis meinte, die Hieroglyphe unserer Gegenwart. Dort wechseln ständig Glück und Pech, und alle machen weiter und trinken darauf. Dabei hängen die viel beneideten Boni der Finanzjongleure unmittelbar mit der Risikoscheu des Rests zusammen. Im Geschäftsleben beginnt sich das Wissen um die Bedeutung von Spiel und Verführung durchzusetzen. Nur im Privatleben gilt Diplomatie weiterhin als genauso überflüssig wie spielerische Unberechenbarkeit. Dort herrschen zwei fundamentalistische Sätze: Biologie ist Schicksal, und Sublimation ist verlogen. Zu dieser Tyrannei der Intimität ist Charlotte Roches Buch nur auf den ersten Blick zu zählen. Denn die Intimität, die Richard Sennett beklagte, verlangt vom anderen weniger Transparenz als Kunstlosigkeit. Für die frustrierten Idyllen in unseren Köpfen ist Helen ein gefährliches Monstrum, das uns daran erinnert, dass wir nicht sind, wie wir uns geben. Charlotte Roche ist sprachlich etwas fast Unmögliches gelungen. Sie versöhnt uns mit dem Beschämenden, bei dem alle Verführung anfängt. Indem ihr kaltblütiger Seiltanz den grotesken Leib begnadigt, erlöst er die Erotik aus der Verfallenheit ans vollkommene Bild. "Feuchtgebiete" ermächtigt zum Spiel mit der individuellen Versehrtheit und ermutigt den kunstlosen Sexus, endlich erwachsen zu werden.
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