Ein verlassener Friedhof im Nirgendwo. Im sogenannten «Totenhaus» liegt leblos eine junge Frau in weißem Kleid, eine Bibel in der Hand. Fiona Griffiths ist fasziniert von der schönen Unbekannten. Zwar stellt sich bald heraus, dass sie eines natürlichen Todes gestorben ist, doch das macht den Fund nur noch mysteriöser. Und ungelöste Rätsel sind nicht Fionas Ding. Sie findet heraus, woher die Frau kam. Warum niemand sie als vermisst gemeldet hat. Und welches Schicksal ihr bestimmt war. Ein Schicksal, schlimmer als der Tod. Es droht auch anderen. Zum Beispiel Fiona.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.04.2019Diese Frau muss man kennen
Harry Bingham hat mit Fiona Griffiths eine Ermittlerin geschaffen, deren Fälle zum intelligentesten und vergnüglichsten Krimistoff dieser Jahre gehören.
Kann sich ein mittelalter Mann in eine halb so alte Frau einfühlen, die in ihrer Jugend am Cotard-Syndrom litt, einer schweren psychischen Störung, die dazu führt, dass sich die Betroffenen nicht sicher sind, ob sie am Leben sind oder nicht viel eher tot? Einfühlen in eine Mittzwanzigern, die als Zweijährige auf dem Rücksitz eines Cabrios ausgesetzt wurde und das Glück hatte, dass der Wagen einem Paar gehörte, das als Pflegeeltern ihr Bestes geben würde. In eine junge Polizistin, die ihr Philosophiestudium in Cambridge mit Auszeichnung abgeschlossen hat, und sich nun bei der Kripo von South Wales in Cardiff der Verfolgung des Bösen widmet, unter gleichzeitiger Durchleuchtung der Vergangenheit ihres Ziehvaters, der ein König der Unterwelt ist. In eine Cannabis rauchende, Pfefferminztee trinkende Frau, die gern den "Planeten Normal" bewohnen würde.
Der Mann, der dieses Kunststück geschafft hat, heißt Harry Bingham, ist ein englischer Schriftsteller, der sich nach einer Laufbahn bei einer amerikanischen Großbank auf das Schreiben von politisch-wirtschaftlichen Sachbüchern verlegt hat und nun seit sieben Jahren die Krimiwelt mit seiner Fiona-Reihe beglückt. In Deutschland verfing der im Blanvalet-Verlag unternommene Anlauf, die Reihe durchzusetzen, nicht. Nun versucht es Rowohlt. Dieser Tage erscheint mit "Fiona: Wo die Toten leben" der fünfte Band in deutscher Übersetzung. Fiona kennen heißt, sie zu lieben und den Hut zu ziehen vor der Intelligenz und dem Sprachwitz ihres Erfinders, der sich darauf versteht, spannende und vertrackte Fälle zu konstruieren, damit sich seine Protagonistin bei weit überdehnter Auslegung ihrer Befugnisse und nicht selten auf eigen Kosten körperlich und seelisch komplett verausgaben kann. So etwa als Undercover-Ermittlerin in "Unten im Dunkeln" (Band 4), in dem sie sich als Buchhalterin in ein Syndikat einschleust, das den ganz großen Abbuchungs-Coup plant.
Klingt nach Superheldin, und bedient sich doch nur gewisser Action-Versatzstücke dieses Genres. Denn Bingham baut immer wieder Schwächeperioden ein, Momente, in denen seine Ich-Erzählerin glaubt, wieder in den Abgrund ihrer Krankheit zurückzufallen. Ihre Geistesmechanik funktioniert nach anderen Gesetzmäßigkeiten als die ihrer "normalen" Kollegen. Sie erkennt Zusammenhänge, wo andere noch nicht einmal einen Fall konzedieren. Ihre Zierlichkeit kompensiert sie mit Willenskraft, Mut und Nahkampftechnik. Die Gesellschaft von Toten schätzt sie und sie lässt sich schon mal über Nacht in der Pathologie einschließen, um ihnen nahe zu sein. Wenn sie ein Date hat, memoriert sie die Spielregeln des Flirtens.
Mit dem ersten Band zu beginnen, ist nicht zwingend, aber sinnvoll: Bingham zieht mit jeder Folge die Fäden länger, die sowohl Fionas ungeklärte Abstammung als auch die Fälle untereinander verweben. Eine Konstante bildet dabei die Herausforderung, die sie für ihre Vorgesetzten darstellt, die aus ihr eine vernünftige Polizistin machen wollen. Im aktuellen Fall geht es um die bislang schönste Leiche - eine zauberschöne, in einer walisischen Dorfkirche aufgebahrte Frau in weißem Sommerkleid mit frischgewaschenen Haaren und nicht rasierten Beinen, die offenbar einer Herzschwäche erlag. Aber wer hat sie warum dort drapiert, welche Rolle spielen die Mönche eines nahe gelegenen Klosters? Und vor allem: Wer hat "Carlotta", wie Fiona sie nennt, schönheitschirurgisch veredelt, und zwar vom Allerteuersten? Die Suche nach einem solchen Meister führt nach Hollywood und damit zur Identität der Toten: sie ist die Tochter eines ukrainischen Multimillionärs, die entführt worden war. Dass unweit der Kirche vor Jahren eine junge Einheimische verschwand, zwingt Fiona zur Grabungsarbeiten, in deren m Verlauf sie eine Höhle entdeckt - und dann wird es grausam klaustrophobisch.
Die Cover sollte man ignorieren, denn das Super-Girl-Signal der Umschläge führt in die falsche Richtung oder bemüht eine Ironie, die in der Schnelldreherwelt der Krimistapel verpufft. Man kann bei Bingham viel lernen über die Routinen des Polizeialltags, das Mahlwerk der Hierarchie ("Ja, Sir"), aber auch über die Gesellschaft, in der diese in der Gegenwart angesiedelten Romane spielen. Über den Wandel Cardiffs und die uralte Feindschaft gegenüber den einst die Kelten bezwingenden Angeln, Jüten und Sachsen, die sich heute Engländer nennen. Der Autor ist in Schnittgrößen von aktuellen Jeans-Marken ebenso bewandert wie im Hacken von Betriebssystemen und im Höhlenklettern. Und er schaut Fiona beim Lesen über die Schulter und sieht Bücher des analytischen Philosophen Saul Kripke ("Name und Notwendigkeit") und der Mystikerin Juliana von Norwich ("Offenbarungen göttlicher Liebe").
Schließlich ist Detective Sergeant Griffiths ein überkomplexer Charakter. Als man sie in Folge vier in die Asservatenkammer versetzt, ist sie kurz davor, einzugehen. Nichts schlimmer als "lebensbedrohliche Langeweile". Denn sie erkennt stets den großen Bogen, wo andere nur Kennzeichen abgleichen, findet immer das Verbrechen, das zu ihren Leichen passt. Auf ihrer ganz privaten Abschussliste ("Operation April") stehen fünf wohlhabende Waliser, die fern der Verbrechenshauptstadt London ein kriminelles Netzwerk aufgebaut haben. Zwei hat sie schon abgeräumt.
Dass es nicht einfach ist, die Plausibilitätskontrolle zu behalten, das zeigt "Wo die Toten leben" auch. Passagenweise sind die Mittelalter-Bezüge arg gewollt, Umberto Eco ist immer in der Nähe. Aaber Harry Bingham fängt die Geschichte elegant wieder ein, geht den Ermittlungsweg bis zum Ende.
Und er lässt Fiona sogar beichten. Von den sieben Todsünden gesteht sie zweieinhalb - Zorn, Hochmut und ein wenig Neid -, entdeckt aber noch eine achte: Unaufrichtigkeit: "Ich belüge meine Vorgesetzten und Freunde und gebe vor, jemand zu sein, der ich nicht bin. Und das alles mit Vorsatz und in böswilliger Absicht. Ohne Scham oder Reue. Man kann mir nicht trauen."
Wenn Bingham durchhält, ist er auf dem besten Weg, ein walisisches Sittenpanorama zu malen: Fiona Griffiths im Kreise ihrer Leichen. Nach derzeit gut 2700 von Kristof Kurz und Andrea O'Brien ins Deutsche übersetzten Seiten bleibt nur, eine dringende Leseempfehlung aussprechen. Lange nicht mehr so gut unterhalten worden.
HANNES HINTERMEIER
Harry Bingham: "Fiona:
Wo die Toten leben". Kriminalroman.
Aus dem Englischen von Kristof Kurz und Andrea O'Brien. Rowohlt Verlag, Reinbek 2019. 576 S., br., 10,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Harry Bingham hat mit Fiona Griffiths eine Ermittlerin geschaffen, deren Fälle zum intelligentesten und vergnüglichsten Krimistoff dieser Jahre gehören.
Kann sich ein mittelalter Mann in eine halb so alte Frau einfühlen, die in ihrer Jugend am Cotard-Syndrom litt, einer schweren psychischen Störung, die dazu führt, dass sich die Betroffenen nicht sicher sind, ob sie am Leben sind oder nicht viel eher tot? Einfühlen in eine Mittzwanzigern, die als Zweijährige auf dem Rücksitz eines Cabrios ausgesetzt wurde und das Glück hatte, dass der Wagen einem Paar gehörte, das als Pflegeeltern ihr Bestes geben würde. In eine junge Polizistin, die ihr Philosophiestudium in Cambridge mit Auszeichnung abgeschlossen hat, und sich nun bei der Kripo von South Wales in Cardiff der Verfolgung des Bösen widmet, unter gleichzeitiger Durchleuchtung der Vergangenheit ihres Ziehvaters, der ein König der Unterwelt ist. In eine Cannabis rauchende, Pfefferminztee trinkende Frau, die gern den "Planeten Normal" bewohnen würde.
Der Mann, der dieses Kunststück geschafft hat, heißt Harry Bingham, ist ein englischer Schriftsteller, der sich nach einer Laufbahn bei einer amerikanischen Großbank auf das Schreiben von politisch-wirtschaftlichen Sachbüchern verlegt hat und nun seit sieben Jahren die Krimiwelt mit seiner Fiona-Reihe beglückt. In Deutschland verfing der im Blanvalet-Verlag unternommene Anlauf, die Reihe durchzusetzen, nicht. Nun versucht es Rowohlt. Dieser Tage erscheint mit "Fiona: Wo die Toten leben" der fünfte Band in deutscher Übersetzung. Fiona kennen heißt, sie zu lieben und den Hut zu ziehen vor der Intelligenz und dem Sprachwitz ihres Erfinders, der sich darauf versteht, spannende und vertrackte Fälle zu konstruieren, damit sich seine Protagonistin bei weit überdehnter Auslegung ihrer Befugnisse und nicht selten auf eigen Kosten körperlich und seelisch komplett verausgaben kann. So etwa als Undercover-Ermittlerin in "Unten im Dunkeln" (Band 4), in dem sie sich als Buchhalterin in ein Syndikat einschleust, das den ganz großen Abbuchungs-Coup plant.
Klingt nach Superheldin, und bedient sich doch nur gewisser Action-Versatzstücke dieses Genres. Denn Bingham baut immer wieder Schwächeperioden ein, Momente, in denen seine Ich-Erzählerin glaubt, wieder in den Abgrund ihrer Krankheit zurückzufallen. Ihre Geistesmechanik funktioniert nach anderen Gesetzmäßigkeiten als die ihrer "normalen" Kollegen. Sie erkennt Zusammenhänge, wo andere noch nicht einmal einen Fall konzedieren. Ihre Zierlichkeit kompensiert sie mit Willenskraft, Mut und Nahkampftechnik. Die Gesellschaft von Toten schätzt sie und sie lässt sich schon mal über Nacht in der Pathologie einschließen, um ihnen nahe zu sein. Wenn sie ein Date hat, memoriert sie die Spielregeln des Flirtens.
Mit dem ersten Band zu beginnen, ist nicht zwingend, aber sinnvoll: Bingham zieht mit jeder Folge die Fäden länger, die sowohl Fionas ungeklärte Abstammung als auch die Fälle untereinander verweben. Eine Konstante bildet dabei die Herausforderung, die sie für ihre Vorgesetzten darstellt, die aus ihr eine vernünftige Polizistin machen wollen. Im aktuellen Fall geht es um die bislang schönste Leiche - eine zauberschöne, in einer walisischen Dorfkirche aufgebahrte Frau in weißem Sommerkleid mit frischgewaschenen Haaren und nicht rasierten Beinen, die offenbar einer Herzschwäche erlag. Aber wer hat sie warum dort drapiert, welche Rolle spielen die Mönche eines nahe gelegenen Klosters? Und vor allem: Wer hat "Carlotta", wie Fiona sie nennt, schönheitschirurgisch veredelt, und zwar vom Allerteuersten? Die Suche nach einem solchen Meister führt nach Hollywood und damit zur Identität der Toten: sie ist die Tochter eines ukrainischen Multimillionärs, die entführt worden war. Dass unweit der Kirche vor Jahren eine junge Einheimische verschwand, zwingt Fiona zur Grabungsarbeiten, in deren m Verlauf sie eine Höhle entdeckt - und dann wird es grausam klaustrophobisch.
Die Cover sollte man ignorieren, denn das Super-Girl-Signal der Umschläge führt in die falsche Richtung oder bemüht eine Ironie, die in der Schnelldreherwelt der Krimistapel verpufft. Man kann bei Bingham viel lernen über die Routinen des Polizeialltags, das Mahlwerk der Hierarchie ("Ja, Sir"), aber auch über die Gesellschaft, in der diese in der Gegenwart angesiedelten Romane spielen. Über den Wandel Cardiffs und die uralte Feindschaft gegenüber den einst die Kelten bezwingenden Angeln, Jüten und Sachsen, die sich heute Engländer nennen. Der Autor ist in Schnittgrößen von aktuellen Jeans-Marken ebenso bewandert wie im Hacken von Betriebssystemen und im Höhlenklettern. Und er schaut Fiona beim Lesen über die Schulter und sieht Bücher des analytischen Philosophen Saul Kripke ("Name und Notwendigkeit") und der Mystikerin Juliana von Norwich ("Offenbarungen göttlicher Liebe").
Schließlich ist Detective Sergeant Griffiths ein überkomplexer Charakter. Als man sie in Folge vier in die Asservatenkammer versetzt, ist sie kurz davor, einzugehen. Nichts schlimmer als "lebensbedrohliche Langeweile". Denn sie erkennt stets den großen Bogen, wo andere nur Kennzeichen abgleichen, findet immer das Verbrechen, das zu ihren Leichen passt. Auf ihrer ganz privaten Abschussliste ("Operation April") stehen fünf wohlhabende Waliser, die fern der Verbrechenshauptstadt London ein kriminelles Netzwerk aufgebaut haben. Zwei hat sie schon abgeräumt.
Dass es nicht einfach ist, die Plausibilitätskontrolle zu behalten, das zeigt "Wo die Toten leben" auch. Passagenweise sind die Mittelalter-Bezüge arg gewollt, Umberto Eco ist immer in der Nähe. Aaber Harry Bingham fängt die Geschichte elegant wieder ein, geht den Ermittlungsweg bis zum Ende.
Und er lässt Fiona sogar beichten. Von den sieben Todsünden gesteht sie zweieinhalb - Zorn, Hochmut und ein wenig Neid -, entdeckt aber noch eine achte: Unaufrichtigkeit: "Ich belüge meine Vorgesetzten und Freunde und gebe vor, jemand zu sein, der ich nicht bin. Und das alles mit Vorsatz und in böswilliger Absicht. Ohne Scham oder Reue. Man kann mir nicht trauen."
Wenn Bingham durchhält, ist er auf dem besten Weg, ein walisisches Sittenpanorama zu malen: Fiona Griffiths im Kreise ihrer Leichen. Nach derzeit gut 2700 von Kristof Kurz und Andrea O'Brien ins Deutsche übersetzten Seiten bleibt nur, eine dringende Leseempfehlung aussprechen. Lange nicht mehr so gut unterhalten worden.
HANNES HINTERMEIER
Harry Bingham: "Fiona:
Wo die Toten leben". Kriminalroman.
Aus dem Englischen von Kristof Kurz und Andrea O'Brien. Rowohlt Verlag, Reinbek 2019. 576 S., br., 10,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Binghams Romane bergen immer Unerwartetes. Dieser rasante Roman enthält einige der genialsten Mordmethoden in der modernen Spannungsliteratur. The Sunday Times