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Wie Kino betrachtet und verstanden wurde, bleibt in Filmen historisch hinterlegt und ablesbar. Das Kino hatimmer wieder, unregelmäßig und überaus spontan, Hinweise gegeben, wie es gesehen werden wollte undwie es zu verstehen war. Es deponierte in seinen Bildern Hinweise auf eine veränderte Realität und denZugang zur Realität überhaupt, reflektierte in seinen Formen das Verhältnis zum Publikum. Gegenstand desBuchs ist daher nicht so sehr die ästhetische Bewertung von Filmen, eine Poetologie, sondern eine etwasandere Systematik von Filmgeschichte: Filme als historischer Ausdruck von Kino - Filme…mehr

Produktbeschreibung
Wie Kino betrachtet und verstanden wurde, bleibt in Filmen historisch hinterlegt und ablesbar. Das Kino hatimmer wieder, unregelmäßig und überaus spontan, Hinweise gegeben, wie es gesehen werden wollte undwie es zu verstehen war. Es deponierte in seinen Bildern Hinweise auf eine veränderte Realität und denZugang zur Realität überhaupt, reflektierte in seinen Formen das Verhältnis zum Publikum. Gegenstand desBuchs ist daher nicht so sehr die ästhetische Bewertung von Filmen, eine Poetologie, sondern eine etwasandere Systematik von Filmgeschichte: Filme als historischer Ausdruck von Kino - Filme von Dario Argento,Kathryn Bigelow, Jan de Bont, Merian C. Cooper und Ernest B. Schoedsack, Carl Theodor Dreyer, DennisHopper, Buster Keaton, Alan J. Pakula, Sam Peckinpah, Max Ophüls, Martin Scorsese, Mack Sennett, StevenSpielberg, Denis Villeneuve, Haskell Wexler, Peter Yates.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.07.2019

Das Verschwinden eines dunklen Raums
Hollywood macht sich Sorgen um seine Zukunft, ein neues Buch bringt diese Sorgen theoretisch auf den Punkt: Je mehr Filme, desto weniger Kino

Kurz bevor in den Vereinigten Staaten das große Sommerkinogeschäft richtig losgeht, das längst nicht mehr so groß ist, wie es einmal war, und das auch nicht mehr das wichtigste populärkulturelle Ritual darstellt, weil nicht nur die Gesellschaft immer weiter zersplittert, sondern weil sich auch die Orte und Geräte vervielfältigt haben, um Filme anzuschauen, kurz vorm Unabhängigkeitstag also hat die "New York Times" eine Umfrage veranstaltet. Der Titel verrät einiges über die Befindlichkeit einer Branche: "How Will Movies (As We Know Them) Survive the Next 10 Years?" Dass Filme, wie wir sie kennen, überleben werden, scheint gerade noch gesichert - in welchem Zustand allerdings, das ist die besorgte Frage, auf die insgesamt 24 wichtige und/oder prominente Akteure aus Hollywood antworten, von den Produzenten Amy Pascal ("Spider-Man") und Jeffrey Katzenberg über die Schauspielerin Jessica Chastain zu Regisseuren wie J. J. Abrams ("Star Wars: Das Erwachen der Macht") und Barry Jenkins ("Moonlight", "Beale Street") oder Sony-Chef Tom Rothman.

Für das notorisch optimistische bis schönfärberische Hollywood ist die Tonlage erstaunlich gedämpft. Der Produzent Jason Blum spricht von der "größten Veränderung im Contentgeschäft in der Geschichte Hollywoods". Und bei der Frage, ob andere Filme als die Superhelden-Sequel-Blockbuster eine Zukunft in den Kinos haben, klingen die Business-Experten fast schon wie europäische Bedenkenträger, die gleich nach Quoten, Schutzklauseln oder Subventionen rufen werden - aber auch nur fast.

Unstrittig jedoch ist für alle, dass die "theatrical experience", die zentrale Kinoerfahrung also, den überlebensgroßen Bildern im dunklen Raum ausgeliefert zu sein, nicht mehr das Schlüsselerlebnis im Umgang mit bewegten Bildern ist. Sie ist noch nicht mal ökonomisch unabdingbar. Diese Erfahrung wird zwar gelegentlich beschworen, aber zugleich muss eingeräumt werden, dass es sich in vielen Fällen einfach nicht mehr lohnt, Filme ins Kino zu bringen - womit auch die Frage nach den Zukunftsaussichten weitgehend beantwortet ist.

Die existierenden Streaming-Portale und die kommenden von Disney, Warner oder Apple verändern nicht nur die Größenverhältnisse zwischen Bildern und Betrachtern. Sie haben Auswirkungen auf die Qualität der Produktionen, weil eben nicht jedem Film anzusehen sein muss, dass er für eine große Kinoleinwand gemacht worden ist, wie das beim Oscar-Gewinner "Roma" der Fall war. Um ins Kino zu gehen, muss ein Film eine singuläre Erfahrung versprechen; für den Abend vorm heimischen Endgerät reicht es aus, wenn ein Film ganz gut ist. Oder, wie es einer der Befragten knapp formuliert: "Ich glaube, Netflix hat lieber fünf Sachen, die die Leute irgendwie mögen, als eine, die sie wirklich lieben."

Ansonsten ist in der Umfrage viel Bekanntes zu lesen: ein Schwanengesang auf gute alte Zeiten, die Klage, dass die Kids nicht mehr ins Kino gehen, sondern Youtube gucken, dass sie nicht notwendig ganze Filme schauen, sondern sagen: "Ich habe was von dem Film gesehen." Es gibt natürlich, weil das in Amerika noch dringlicher ist als hier, auch die Hinweise, dass die Finanzierung durch Streamingdienste für größere Diversität gesorgt hat, weil mehr weibliche oder afroamerikanische Regisseure zum Zug gekommen sind; und die richtige Feststellung, dass Filme, die sonst jenseits ihres Herkunftslandes oder jenseits der Festivals kaum mehr sichtbar würden, nun mühelos verfügbar sind.

Obwohl die Verunsicherung der Branche nicht zu übersehen ist, ist es symptomatisch, dass kaum Überlegungen auftauchen, wie sehr sich Ästhetik und Dramaturgie der Filme verändern werden, wenn nicht die Kinoerfahrung zum Apriori jeder Produktion gehört. Es gibt da lediglich ein paar Andeutungen. Der Regisseur Paul Feig erinnert an die berühmte Einstellung aus "Lawrence von Arabien", wenn in der leeren Wüste am fernen Horizont ein winziger Punkt auftaucht und sich langsam auf einen zubewegt. Im 70mm-Format ist das grandios, auf dem Smartphone ein Desaster. Es sei schrecklich, daran denken zu müssen, sagt Feig einigermaßen hilflos, aber man müsse es im Kopf behalten.

Jeffrey Katzenberg dagegen, DreamWorks-Begründer mit Steven Spielberg und David Geffen, hat bei seinem für 2020 geplanten Streamingdienst Quibi schon ganz andere Dinge im Kopf: "das Filmnarrativ der nächsten Generation". Auf die im Kino gezeigte Zweistundenstory sei das zu Hause auf dem Fernseher betrachtete Einstundenkapitel gefolgt; dieses werde nun von einer dritten Generation abgelöst, "einer Mischung aus beiden Ideen, in der Zweistundenstorys in Kapiteln erzählt werden, die sieben bis zehn Minuten lang sind".

Das ist zwar ziemlich vage, aber, weil es sich sofort mit einem ökonomischen Kalkül verbindet, aufschlussreicher und anregender, weil es nicht vergangenem Glanz und alter Herrlichkeit nachtrauert, sondern sich der Vorstellung aussetzt, es könne mit dem Kino, wie wir es kennen, irgendwann auch mal zu Ende gehen; weil hier nicht nostalgisch der Blick zurückfällt, was dann oft mit hektischen musealen Rettungsmaßnahmen einhergeht, sondern sich dorthin richtet, womit in der Zukunft Geld verdient werden könnte. "Follow the money", das war in Hollywood schon immer ein hilfreicher Rat.

Und es hat dann auch seine eigene Ironie, dass sich die Perspektive von Katzenberg ganz kurz berührt mit dem Blick, den der Autor Lars Henrik Gass in seinen Büchern auf das Kino richtet, bevor beide sofort wieder auseinanderstreben. Gass, der seit 1997 die Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen leitet, hat vor zwei Jahren in einem Buch mit dem diagnostischen Titel "Film und Kunst nach dem Kino" so etwas wie eine mediengeschichtliche Bilanz versucht. Er setzt das fort in seinem jetzt erschienenen Buch "Filmgeschichte als Kinogeschichte". Dessen Untertitel "Eine kleine Theorie des Kinos" ist vielleicht nicht ganz so bescheiden, wie er klingt, weil Gass deutlich größere Sinnzusammenhänge vor Augen hat, aber zugleich weiß er, dass die Zeit der großen Erzählungen und theoretischen Großbaustellen ebenso vorüber ist wie die goldene Zeit des Kinos.

Seine Darstellung begreift Kino als eine mit Hilfe eines Apparats hergestellte "eigenständige gesellschaftliche Wahrnehmungsform", als "mentalen Raum", in dem man, "in der Zeit verloren, zur Wahrnehmung gezwungen ist". Kino ist eine "kulturelle Praxis", die aus den Filmen, deren Reproduktion und Vorführung besteht und insofern einen sozialen Raum konstituiert. Was dann auch bedeutet, dass sich Kino nicht museal konservieren lässt, indem man bloß Objekte und Dokumente archiviert, so gut gemeint die Digitalisierung eines sogenannten "nationalen Filmerbes" auch sein mag.

Mit diesem Begriff von Kino analysiert Gass in seinem Buch schlaglichtartig historische Umbrüche der Filmgeschichte. Denn wenn in Filmen immer das Kino als Ort ihrer Auswertung vorausgesetzt ist, dann muss, so Gass' Schluss, in den Filmen auch "historisch hinterlegt" sein, wie man das Kino jeweils sah. Weshalb Filmgeschichte eben auch Kinogeschichte enthält. Gass spielt dieses Modell durch am Slapstick von Fatty Arbuckle oder Buster Keaton, am frühen Tonfilm, in dem einem Max Ophüls' "Liebelei" und "King Kong" begegnen. Seine Prämisse "Wenn man wissen will, wie das Kino betrachtet wurde, uns betrachtet hat, muss man die Filme betrachten" gilt auch, wenn er sich Dennis Hoppers "The Last Movie", Filme von Sam Peckinpah, Martin Scorsese und anderen Regisseure des New Hollywood ansieht. Es geht dabei nicht um ästhetische Urteile, um "Poetologie", wie Gass sagt, oder um die Neusortierung eines angeblichen Kanons, sondern um "eine andere Systematik von Filmgeschichte". In den Kapiteln des Buches finden sich kanonische neben apokryphen, randständigen und populären Filmen. Wichtiger als die Frage, ob man nun den Horror von Dario Argento schätzt oder den "Weißen Hai" gelungen findet, ist die Untersuchung, was ein Film übers Kino erzählt oder wo er ein neues "Bildregime" sichtbar werden lässt. Dass etwa Kathryn Bigelows Dystopie "Strange Days" (1995) rasant durchfiel, ist kein Grund, in dem Film nicht ein helles Bewusstsein vom Stand des Kinos und der Gesellschaft zu entziffern. Und was heißt es, dass die Begegnung mit den Außerirdischen in "Arrival" (2016) der Situation des Zuschauers vor der Leinwand nachgebildet ist?

Gass' Schlüsse und Analysen muss man nicht alle teilen; entscheidender ist, dass sie einen auffordern, den eigenen Blick neu zu justieren. Und zum Beispiel im "Weißen Hai" und, massiver noch, in "Jurassic Park" zu sehen, wie Filme zu etwas werden, das für Produkte jenseits ihrer selbst wirbt: Bestandteile eines Merchandising, das bei "Jurassic Park" schon fast tausend verschiedene Produkte umfasste und den Film wie den Appendix seiner Vermarktung erscheinen lässt. "Der weiße Hai", hier zitiert Gass den amerikanischen Filmkritiker J. Hoberman, "war die Unterhaltungsindustrie. Mit ,Jaws' (der Originaltitel, Anm. d. Red.) begann die Unterhaltungsindustrie von sich selbst zu erzählen."

Das Interessante an Gass' Verfahren ist, dass es sich keinem larmoyanten Kulturpessimismus und entsprechenden Rettungsmissionen verschreibt. Gass mag im Kino eine längst verflossene Utopie sehen - er weiß auch, dass sie nicht mehr zu retten ist. Wichtiger ist der auf den ersten Blick paradoxe Befund: Je mehr Filme, desto weniger Kino. Dass mehr Filme als je zuvor produziert und angesehen werden, an mehr verschiedenen Orten und auf mehr Endgeräten als je zuvor, hat dazu geführt, dass es dem Kino auch kommerziell schlechter als je zuvor geht: "Das Kino schwindet fast unmerklich aus den Filmen, die aus dem Kino verschwinden."

Gass, der auch ein scharfer Polemiker sein kann mit seiner Kritik am deprimierenden Mittelmaß der deutschen Filmförderwelt oder an der "denkfaulen und hedonistischen Zurichtung" von Filmen für einen "kulturbürgerlichen" Gebrauch, bleibt neugierig, was sich aus dieser Konstellation ergibt. Kommerziell, das ist absehbar, liegt die Zukunft in der orts- und zeitunabhängigen individuellen Nutzung bewegter Bilder. Künstlerisch ist eine Prognose schwieriger. In Games wie "Red Dead Redemption 2" erkennt Gass zwar "eine faszinierende, neuartige Konvergenz zwischen (. . .) dem, der schaut, und dem, der handelt". Aber es ist klar, dass sich hier nicht auf eine Fortsetzung des Kinos mit anderen Mitteln hoffen lässt, wenn Kino nicht zum völlig beliebigen Begriff werden soll.

Wie das Kino die nächsten zehn Jahre überleben wird, weiß Gass natürlich ebenso wenig wie die Hollywood-Akteure, die wohl immer noch behaupten würden, dass sie fürs Kino produzieren. Statt einer Antwort wird man aber womöglich auch das Verschwinden der Frage erleben. Wenn Kino eine kulturelle Praxis ist, muss sie auch immer wieder von Generation zu Generation überliefert und neu erlernt werden. Fehlt diese lebensweltliche Selbstverständlichkeit, schrumpft eine solche Praxis schnell zur Folklore. Und klassische Kinofilme erscheinen dann als erhaltungswürdige völkerkundliche Artefakte. Der 1992 verstorbene französische Kritiker Serge Daney, der bei Gass auch kurz auftaucht, muss das dunkel geahnt haben, als er schrieb: "Das Kino ist eine große Sache gewesen, viel größer, als ich dachte, selbst wenn sie heute kleiner ist, als man denkt."

PETER KÖRTE

Zum Weiterlesen: Lars Henrik Gass: "Filmgeschichte als Kinogeschichte". Spector Books, 116 Seiten, 14 Euro

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