"Feuer" beschreibt eine Gruppe verschiedener Menschen, die nach einer Katastrophe zusammenfindet. Sie werden durch das Unglück nicht zusammengeschweißt - es gibt Missgunst, Hinterhältigkeiten, Drohungen. Dennoch müssen sie sich gemeinsam auf den Weg machen, um aus dem Katastrophengebiet herauszukommen, Rettung scheint nicht in Sicht, die Medien schweigen ...Ungemein spannend schildert Chaim Noll den Weg dieser Gruppe durch eine Gefahrenzone, zugleich bietet ihm das Thema die Möglichkeit, unsere heutige Medienwelt und das Miteinander der Menschen zu hinterfragen. "Feuer" ist ein ebenso kluger wie mitreißender Roman, den die Leserinnen und Leser so schnell nicht wieder aus der Hand legen werden.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.06.2011Dem technischen Supergau folgt die Katastrophe in den Köpfen
Unheilvolle Prophetie: Mit "Feuer" hat der in Israel lebende Chaim Noll einen Roman geschrieben, der die Tragödie von Fukushima auf erschreckende Weise vorwegnimmt.
Dass sie sich zwar Gegenwartsliteratur nenne, tatsächlich aber gegenwärtigen Gehalt, geschweige denn eine Auseinandersetzung mit sozialen oder politischen Themen der Zeit scheue, wird allenthalben aufs Neue diagnostiziert. Zweifelsohne ist das ein Vorwurf, dem Chaim Noll sich nicht aussetzen muss. Im Gegenteil scheinen die Romane Nolls, der Anfang der achtziger Jahre die DDR verließ, seinen Vornamen von Hans in Chaim änderte und seit Mitte der neunziger Jahre in Israel lebt, sogar bisweilen auf unheimliche Weise die Gegenwart vorwegzunehmen. "Der goldene Löffel", erstmals im Spätsommer 1989 erschienen und vor zwei Jahren wieder aufgelegt, prophezeit den baldigen Untergang des maroden Systems DDR.
Nolls jüngster Roman "Feuer" erzählt von einem technischen Kollaps, der eine ganze Stadt innerhalb kürzester Zeit vollkommen zerstört. Was genau sich ereignet hat, bleibt im Unklaren, setzt sich aus den Beobachtungsbruchstücken der Figuren zusammen, mal ist von einem Störfall in einem Atomkraftwerk die Rede, mal von einer Explosion in einer Chemiefabrik. Das Szenario, das Noll entwirft und das mit Verkehrschaos und Stromausfall beginnt und sich zum Inferno ausweitet, changiert zwischen zivilem Super-GAU und biblischer Apokalypse.
Feuer nennt es in Ermangelung anderer Informationen eine Gruppe von Menschen, die es geschafft hat, aus der Stadt in die umliegenden Wälder zu flüchten, und nun versucht, in ein von der Katastrophe verschontes Gebiet zu gelangen. Allen ist nur geblieben, was sie bei sich hatten, als das Leben kollabierte, mehr aufeinander geworfen sind sie als zusammengekommen. Zwangsläufig heterogen sind die Biographien, die Noll beinahe wie in einem Kammerspiel zusammenprallen lässt.
Zu dieser kleinen geschlossenen Gesellschaft gehören unter anderem ein beständig dozierender Professor samt Gattin, eine wohlhabende jüdische Dame, ein Bischof und eine junge Kosmetikfachverkäuferin, die sich im Sekundentakt einem der Männer an den Hals schmeißt. Dazu kommen der smarte, aber skrupellose Collande, den auch nach ein paar Tagen im Wald noch ein Hauch von Eleganz umweht, der sich aber zu seinen Verflechtungen in politischen Kreisen nur nebulös zu äußern gewillt ist, und der Abiturient Sebastian, der aus seiner rechten Gesinnung keinen Hehl macht und beständig einen vorzeitig gealterten Studenten malträtiert, der wegen seines konstanten Alkoholpegels nur "der Penner" genannt wird.
Nicht nur innerhalb der Gruppe haben sich die Abgründe vermeintlicher Zivilisiertheit schnell aufgetan. Innerhalb von Stunden ist das Leben einer mittelgroßen deutschen Stadt umgeschlagen in einen bürgerkriegsähnlichen Zustand in einem verwüsteten Niemandsland. Die Gruppe passiert ausgestorbene, verkohlte Dörfer, verwaiste Autos, Leichen am Straßenrand. Wenn sich doch einmal ein Auto nähert, verbirgt man sich im Unterholz, im Wissen darum, dass es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um plündernde Banden handelt. Mit Anteilnahme oder Solidarität untereinander ist hier nicht zu rechnen. Das scheint so klar, dass noch nicht einmal darüber gesprochen werden muss.
Das wahre menschliche und politische Ausmaß der Katastrophe aber wird erst deutlich, als die Gruppe nach Tagen oder Wochen - das Zeitgefühl ist allen verloren gegangen, seit die Akkus der Handys aufgebraucht sind - auf staatliche Hilfe in einer Art Auffanglager trifft. Denn hier müssen sie erleben, dass die Regierung ganz offenbar alles daransetzt, die Ausmaße des Vorfalls zu vertuschen. Kein Fernsehsender, keine Zeitung berichtet von der Katastrophe, allenfalls von einer unbegründeten Hysterie ist die Rede, von haltlosen Gerüchten, die in der Bevölkerung kursieren. Während die Flüchtlinge äußerlich von ihren zerlumpten Sachen befreit und mit neuer Kleidung ausgestattet werden, werden sie in einen vermeintlichen Rehabilitationsapparat eingespannt, der schlussendlich auch sie selbst davon überzeugen soll, dass sie Opfer einer "epidemisch auftretenden psychischen Beeinträchtigung" sind, die zur Folge hat, dass ihre Wahrnehmungs- und Urteilsfähigkeit nur mehr noch sehr eingeschränkt funktioniert.
In diesen Tagen kann man Nolls Roman über den Super-GAU der hochtechnisierten Informationsgesellschaft gar nicht anders als vor dem grauenhaften Hintergrund Fukushima lesen. Aber auch wenn Noll vordergründig so fatal nah dran ist am Zeitgeschehen, dann ist doch sowohl seine Medienkritik als auch seine Kritik der politischen und zwischenmenschlichen Verhältnisse mehr parabolisch als tatsächlich der Beobachtung der Gegenwart entnommen. Zu sehr erinnert sein düster eindimensionales Bild eines Überwachungsstaates, in dem die Medien gleichgeschaltet sind und in dem individuelle Störfälle mit aller Selbstverständlichkeit ausgeschaltet werden, an Antiutopien im Stile Orwells oder Huxleys. Zu modellhaft und stereotyp ist auch das Figurenensemble, das Noll entwirft. Kaum überraschend, dass gerade die beiden Figuren, die am widerspenstigsten und am wenigstens konform auftreten, nicht nur ein Liebespaar werden, sondern am Ende auch diejenigen sind, die die oktroyierte Wiedereingliederung in das soziale System verweigern und damit fortan auf die Privilegien des Bürgerseins verzichten. Sie sind die einzigen, das erzählt das fast märchenhafte, wenngleich trotzdem resignierte Ende Chaim Nolls, denen in dieser Gesellschaft die Empathie nicht abhandengekommen ist. "Keine Frage", heißt es an einer Stelle, "die Katastrophe hat sich zuerst in den Köpfen abgespielt. Sie ist im Keim nichts anderes als der Verlust der Menschlichkeit."
Das ist der moralische Kern dieses Buches, der sich zweifelsohne auf eine Gesellschaft applizieren lässt, in der Wohlstandsanspruch mit einer Fahrlässigkeit einhergeht, deren Folgen nicht mehr zu kontrollieren sind. Aber gleichsam ist es eben auch ein Kern - gerade durch seine religiöse Konnotation, die sich bei Noll immer wieder mit einem regelrecht appellativen Impuls verbindet - den man auf fast alle Zeiten anwenden kann. Dass Nolls Deutsch ein wenig altmodisch gefärbt ist, mag zum Eindruck des Unzeitgemäßen beitragen.
Womöglich aber wird die Suche nach unmittelbarer Gegenwärtigkeit diesem Roman gar nicht gerecht. Womöglich ist es in Zeiten des medialen Overloads sogar zuträglicher, Literatur in gewisser Weise als etwas anderes, bisweilen Fremdes sich gegenübergesetzt zu sehen. Dann wiederum ließe sich die unwillkürliche Irritation über die ungebrochene und umfassende Moralität, die Chaim Nolls Roman grundiert, als eine wesentliche Signatur unserer Zeit lesen.
WIEBKE POROMBKA
Chaim Noll: "Feuer". Roman.
Verbrecher Verlag, Berlin 2010. 377 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Unheilvolle Prophetie: Mit "Feuer" hat der in Israel lebende Chaim Noll einen Roman geschrieben, der die Tragödie von Fukushima auf erschreckende Weise vorwegnimmt.
Dass sie sich zwar Gegenwartsliteratur nenne, tatsächlich aber gegenwärtigen Gehalt, geschweige denn eine Auseinandersetzung mit sozialen oder politischen Themen der Zeit scheue, wird allenthalben aufs Neue diagnostiziert. Zweifelsohne ist das ein Vorwurf, dem Chaim Noll sich nicht aussetzen muss. Im Gegenteil scheinen die Romane Nolls, der Anfang der achtziger Jahre die DDR verließ, seinen Vornamen von Hans in Chaim änderte und seit Mitte der neunziger Jahre in Israel lebt, sogar bisweilen auf unheimliche Weise die Gegenwart vorwegzunehmen. "Der goldene Löffel", erstmals im Spätsommer 1989 erschienen und vor zwei Jahren wieder aufgelegt, prophezeit den baldigen Untergang des maroden Systems DDR.
Nolls jüngster Roman "Feuer" erzählt von einem technischen Kollaps, der eine ganze Stadt innerhalb kürzester Zeit vollkommen zerstört. Was genau sich ereignet hat, bleibt im Unklaren, setzt sich aus den Beobachtungsbruchstücken der Figuren zusammen, mal ist von einem Störfall in einem Atomkraftwerk die Rede, mal von einer Explosion in einer Chemiefabrik. Das Szenario, das Noll entwirft und das mit Verkehrschaos und Stromausfall beginnt und sich zum Inferno ausweitet, changiert zwischen zivilem Super-GAU und biblischer Apokalypse.
Feuer nennt es in Ermangelung anderer Informationen eine Gruppe von Menschen, die es geschafft hat, aus der Stadt in die umliegenden Wälder zu flüchten, und nun versucht, in ein von der Katastrophe verschontes Gebiet zu gelangen. Allen ist nur geblieben, was sie bei sich hatten, als das Leben kollabierte, mehr aufeinander geworfen sind sie als zusammengekommen. Zwangsläufig heterogen sind die Biographien, die Noll beinahe wie in einem Kammerspiel zusammenprallen lässt.
Zu dieser kleinen geschlossenen Gesellschaft gehören unter anderem ein beständig dozierender Professor samt Gattin, eine wohlhabende jüdische Dame, ein Bischof und eine junge Kosmetikfachverkäuferin, die sich im Sekundentakt einem der Männer an den Hals schmeißt. Dazu kommen der smarte, aber skrupellose Collande, den auch nach ein paar Tagen im Wald noch ein Hauch von Eleganz umweht, der sich aber zu seinen Verflechtungen in politischen Kreisen nur nebulös zu äußern gewillt ist, und der Abiturient Sebastian, der aus seiner rechten Gesinnung keinen Hehl macht und beständig einen vorzeitig gealterten Studenten malträtiert, der wegen seines konstanten Alkoholpegels nur "der Penner" genannt wird.
Nicht nur innerhalb der Gruppe haben sich die Abgründe vermeintlicher Zivilisiertheit schnell aufgetan. Innerhalb von Stunden ist das Leben einer mittelgroßen deutschen Stadt umgeschlagen in einen bürgerkriegsähnlichen Zustand in einem verwüsteten Niemandsland. Die Gruppe passiert ausgestorbene, verkohlte Dörfer, verwaiste Autos, Leichen am Straßenrand. Wenn sich doch einmal ein Auto nähert, verbirgt man sich im Unterholz, im Wissen darum, dass es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um plündernde Banden handelt. Mit Anteilnahme oder Solidarität untereinander ist hier nicht zu rechnen. Das scheint so klar, dass noch nicht einmal darüber gesprochen werden muss.
Das wahre menschliche und politische Ausmaß der Katastrophe aber wird erst deutlich, als die Gruppe nach Tagen oder Wochen - das Zeitgefühl ist allen verloren gegangen, seit die Akkus der Handys aufgebraucht sind - auf staatliche Hilfe in einer Art Auffanglager trifft. Denn hier müssen sie erleben, dass die Regierung ganz offenbar alles daransetzt, die Ausmaße des Vorfalls zu vertuschen. Kein Fernsehsender, keine Zeitung berichtet von der Katastrophe, allenfalls von einer unbegründeten Hysterie ist die Rede, von haltlosen Gerüchten, die in der Bevölkerung kursieren. Während die Flüchtlinge äußerlich von ihren zerlumpten Sachen befreit und mit neuer Kleidung ausgestattet werden, werden sie in einen vermeintlichen Rehabilitationsapparat eingespannt, der schlussendlich auch sie selbst davon überzeugen soll, dass sie Opfer einer "epidemisch auftretenden psychischen Beeinträchtigung" sind, die zur Folge hat, dass ihre Wahrnehmungs- und Urteilsfähigkeit nur mehr noch sehr eingeschränkt funktioniert.
In diesen Tagen kann man Nolls Roman über den Super-GAU der hochtechnisierten Informationsgesellschaft gar nicht anders als vor dem grauenhaften Hintergrund Fukushima lesen. Aber auch wenn Noll vordergründig so fatal nah dran ist am Zeitgeschehen, dann ist doch sowohl seine Medienkritik als auch seine Kritik der politischen und zwischenmenschlichen Verhältnisse mehr parabolisch als tatsächlich der Beobachtung der Gegenwart entnommen. Zu sehr erinnert sein düster eindimensionales Bild eines Überwachungsstaates, in dem die Medien gleichgeschaltet sind und in dem individuelle Störfälle mit aller Selbstverständlichkeit ausgeschaltet werden, an Antiutopien im Stile Orwells oder Huxleys. Zu modellhaft und stereotyp ist auch das Figurenensemble, das Noll entwirft. Kaum überraschend, dass gerade die beiden Figuren, die am widerspenstigsten und am wenigstens konform auftreten, nicht nur ein Liebespaar werden, sondern am Ende auch diejenigen sind, die die oktroyierte Wiedereingliederung in das soziale System verweigern und damit fortan auf die Privilegien des Bürgerseins verzichten. Sie sind die einzigen, das erzählt das fast märchenhafte, wenngleich trotzdem resignierte Ende Chaim Nolls, denen in dieser Gesellschaft die Empathie nicht abhandengekommen ist. "Keine Frage", heißt es an einer Stelle, "die Katastrophe hat sich zuerst in den Köpfen abgespielt. Sie ist im Keim nichts anderes als der Verlust der Menschlichkeit."
Das ist der moralische Kern dieses Buches, der sich zweifelsohne auf eine Gesellschaft applizieren lässt, in der Wohlstandsanspruch mit einer Fahrlässigkeit einhergeht, deren Folgen nicht mehr zu kontrollieren sind. Aber gleichsam ist es eben auch ein Kern - gerade durch seine religiöse Konnotation, die sich bei Noll immer wieder mit einem regelrecht appellativen Impuls verbindet - den man auf fast alle Zeiten anwenden kann. Dass Nolls Deutsch ein wenig altmodisch gefärbt ist, mag zum Eindruck des Unzeitgemäßen beitragen.
Womöglich aber wird die Suche nach unmittelbarer Gegenwärtigkeit diesem Roman gar nicht gerecht. Womöglich ist es in Zeiten des medialen Overloads sogar zuträglicher, Literatur in gewisser Weise als etwas anderes, bisweilen Fremdes sich gegenübergesetzt zu sehen. Dann wiederum ließe sich die unwillkürliche Irritation über die ungebrochene und umfassende Moralität, die Chaim Nolls Roman grundiert, als eine wesentliche Signatur unserer Zeit lesen.
WIEBKE POROMBKA
Chaim Noll: "Feuer". Roman.
Verbrecher Verlag, Berlin 2010. 377 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Den nach Fukushima sich aufdrängenden Gegenwartsbezug hat der Katastrophen-Roman des aus der DDR stammenden, Mitte der 90er nach Israel übergesiedelten Chaim Noll gar nicht nötig, findet Wiebke Porombka nach reiflicher Überlegung schließlich. So richtig fremd und also erkenntnisfördernd jedoch, wie sie sich das wünscht, kann das postapokalyptische Szenario mitsamt seiner menschlichen Abgründe gar nicht werden. Bekannt, stereotyp sogar, wie Porombka meint, ist das Figurenensemble, sind die von Noll gezeichneten Züge des gleichgeschalteten Überwachungsstaates. Orwell und Huxley lassen schön grüßen. Moralität strahlt der Text für die Rezensentin dennoch aus. Für Porombka nicht die schlechteste Konstante beziehungsweise Signatur unserer Zeit.
© Perlentaucher Medien GmbH
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