Edgar Reitz hat den deutschen Autorenfilm mitbegründet, mit seiner « Heimat »-Trilogie Filmgeschichte geschrieben. So wie er dort eindrucksvoll das persönlich Erlebte mit den Zeitläufen verband, tut er es auch hier - in seiner Autobiographie. Reitz erzählt von seiner Kindheit in den dreißiger Jahren, einer Jugend im Krieg, der Nachkriegszeit, dem jungen Mann, den es in die Ferne zieht, seinen Studienjahren in München, wo sich ihm eine neue Welt der Kultur eröffnet, und schließlich von der Filmkunst: Mit den Unterzeichnern des Oberhausener Manifests verbreitet er den Slogan « Papas Kino ist tot! », die Geburtsstunde des Neuen Deutschen Films; er begegnet Literaten wie Günter Eich, internationalen Filmgrößen wie Romy Schneider, Bernardo Bertolucci oder Luis Buñuel, arbeitet mit Schauspielerinnen und Schauspielern wie Hannelore Elsner und Mario Adorf, Regisseuren wie Alexander Kluge und Werner Herzog.
Reitz ist ein großer Chronist deutscher Sehnsucht und Geschichte, zugleich ein feinfühliger Erzähler, der uns von der Vorkriegszeit über die Wiedervereinigung bis in die Gegenwart führt. Immer wieder kreist er um die Frage, was es bedeutet, eine Heimat zu haben und sich von ihr loszumachen, aufzubrechen oder zurückzukehren - und trifft damit ins Herz unserer Zeit. Ein besonderes Dokument des Lebens wie eines ganzen Jahrhunderts, kraftvoll erzählt und berührend, beeindruckend in seiner Farbigkeit.
Ein großes Erinnerungswerk und zugleich hochaktuell.
Reitz ist ein großer Chronist deutscher Sehnsucht und Geschichte, zugleich ein feinfühliger Erzähler, der uns von der Vorkriegszeit über die Wiedervereinigung bis in die Gegenwart führt. Immer wieder kreist er um die Frage, was es bedeutet, eine Heimat zu haben und sich von ihr loszumachen, aufzubrechen oder zurückzukehren - und trifft damit ins Herz unserer Zeit. Ein besonderes Dokument des Lebens wie eines ganzen Jahrhunderts, kraftvoll erzählt und berührend, beeindruckend in seiner Farbigkeit.
Ein großes Erinnerungswerk und zugleich hochaktuell.
So detailreich, so bunt, so lebendig. Der Spiegel 20220909
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Als Leser ist man schon überrascht, dass der hier rezensierende Filmkritiker Bert Rebhandl so wenig mit Edgar Reitz anfangen kann, der mit "Heimat" doch immerhin als einer der ersten deutschen Filmregisseure die epische Serie mitbegründet hat. Das Erinnern dürfte für Reitz nicht einfach gewesen sein, denn viele Erinnerungen hatte er ja schon für seine Hunsrückserie "Heimat" fiktionalisiert, erkennt der Kritiker, der dann brav die wichtigsten Stationen im Leben von Reitz referiert und dessen Diskretion bei der Beschreibung seiner privaten Beziehungen wohlwollend zur Kenntnis nimmt. Wer sich für Reitz interessiert, wird hier "hinreichend Interessantes" finden, bilanziert Rebhandl, dem vielleicht nicht ganz klar war, wie herablassend das klingt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.10.2022Das epische Gefühl für den Lauf der Zeit
Der Alltagshistoriker des Neuen Deutschen Films blickt zurück: Edgar Reitz verleiht seiner Autobiographie einen Hauch von Proust.
Von Bert Rebhandl
Im Hunsrück gibt es ein Wort, das klingt, als wäre es von Heidegger in den Volksmund geschmuggelt worden: Geheischnis. Nicht zu verwechseln mit Geheimnis, auch wenn sich darin eines verbirgt, nämlich die Grundlage für ein gutes Leben. Der Filmemacher Edgar Reitz, der anlässlich seines bald bevorstehenden neunzigsten Geburtstags eine Autobiographie geschrieben hat, sieht sich in einem Geheischnis geborgen. Er ist ein Mann, ein Künstler, der in der Kindheit eine gute "Hege" erfuhr (das wäre die Wortwurzel), der später auf seine konkrete Verwurzelung in dieser deutschen Landschaft zurückkam und mit einem Zyklus über den Hunsrück seinem Werk eine Mitte gab: "Heimat" wuchs ab 1981 zu einem Riesenwerk heran, das die deutsche Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts von unten erzählte, in einer dramaturgischen Parallelaktion zu vergleichbaren Bestrebungen auch in der Geschichtswissenschaft.
Edgar Reitz ist der Alltagshistoriker des Neuen Deutschen Films, zugleich auch ein Pionier dessen, was sich in den Nullerjahren als Quality TV in Amerika herausbildete, wenngleich in seinem Fall unter den Bedingungen des deutschen öffentlich-rechtlichen Fernsehens und teilweise dessen spezifischer Träg- und Feigheiten. Er war 1962 Unterzeichner des berühmten Oberhausener Manifests, mit dem das Nachkriegskino sich aus den Verdrängungen von "Papas Kino" zu befreien versuchte, ging neben den Heroen wie Herzog, Wenders oder Fassbinder aber sehr eigene Wege, denn er fand auf einem Umweg zum Kino, als Industriefilmer, also als ein Auftragsarbeiter des deutschen Wirtschaftswunders.
Reitz hat eine Menge zu erzählen, und er nimmt sich dafür auch ausführlich Platz, auf mehr als siebenhundert Seiten versucht er, "Filmzeit, Lebenszeit" ineinander zu verschränken. Er ist sich dabei der Tatsache bewusst, dass er mit "Heimat" auch so etwas wie eine Gedächtnisbarriere geschaffen hat. Es ist gar nicht so leicht, sich hinter diese Fiktionalisierung zurückzuerinnern, schließlich ging er bei seinen Drehbüchern vielfach von eigenen Erlebnissen aus. "Namenlose Eindrücke leuchten in die Filme hinein", schreibt er einmal, an anderen Stellen kann er die Eindrücke genau benennen, etwa einen "Steinguttopf mit Dickmilch", den man wohl auch als Zeichen für ein Geheischnis sehen kann - und für einen Umgang mit den landwirtschaftlichen Produkten lange vor den Großmolkereien. Ein Hauch von Proust ist hier erkennbar, zugleich spielt die narrative Auflösung ins Szenische (in eine Vorwegnahme der späteren filmischen Einstellung) schon damals ein Rolle: "Stickelscher verziele" ist eine Hunsrücker Formulierung für das Erzählen von Begebenheiten, wie es vor allem der Großvater mütterlicherseits konnte, ein Streckengeher bei der Bahn.
Reitz nimmt den Hunsrück als Horizont mit nach München, wo er in einer "Gesellschaft für bildenden Film" mit Themen wie Aluminium oder experimentelle Krebsforschung konfrontiert wird. Er lernt Willy Zielke kennen, eine unglückliche Schlüsselfigur des deutschen Kinos im zwanzigsten Jahrhundert, ein Kollege und Opfer von Leni Riefenstahl (F.A.Z. vom 23. Oktober 2020). Reitz kommt als filmischer Handlungsreisender viel herum, Deutschland versorgt die Welt mit Pestiziden, er begibt sich nebenbei auf die Spuren mesoamerikanischer Kulturen. Mit Alexander Kluge geht er nicht ganz friktionsfreie Arbeitspartnerschaften ein, schließlich wechselt er selbst ins Metier des Spielfilms: Von "Mahlzeiten" (1967) bis "Die Reise nach Wien" (1973) ist er - zum Teil in einer experimentellen Kunst- und Lebenspartnerschaft mit Ula Stöckl - genuin Autorenfilmer, ein Begriff, auf den es ihm stark ankommt. Er sieht sich in dieser Rolle auch in einer kritischen Distanz zu den Ideologisierungen der Achtundsechziger, schon damals interessiert ihn das "epische Gefühl für den Lauf der Zeit" mehr als deren revolutionäre Veränderung. Sein Hauptwerk aus diesen Jahren, einen Film über den "Schneider von Ulm", einen Pionier des Traums vom Fliegen, sieht er durch eine einzelne Rezension des "Spiegel" ruiniert. "Die Filmkunst hatte mir kein Glück gebracht", jedenfalls nicht die geläufige.
Sein Glück fand Reitz an einer Schnittstelle zwischen Kino und Fernsehen. Inspiration wurde ihm die Serie, die 1979 nahezu die ganze Nation interessierte: "Holocaust", der amerikanische Vierteiler, der erstmals in einer populären Filmerzählung das Schicksal jüdischer Deutscher von der verweigerten Assimilation bis Auschwitz nachvollziehbar machte. Reitz sah die Serie auf Sylt, sie brachte ihn auf den Gedanken, einen Film zu machen, "der einen ganzen Tag dauert".
Er realisierte diesen Film in elf Teilen: "Heimat - Eine deutsche Chronik" wurde zu einem Triumph, zu einem paradigmatischen Projekt für die Möglichkeiten des filmischen Erzählens. Reitz kam davon nicht mehr wirklich los, bis ins hohe Alter gab es immer neue Nachfolgeprojekte; die Fortsetzung "Die zweite Heimat. Chronik einer Jugend in dreizehn Filmen" bescherte ihm rund um den sechzigsten Geburtstag 1992 einen "Premierenrausch" und den "glücklichsten Moment" seines Lebens.
Neben dem künstlerischen Werdegang und dessen Deutung spielen in Memoiren dieser Art natürlich auch die privaten Verhältnisse eine Rolle. Reitz erzählt freimütig und angemessen diskret von seinen Beziehungen. Dabei entstehen biographische Vignetten wie nebenbei, zum Beispiel die seiner ersten Frau, die anfangs bei der Post arbeitete und so gar nicht recht nach München zu passen schien, die später aber Psychologie studierte und offenkundig eine höchst gelungene Emanzipation vollzog. Oder die Beziehung zu einer Physiotherapeutin, mit der es nicht gelang, ein Gleichgewicht der Lebensbereiche zu finden.
Seinen zugleich traditionalistischen, aber immer wieder auch technokratischen Begriff von Kino (vor allem im Zusammenhang mit seinem Engagement am Zentrum für Kunst und Medien in Karlsruhe) versucht Reitz gar nicht erst groß miteinander zu vermitteln. Für ihn ist das Kino ein "Universalmedium", mit dem er sich seinem Lebensthema widmen konnte: der Zeit. Wer seine eigene Zeit auf die Erinnerungen von Edgar Reitz verwenden möchte, wird in diesem Buch durchaus hinreichend Interessantes finden, um sie nicht für verschwendet halten zu müssen.
Edgar Reitz: "Filmzeit, Lebenszeit". Erinnerungen.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2022. 672 S., geb., 30,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Alltagshistoriker des Neuen Deutschen Films blickt zurück: Edgar Reitz verleiht seiner Autobiographie einen Hauch von Proust.
Von Bert Rebhandl
Im Hunsrück gibt es ein Wort, das klingt, als wäre es von Heidegger in den Volksmund geschmuggelt worden: Geheischnis. Nicht zu verwechseln mit Geheimnis, auch wenn sich darin eines verbirgt, nämlich die Grundlage für ein gutes Leben. Der Filmemacher Edgar Reitz, der anlässlich seines bald bevorstehenden neunzigsten Geburtstags eine Autobiographie geschrieben hat, sieht sich in einem Geheischnis geborgen. Er ist ein Mann, ein Künstler, der in der Kindheit eine gute "Hege" erfuhr (das wäre die Wortwurzel), der später auf seine konkrete Verwurzelung in dieser deutschen Landschaft zurückkam und mit einem Zyklus über den Hunsrück seinem Werk eine Mitte gab: "Heimat" wuchs ab 1981 zu einem Riesenwerk heran, das die deutsche Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts von unten erzählte, in einer dramaturgischen Parallelaktion zu vergleichbaren Bestrebungen auch in der Geschichtswissenschaft.
Edgar Reitz ist der Alltagshistoriker des Neuen Deutschen Films, zugleich auch ein Pionier dessen, was sich in den Nullerjahren als Quality TV in Amerika herausbildete, wenngleich in seinem Fall unter den Bedingungen des deutschen öffentlich-rechtlichen Fernsehens und teilweise dessen spezifischer Träg- und Feigheiten. Er war 1962 Unterzeichner des berühmten Oberhausener Manifests, mit dem das Nachkriegskino sich aus den Verdrängungen von "Papas Kino" zu befreien versuchte, ging neben den Heroen wie Herzog, Wenders oder Fassbinder aber sehr eigene Wege, denn er fand auf einem Umweg zum Kino, als Industriefilmer, also als ein Auftragsarbeiter des deutschen Wirtschaftswunders.
Reitz hat eine Menge zu erzählen, und er nimmt sich dafür auch ausführlich Platz, auf mehr als siebenhundert Seiten versucht er, "Filmzeit, Lebenszeit" ineinander zu verschränken. Er ist sich dabei der Tatsache bewusst, dass er mit "Heimat" auch so etwas wie eine Gedächtnisbarriere geschaffen hat. Es ist gar nicht so leicht, sich hinter diese Fiktionalisierung zurückzuerinnern, schließlich ging er bei seinen Drehbüchern vielfach von eigenen Erlebnissen aus. "Namenlose Eindrücke leuchten in die Filme hinein", schreibt er einmal, an anderen Stellen kann er die Eindrücke genau benennen, etwa einen "Steinguttopf mit Dickmilch", den man wohl auch als Zeichen für ein Geheischnis sehen kann - und für einen Umgang mit den landwirtschaftlichen Produkten lange vor den Großmolkereien. Ein Hauch von Proust ist hier erkennbar, zugleich spielt die narrative Auflösung ins Szenische (in eine Vorwegnahme der späteren filmischen Einstellung) schon damals ein Rolle: "Stickelscher verziele" ist eine Hunsrücker Formulierung für das Erzählen von Begebenheiten, wie es vor allem der Großvater mütterlicherseits konnte, ein Streckengeher bei der Bahn.
Reitz nimmt den Hunsrück als Horizont mit nach München, wo er in einer "Gesellschaft für bildenden Film" mit Themen wie Aluminium oder experimentelle Krebsforschung konfrontiert wird. Er lernt Willy Zielke kennen, eine unglückliche Schlüsselfigur des deutschen Kinos im zwanzigsten Jahrhundert, ein Kollege und Opfer von Leni Riefenstahl (F.A.Z. vom 23. Oktober 2020). Reitz kommt als filmischer Handlungsreisender viel herum, Deutschland versorgt die Welt mit Pestiziden, er begibt sich nebenbei auf die Spuren mesoamerikanischer Kulturen. Mit Alexander Kluge geht er nicht ganz friktionsfreie Arbeitspartnerschaften ein, schließlich wechselt er selbst ins Metier des Spielfilms: Von "Mahlzeiten" (1967) bis "Die Reise nach Wien" (1973) ist er - zum Teil in einer experimentellen Kunst- und Lebenspartnerschaft mit Ula Stöckl - genuin Autorenfilmer, ein Begriff, auf den es ihm stark ankommt. Er sieht sich in dieser Rolle auch in einer kritischen Distanz zu den Ideologisierungen der Achtundsechziger, schon damals interessiert ihn das "epische Gefühl für den Lauf der Zeit" mehr als deren revolutionäre Veränderung. Sein Hauptwerk aus diesen Jahren, einen Film über den "Schneider von Ulm", einen Pionier des Traums vom Fliegen, sieht er durch eine einzelne Rezension des "Spiegel" ruiniert. "Die Filmkunst hatte mir kein Glück gebracht", jedenfalls nicht die geläufige.
Sein Glück fand Reitz an einer Schnittstelle zwischen Kino und Fernsehen. Inspiration wurde ihm die Serie, die 1979 nahezu die ganze Nation interessierte: "Holocaust", der amerikanische Vierteiler, der erstmals in einer populären Filmerzählung das Schicksal jüdischer Deutscher von der verweigerten Assimilation bis Auschwitz nachvollziehbar machte. Reitz sah die Serie auf Sylt, sie brachte ihn auf den Gedanken, einen Film zu machen, "der einen ganzen Tag dauert".
Er realisierte diesen Film in elf Teilen: "Heimat - Eine deutsche Chronik" wurde zu einem Triumph, zu einem paradigmatischen Projekt für die Möglichkeiten des filmischen Erzählens. Reitz kam davon nicht mehr wirklich los, bis ins hohe Alter gab es immer neue Nachfolgeprojekte; die Fortsetzung "Die zweite Heimat. Chronik einer Jugend in dreizehn Filmen" bescherte ihm rund um den sechzigsten Geburtstag 1992 einen "Premierenrausch" und den "glücklichsten Moment" seines Lebens.
Neben dem künstlerischen Werdegang und dessen Deutung spielen in Memoiren dieser Art natürlich auch die privaten Verhältnisse eine Rolle. Reitz erzählt freimütig und angemessen diskret von seinen Beziehungen. Dabei entstehen biographische Vignetten wie nebenbei, zum Beispiel die seiner ersten Frau, die anfangs bei der Post arbeitete und so gar nicht recht nach München zu passen schien, die später aber Psychologie studierte und offenkundig eine höchst gelungene Emanzipation vollzog. Oder die Beziehung zu einer Physiotherapeutin, mit der es nicht gelang, ein Gleichgewicht der Lebensbereiche zu finden.
Seinen zugleich traditionalistischen, aber immer wieder auch technokratischen Begriff von Kino (vor allem im Zusammenhang mit seinem Engagement am Zentrum für Kunst und Medien in Karlsruhe) versucht Reitz gar nicht erst groß miteinander zu vermitteln. Für ihn ist das Kino ein "Universalmedium", mit dem er sich seinem Lebensthema widmen konnte: der Zeit. Wer seine eigene Zeit auf die Erinnerungen von Edgar Reitz verwenden möchte, wird in diesem Buch durchaus hinreichend Interessantes finden, um sie nicht für verschwendet halten zu müssen.
Edgar Reitz: "Filmzeit, Lebenszeit". Erinnerungen.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2022. 672 S., geb., 30,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Jeder Tag
ein Film
Die Erinnerungen des Regisseurs Edgar Reitz
Am Ende dieses Buches sind die „Heimat“-Filme und ihr Schöpfer endgültig untrennbar verschmolzen. Der Filmemacher Edgar Reitz hat immer wieder sein eigenes Leben, von der Kindheit im Hunsrück und dem Aufbruch in München, in die inzwischen sechzig Stunden umfassende Fernsehreihe einfließen lassen. Man kann sie getrost sein Lebenswerk nennen . „Ich glaube“, sagte er, als er mit dem Schreiben der „Heimat“ begonnen hatte, zu seinem Produzenten, „ich habe in meinem Garten eine Ölquelle gefunden.“ So steht’s zumindest in seinen Memoiren, „Filmzeit, Lebenszeit: Erinnerungen“.
1984 lief „Heimat – Eine deutsche Chronik“ im Fernsehen, die Geschichte von Maria Simon aus dem Hunsrück, so alt wie das Jahrhundert, von 1919 bis zu ihrem Tod 1982 erstreckten sich die Episoden. Es folgten „Die zweite Heimat – Chronik einer Jugend“ (1992), konzentriert auf Marias Sohn Hermann, und „Heimat 3 – Chronik einer Zeitenwende“. In all diese Geschichten fließen eigene Erfahrungen und Erinnerungen ein, manche Figur ist aus dem Leben von Edgar Reitz entliehen, die erste große Liebe, auch sie von einer Filmfigur so verstellt, dass er sich an die echte Frau kaum noch erinnern kann.
Sein Schabbach liegt im selben Universum wie William Faulkners Yoknapatawpha County, wo die faktenbasierten Fiktionen ihr Eigenleben entwickeln. Edgar Reitz, geboren 1932 in Morbach im Hunsrück – am 1. November wird er neunzig Jahre alt –, hat nun nach Kräften versucht zu fassen zu bekommen, was er erlebt und was er ersponnen hat, und das war gar nicht so einfach.
Erinnerungen sind ganz seltsame, fragile Gebilde. Hat sich das Erinnerte so zugetragen, ganz selbsttätig in die Hirnrinde gefressen, wie es geschah, ist es überlagert von der Wahrnehmung anderer oder geformt von dem, was man ist? Es gibt nur Trümmer der Vergangenheit, findet Reitz, aber in seinem Fall ist es noch ein bisschen verzwickter, weil es ja ein zweites Hunsrück gibt.
Die Anekdote von der Hochzeit mit seiner ersten Frau illustriert das auf sehr hübsche und lustige Weise: Weil er sich bewusst ist, dass in seinem Kopf längst seine Filmfassung das zugrunde liegende Ereignis verdrängt hat, hat er sie gefragt, und dabei herausgefunden, dass auch sie längst nur noch im Kopf hat, wie sich das Ganze in „Die zweite Heimat“ zuträgt. Ein Triumph der Kunst über das echte Leben. Schabbach ist jetzt überall.
In manchen Erinnerungen ist Edgar Reitz erschütternd nüchtern. Er gehört zu den Begründern des Neuen Deutschen Films, war 1962 bei der Verlesung des Oberhausener Manifests dabei, als Opas Kino für tot erklärt wurde – aber diese Episode in seinem Leben umfasst nur ein paar Seiten, ihm gefallen die Legenden nicht, die sich darum ranken, das große „Wir“ einer Aufbruchsbewegung hat er nicht verspürt. Mit Alexander Kluge, der auch dabei war und ein Wegbegleiter, war er jedenfalls noch per Sie. Schreibt er.
Alles ist immer der Zeit geschuldet, und gerade Reitz hat sich als Filmemacher als Chronist verstanden, überhaupt sahen sich die jungen Filmemacher der Sechziger, schreibt er einmal, als „die legitimen Chronisten der deutschen Geschichte“. Es ist, im Fall von „Heimat“, eine von unten erzählte Historie, die immer bei den Menschen bleibt, die das Weltgeschehen aushalten müssen, und sich nie dort hinbewegt, wo, wie man so schön sagt, die Geschichte gemacht wird. Und so ähnlich erzählt er nun auch von sich selbst: Wie er sein Abzeichen der Hitlerjugend zerschlug, wie ihm dämmerte, dass der Vater doch in die Partei eingetreten war. Man ahnt: Was auch immer geschah, irgendwie gingen die Dinge weiter, es gab einen Alltag, unter den Nazis, im Krieg. Die Schilderung einer Kindheit im Krieg hat derzeit noch einmal mehr Gewicht bekommen, oder die, wie es ist in einer zerstörten Stadt, noch Jahre später – Reitz kam 1952 nach München und beschreibt, wie die Studenten Wiederaufbaupunkte sammeln mussten, wie sie den Mörtel von alten Ziegeln herunterklopfen: „München war ein Trümmerfeld. Es gab kaum eine Straße, in der nicht die Hälfte aller Häuser Ruinen waren, viele davon mit bizarr in den Himmel ragenden Mauerresten oder Giebeln, von denen noch verrußte Dachbalken oder Eisenträger herabhingen.“
Dafür gibt es bald fast keine Augenzeugen mehr, und vielleicht ist es ja tatsächlich wichtiger, solche Momente aus einem Leben festzuhalten, als die vermeintliche Aufbruchstimmung von Oberhausen zu beschwören, die es am Ende vielleicht wirklich nie so gab. Vielleicht würde man sich in dieser ausführlichen Beschreibung des Filmemachens in den Sechzigern und Siebzigern dennoch wünschen, dass Reitz Ordnung in die Geschichte des Neuen Deutschen Films bringt – aber dazu hat er keine Lust, oder vielleicht bekommt man auch keine Übersicht, wenn man mittendrin steckt. Über weite Strecken sind diese Memoiren ein Buch übers Filmemachen an sich, eine Theorie des Erzählens, das seine Wurzeln braucht in der Wirklichkeit, um die Glaubwürdigkeit nicht zu verlieren. Er nennt das das „Großvaterprinzip“, weil er’s seinem Großvater abgeschaut hat.
An manchen Stellen sind sie vielleicht zu sehr einem Tagebuch gleich, der Geschichte eines Lebens, die man sich selbst erzählt, Erinnerung um der Erinnerung wegen. Jeder Tag des Lebens könnte einen großartigen Film abgeben, mit dieser Behauptung beginnt diese Erzählung, aber Reitz demontiert sie gleich selber, und er hat ja recht: Es haben eben nicht alle Tage dieselbe Fallhöhe, aber „das Erzählen bringt die Erinnerungen in Sicherheit“. Er schreibt all dies mit demselben Sinn für Poesie auf, der auch seine Filme auszeichnet, und den er wunderbar in Bilder übersetzen kann – aber manchmal sind es der privaten Wendungen vielleicht doch ein bisschen viel.
Am schönsten ist „Filmzeit“ immer dann, wenn es essayistisch wird. All die Gedanken beispielsweise, die sich Reitz über die Funktion und Funktionsweise von Erinnerung macht – einmal gleicht er das, was er von seiner ersten Filmvorstellung als Kind noch weiß, mit der Wirklichkeit ab, was man ja nur selten kann. Für ihn aber hat ein Filmwissenschaftler Film, Ort und Stunde herausbekommen und die DVD gleich beigelegt – ein schönes Beispiel für die Streiche, die uns die eigene Wahrnehmung spielt.
„Die Sehnsucht will weg von der Heimat, die Wehmut will zurück zu ihr“, schreibt Reitz in dem Abschnitt, in dem er versucht, den Begriff für sich zu klären, den er zunächst, als Kind der Nazi-Zeit, als Titel abgelehnt hat. Es ist entweder Zufall oder Gespür, dass sich der Begriff in den Jahrzehnten der Globalisierung, die zwischen der Erstausstrahlung von „Heimat“ und der Gegenwart liegen, so gewandelt hat. Letztlich findet er sie sogar, in einer unendlich verzerrten, hohlen Form im Netz wieder, „als Zugehörigkeitsfanatismus“, und damit bringt er etwas auf den Punkt. Es spricht dafür, dass hinter „Heimat“ Gespür steckt für das, was noch kommt.
SUSAN VAHABZADEH
„Die Sehnsucht will weg
von der Heimat, die
Wehmut will zurück zu ihr.“
Edgar Reitz: Filmzeit, Lebenszeit. Erinnerungen. Rowohlt Berlin, Berlin 2022.
672 Seiten, 30 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
ein Film
Die Erinnerungen des Regisseurs Edgar Reitz
Am Ende dieses Buches sind die „Heimat“-Filme und ihr Schöpfer endgültig untrennbar verschmolzen. Der Filmemacher Edgar Reitz hat immer wieder sein eigenes Leben, von der Kindheit im Hunsrück und dem Aufbruch in München, in die inzwischen sechzig Stunden umfassende Fernsehreihe einfließen lassen. Man kann sie getrost sein Lebenswerk nennen . „Ich glaube“, sagte er, als er mit dem Schreiben der „Heimat“ begonnen hatte, zu seinem Produzenten, „ich habe in meinem Garten eine Ölquelle gefunden.“ So steht’s zumindest in seinen Memoiren, „Filmzeit, Lebenszeit: Erinnerungen“.
1984 lief „Heimat – Eine deutsche Chronik“ im Fernsehen, die Geschichte von Maria Simon aus dem Hunsrück, so alt wie das Jahrhundert, von 1919 bis zu ihrem Tod 1982 erstreckten sich die Episoden. Es folgten „Die zweite Heimat – Chronik einer Jugend“ (1992), konzentriert auf Marias Sohn Hermann, und „Heimat 3 – Chronik einer Zeitenwende“. In all diese Geschichten fließen eigene Erfahrungen und Erinnerungen ein, manche Figur ist aus dem Leben von Edgar Reitz entliehen, die erste große Liebe, auch sie von einer Filmfigur so verstellt, dass er sich an die echte Frau kaum noch erinnern kann.
Sein Schabbach liegt im selben Universum wie William Faulkners Yoknapatawpha County, wo die faktenbasierten Fiktionen ihr Eigenleben entwickeln. Edgar Reitz, geboren 1932 in Morbach im Hunsrück – am 1. November wird er neunzig Jahre alt –, hat nun nach Kräften versucht zu fassen zu bekommen, was er erlebt und was er ersponnen hat, und das war gar nicht so einfach.
Erinnerungen sind ganz seltsame, fragile Gebilde. Hat sich das Erinnerte so zugetragen, ganz selbsttätig in die Hirnrinde gefressen, wie es geschah, ist es überlagert von der Wahrnehmung anderer oder geformt von dem, was man ist? Es gibt nur Trümmer der Vergangenheit, findet Reitz, aber in seinem Fall ist es noch ein bisschen verzwickter, weil es ja ein zweites Hunsrück gibt.
Die Anekdote von der Hochzeit mit seiner ersten Frau illustriert das auf sehr hübsche und lustige Weise: Weil er sich bewusst ist, dass in seinem Kopf längst seine Filmfassung das zugrunde liegende Ereignis verdrängt hat, hat er sie gefragt, und dabei herausgefunden, dass auch sie längst nur noch im Kopf hat, wie sich das Ganze in „Die zweite Heimat“ zuträgt. Ein Triumph der Kunst über das echte Leben. Schabbach ist jetzt überall.
In manchen Erinnerungen ist Edgar Reitz erschütternd nüchtern. Er gehört zu den Begründern des Neuen Deutschen Films, war 1962 bei der Verlesung des Oberhausener Manifests dabei, als Opas Kino für tot erklärt wurde – aber diese Episode in seinem Leben umfasst nur ein paar Seiten, ihm gefallen die Legenden nicht, die sich darum ranken, das große „Wir“ einer Aufbruchsbewegung hat er nicht verspürt. Mit Alexander Kluge, der auch dabei war und ein Wegbegleiter, war er jedenfalls noch per Sie. Schreibt er.
Alles ist immer der Zeit geschuldet, und gerade Reitz hat sich als Filmemacher als Chronist verstanden, überhaupt sahen sich die jungen Filmemacher der Sechziger, schreibt er einmal, als „die legitimen Chronisten der deutschen Geschichte“. Es ist, im Fall von „Heimat“, eine von unten erzählte Historie, die immer bei den Menschen bleibt, die das Weltgeschehen aushalten müssen, und sich nie dort hinbewegt, wo, wie man so schön sagt, die Geschichte gemacht wird. Und so ähnlich erzählt er nun auch von sich selbst: Wie er sein Abzeichen der Hitlerjugend zerschlug, wie ihm dämmerte, dass der Vater doch in die Partei eingetreten war. Man ahnt: Was auch immer geschah, irgendwie gingen die Dinge weiter, es gab einen Alltag, unter den Nazis, im Krieg. Die Schilderung einer Kindheit im Krieg hat derzeit noch einmal mehr Gewicht bekommen, oder die, wie es ist in einer zerstörten Stadt, noch Jahre später – Reitz kam 1952 nach München und beschreibt, wie die Studenten Wiederaufbaupunkte sammeln mussten, wie sie den Mörtel von alten Ziegeln herunterklopfen: „München war ein Trümmerfeld. Es gab kaum eine Straße, in der nicht die Hälfte aller Häuser Ruinen waren, viele davon mit bizarr in den Himmel ragenden Mauerresten oder Giebeln, von denen noch verrußte Dachbalken oder Eisenträger herabhingen.“
Dafür gibt es bald fast keine Augenzeugen mehr, und vielleicht ist es ja tatsächlich wichtiger, solche Momente aus einem Leben festzuhalten, als die vermeintliche Aufbruchstimmung von Oberhausen zu beschwören, die es am Ende vielleicht wirklich nie so gab. Vielleicht würde man sich in dieser ausführlichen Beschreibung des Filmemachens in den Sechzigern und Siebzigern dennoch wünschen, dass Reitz Ordnung in die Geschichte des Neuen Deutschen Films bringt – aber dazu hat er keine Lust, oder vielleicht bekommt man auch keine Übersicht, wenn man mittendrin steckt. Über weite Strecken sind diese Memoiren ein Buch übers Filmemachen an sich, eine Theorie des Erzählens, das seine Wurzeln braucht in der Wirklichkeit, um die Glaubwürdigkeit nicht zu verlieren. Er nennt das das „Großvaterprinzip“, weil er’s seinem Großvater abgeschaut hat.
An manchen Stellen sind sie vielleicht zu sehr einem Tagebuch gleich, der Geschichte eines Lebens, die man sich selbst erzählt, Erinnerung um der Erinnerung wegen. Jeder Tag des Lebens könnte einen großartigen Film abgeben, mit dieser Behauptung beginnt diese Erzählung, aber Reitz demontiert sie gleich selber, und er hat ja recht: Es haben eben nicht alle Tage dieselbe Fallhöhe, aber „das Erzählen bringt die Erinnerungen in Sicherheit“. Er schreibt all dies mit demselben Sinn für Poesie auf, der auch seine Filme auszeichnet, und den er wunderbar in Bilder übersetzen kann – aber manchmal sind es der privaten Wendungen vielleicht doch ein bisschen viel.
Am schönsten ist „Filmzeit“ immer dann, wenn es essayistisch wird. All die Gedanken beispielsweise, die sich Reitz über die Funktion und Funktionsweise von Erinnerung macht – einmal gleicht er das, was er von seiner ersten Filmvorstellung als Kind noch weiß, mit der Wirklichkeit ab, was man ja nur selten kann. Für ihn aber hat ein Filmwissenschaftler Film, Ort und Stunde herausbekommen und die DVD gleich beigelegt – ein schönes Beispiel für die Streiche, die uns die eigene Wahrnehmung spielt.
„Die Sehnsucht will weg von der Heimat, die Wehmut will zurück zu ihr“, schreibt Reitz in dem Abschnitt, in dem er versucht, den Begriff für sich zu klären, den er zunächst, als Kind der Nazi-Zeit, als Titel abgelehnt hat. Es ist entweder Zufall oder Gespür, dass sich der Begriff in den Jahrzehnten der Globalisierung, die zwischen der Erstausstrahlung von „Heimat“ und der Gegenwart liegen, so gewandelt hat. Letztlich findet er sie sogar, in einer unendlich verzerrten, hohlen Form im Netz wieder, „als Zugehörigkeitsfanatismus“, und damit bringt er etwas auf den Punkt. Es spricht dafür, dass hinter „Heimat“ Gespür steckt für das, was noch kommt.
SUSAN VAHABZADEH
„Die Sehnsucht will weg
von der Heimat, die
Wehmut will zurück zu ihr.“
Edgar Reitz: Filmzeit, Lebenszeit. Erinnerungen. Rowohlt Berlin, Berlin 2022.
672 Seiten, 30 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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