Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.08.1999Die Verteilung und ihre Wirkungen
Lücke zwischen politischer Bedeutung und wissenschaftlicher Beachtung
Armin Bohnet: Finanzwissenschaft: Grundlagen staatlicher Verteilungspolitik. 2. Auflage. Oldenbourg Wissenschaftsverlag, München 1999, 410 Seiten, 88 DM.
Spätestens mit dem Regierungswechsel in Bonn haben alle politischen Debatten über Steuern, Renten oder Gesundheit einen zentralen Anknüpfungspunkt gefunden: die Frage, welche Verteilungswirkungen mit staatlichem Handeln verbunden sind. Wer profitiert tatsächlich von einem Steuersystem mit hohen Steuersätzen, aber zahllosen Schlupflöchern? Welche Einkommensschichten werden von einer Erhöhung der Mehrwertsteuer oder der Mineralölsteuer besonders stark betroffen? Welche Lasten mutet ein umlagefinanziertes Rentensystem künftigen Generationen zu? Antworten auf diese Fragen bietet die Verteilungstheorie - eine volkswirtschaftliche Disziplin, die zwar in der Wirtschaftspolitik höchste Bedeutung genießt, seit einiger Zeit aber etwas in den Hintergrund des wissenschaftlichen Interesses gerückt ist.
In diese Lücke stößt Armin Bohnet mit seinem Buch "Finanzwissenschaft: Grundlagen staatlicher Verteilungspolitik", das sich an Wissenschaftler ebenso wie an Wirtschaftspolitiker richtet und einen breiten Überblick über die theoretischen wie empirischen Verteilungswirkungen staatlicher Einnahmen und Ausgaben bietet. Neu ist vor allem die Analyse der Verteilungswirkungen der Finanztransfers von West- nach Ostdeutschland nach 1991. Darin zeigt Bohnet, dass die mittleren Einkommensschichten zur Finanzierung der deutschen Einheit besonderes stark beigetragen haben. Zum Beispiel habe die Mehrwertsteuererhöhung die unteren und mittleren Einkommensschichten am stärksten belastet, da sie einen deutlich höheren Teil ihres Einkommens für Konsumgüter ausgäben als die Bezieher höherer Einkommen. Die Erhöhung der Mineralölsteuer schlage vor allem bei den Beziehern mittlerer Einkommen negativ ins Gewicht, die einen doppelt so hohen Teil ihres Nettoeinkommens für Benzin aufwendeten wie die Bezieher niedriger und hoher Einkommen. Dagegen wirke der Solidaritätszuschlag tendenziell progressiv, belastete somit die Besserverdienenden besonders stark. Der Anstieg der Beiträge zur Sozialversicherung habe dagegen eine eindeutig regressive Wirkung gehabt. Diese überproportional starke Belastung der unteren und mittleren Einkommensbezieher sei auf zwei Gründe zurückzuführen: Höhere Beiträge zur Sozialversicherung führten lediglich bis zur Beitragsbemessungsgrenze zu wachsenden Belastungen, bei den Besserverdienenden jedoch nicht mehr. Außerdem seien Selbständige und Freiberufler, die tendenziell in höheren Einkommensschichten anzusiedeln seien, von dieser Zusatzbelastung weitgehend ausgenommen worden.
Der Finanzwissenschaftler liefert in seinem Buch zudem ein umfassendes Datengerüst, das interessante Einblicke in die Wirkungen der Steuer- und Sozialpolitik der vergangenen Jahre ermöglicht. Zum Beispiel sei die Zahl der Personen, die Sozialhilfe oder ähnliche Leistungen erhielten, zwischen 1982 und 1996 von 1,1 Millionen auf 2,4 Millionen gestiegen. Die Ausgaben der Bundesanstalt für Arbeit seien in Westdeutschland zwischen 1990 und 1997 um 56 Prozent auf 64 Milliarden DM gestiegen, während sich die Einnahmen aus den Beiträgen dagegen um 120 Prozent auf 89 Milliarden DM erhöht hätten. Dieser Überschuss sei vor allem zur Deckung des gleichbleibend hohen Defizites von rund 35 Milliarden DM in der Arbeitslosenversicherung Ostdeutschlands notwendig gewesen.
Bohnet zeigt in seinem Buch auch einen wichtigen Grund für den heftigen politischen Streit über die Verteilungswirkungen, nämlich den Unterschied zwischen der beabsichtigten Verteilungswirkung zum Beispiel eines progressiv wirkenden Steuersystems und den tatsächlichen Verteilungswirkungen nach Ablauf aller Anpassungsreaktionen. Vielfach führten Änderungen des Arbeits-, Investitions und Konsumverhaltens der Menschen zu abweichenden Ergebnissen, die sogar die ursprünglich beabsichtigte Wirkung ins Gegenteil verkehren könnten.
HOLGER SCHMIDT
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Lücke zwischen politischer Bedeutung und wissenschaftlicher Beachtung
Armin Bohnet: Finanzwissenschaft: Grundlagen staatlicher Verteilungspolitik. 2. Auflage. Oldenbourg Wissenschaftsverlag, München 1999, 410 Seiten, 88 DM.
Spätestens mit dem Regierungswechsel in Bonn haben alle politischen Debatten über Steuern, Renten oder Gesundheit einen zentralen Anknüpfungspunkt gefunden: die Frage, welche Verteilungswirkungen mit staatlichem Handeln verbunden sind. Wer profitiert tatsächlich von einem Steuersystem mit hohen Steuersätzen, aber zahllosen Schlupflöchern? Welche Einkommensschichten werden von einer Erhöhung der Mehrwertsteuer oder der Mineralölsteuer besonders stark betroffen? Welche Lasten mutet ein umlagefinanziertes Rentensystem künftigen Generationen zu? Antworten auf diese Fragen bietet die Verteilungstheorie - eine volkswirtschaftliche Disziplin, die zwar in der Wirtschaftspolitik höchste Bedeutung genießt, seit einiger Zeit aber etwas in den Hintergrund des wissenschaftlichen Interesses gerückt ist.
In diese Lücke stößt Armin Bohnet mit seinem Buch "Finanzwissenschaft: Grundlagen staatlicher Verteilungspolitik", das sich an Wissenschaftler ebenso wie an Wirtschaftspolitiker richtet und einen breiten Überblick über die theoretischen wie empirischen Verteilungswirkungen staatlicher Einnahmen und Ausgaben bietet. Neu ist vor allem die Analyse der Verteilungswirkungen der Finanztransfers von West- nach Ostdeutschland nach 1991. Darin zeigt Bohnet, dass die mittleren Einkommensschichten zur Finanzierung der deutschen Einheit besonderes stark beigetragen haben. Zum Beispiel habe die Mehrwertsteuererhöhung die unteren und mittleren Einkommensschichten am stärksten belastet, da sie einen deutlich höheren Teil ihres Einkommens für Konsumgüter ausgäben als die Bezieher höherer Einkommen. Die Erhöhung der Mineralölsteuer schlage vor allem bei den Beziehern mittlerer Einkommen negativ ins Gewicht, die einen doppelt so hohen Teil ihres Nettoeinkommens für Benzin aufwendeten wie die Bezieher niedriger und hoher Einkommen. Dagegen wirke der Solidaritätszuschlag tendenziell progressiv, belastete somit die Besserverdienenden besonders stark. Der Anstieg der Beiträge zur Sozialversicherung habe dagegen eine eindeutig regressive Wirkung gehabt. Diese überproportional starke Belastung der unteren und mittleren Einkommensbezieher sei auf zwei Gründe zurückzuführen: Höhere Beiträge zur Sozialversicherung führten lediglich bis zur Beitragsbemessungsgrenze zu wachsenden Belastungen, bei den Besserverdienenden jedoch nicht mehr. Außerdem seien Selbständige und Freiberufler, die tendenziell in höheren Einkommensschichten anzusiedeln seien, von dieser Zusatzbelastung weitgehend ausgenommen worden.
Der Finanzwissenschaftler liefert in seinem Buch zudem ein umfassendes Datengerüst, das interessante Einblicke in die Wirkungen der Steuer- und Sozialpolitik der vergangenen Jahre ermöglicht. Zum Beispiel sei die Zahl der Personen, die Sozialhilfe oder ähnliche Leistungen erhielten, zwischen 1982 und 1996 von 1,1 Millionen auf 2,4 Millionen gestiegen. Die Ausgaben der Bundesanstalt für Arbeit seien in Westdeutschland zwischen 1990 und 1997 um 56 Prozent auf 64 Milliarden DM gestiegen, während sich die Einnahmen aus den Beiträgen dagegen um 120 Prozent auf 89 Milliarden DM erhöht hätten. Dieser Überschuss sei vor allem zur Deckung des gleichbleibend hohen Defizites von rund 35 Milliarden DM in der Arbeitslosenversicherung Ostdeutschlands notwendig gewesen.
Bohnet zeigt in seinem Buch auch einen wichtigen Grund für den heftigen politischen Streit über die Verteilungswirkungen, nämlich den Unterschied zwischen der beabsichtigten Verteilungswirkung zum Beispiel eines progressiv wirkenden Steuersystems und den tatsächlichen Verteilungswirkungen nach Ablauf aller Anpassungsreaktionen. Vielfach führten Änderungen des Arbeits-, Investitions und Konsumverhaltens der Menschen zu abweichenden Ergebnissen, die sogar die ursprünglich beabsichtigte Wirkung ins Gegenteil verkehren könnten.
HOLGER SCHMIDT
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