Produktdetails
  • Verlag: Suhrkamp
  • 1996.
  • Seitenzahl: 249
  • Deutsch
  • Abmessung: 29mm x 130mm x 205mm
  • Gewicht: 415g
  • ISBN-13: 9783518408414
  • ISBN-10: 3518408410
  • Artikelnr.: 23932355
Autorenporträt
Mario Vargas Llosa wurde am 28. März 1936 in Arequipa (Peru) geboren. Seine Kindheit verbrachte er in Bolivien, Piura (Nordperu) und Lima. Im Alter von 18 Jahren heiratete er Julia Urquidi, mit der er neun Jahre zusammenlebte. Diese Beziehung verarbeitete er später in seinem Roman Tante Julia und der Kunstschreiber . Bereits während seines Studiums der Geistes- und Rechtswissenschaften in Lima und Madrid (Promotion über Gabriel García Márquez) schrieb er für verschiedene Zeitschriften und Zeitungen und veröffentlichte erste Erzählungen. 1963 erschien sein erster Roman La ciudad y los perros (dt. Die Stadt und die Hunde ), der auf eigenen Erfahrungen in der Kadettenanstalt Leoncio Prado in Lima beruht. Der Roman wurde in Spanien mehrfach ausgezeichnet und in über 20 Sprachen übersetzt. Vargas Llosa war als Gastprofessor in Washington, Puerto Rico, London, New York und Cambridge tätig. 1989 bewarb er sich als Kandidat der oppositionellen Frente Democrático für die peruanischen Präsidentschaftswahlen und unterlag 1990 im zweiten Wahlgang. Daraufhin zog er sich aus der aktiven Politik zurück. Mario Vargas Llosa ist Ehrendoktor verschiedener amerikanischer und europäischer Universitäten und hielt Gastprofessuren unter anderem in Harvard (1992), Princeton (1993) und Oxford (2004). 2010 erhält er den Nobelpreis für Literatur "für seine Kartografie von Machtstrukturen und seine energischen Bilder des individuellen Widerstands, der Rebellion und Niederlage". Heute lebt Mario Vargas Llosa mit seiner Frau Patricia in Madrid und Lima.
Er gehört zu den bekannten lateinamerikanischen Autoren. Sein umfangreiches Gesamtwerk umfasst neben Romanen auch Erzählungen, politische Betrachtungen, Theaterstücke und Essays. 1977 gewählt zum Präsidenten des Internationalen P.E.N.-Clubs. 1996 ausgezeichnet mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und 2008 mit dem Freiheitspreis der Friedrich-Naumann-Stiftung. 2010 erhielt Mario Vargas Llosa den Nobelpreis für Literatur.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.10.1996

Die Mütze des Landarzts lebt
Mario Vargas Llosa bewundert Flaubert / Von Heinz Schlaffer

Der Roman "Madame Bovary" führt wie seine Heldin Emma Bovary, die Ehefrau und Geliebte zugleich ist, ein Doppelleben: Er steht im bürgerlichen Bücherschrank, den die Buchklubs gefüllt haben, neben dem "Großen Regen", der "Ungarischen Rhapsodie" und "Vom Winde verweht", in peinlicher Nachbarschaft also zu den trivialen Erzählungen von der großen Leidenschaft. Dasselbe Werk aber - ist es noch dasselbe? - liegt auch auf dem Schreibtisch der Kritiker, die es zum vollkommenen Kunstwerk erklären und in minutiösen Analysen Flauberts Anspruch bestätigen, diesen Roman mit einer Sorgfalt geplant und geschrieben zu haben, wie sie vorher nur für Dichtung in Versen angebracht zu sein schien. Zu großer Leidenschaft ist auch der Kunstverstand fähig: der des Autors, der sechs Jahre lang unablässig an diesem Werk schrieb und korrigierte, und der seiner Interpreten, die eine ähnliche Unerbittlichkeit im emphatischen Bekenntnis zur Größe dieses Werkes oder in der peniblen Rekonstruktion seiner Quellen und seiner Komposition verraten. Die "ewige Orgie" - so bezeichnet Flaubert sein Verhältnis zur Literatur - geht bei den Kennern dieses Romans noch immer weiter, trotz der unpersönlichen Sachlichkeit seiner Darstellung, sogar in den Szenen der Liebe und des Sterbens.

An Flauberts Bekenntnis schließt sich der Titel von Vargas Llosas ungewöhnlichem Buch über "Madame Bovary" an: "La orgía perpetua" (1975; die 1980 bei Rowohlt erschienene Übersetzung wurde für die Neuausgabe bei Suhrkamp überarbeitet) - ungewöhnlich, da es mit gleicher Brillanz nacheinander beide Arten der Lektüre vorführt, im ersten Teil die populäre, die sich vom Schicksal der Hauptfigur ergreifen läßt, im zweiten und dritten Teil die professionelle, die die Machart des Textes untersucht. Weil Vargas Llosa selbst Schriftsteller ist, kennt er die Hemmung des akademischen Philologen nicht, der die persönlichen Umstände, Erfahrungen und Nachwirkungen der Lektüre hinter einer wissenschaftlichen Begriffssprache so erfolgreich verbirgt, daß er schließlich selbst glaubt, sie nie an sich verspürt zu haben. Den Literaturhistoriker interessiert zwar die Rezeption eines Werkes, aber nur bei anderen Lesern. Vargas Llosa dagegen gesteht sogleich, daß er sich immer mit der Heldin dieses Romans identifiziert habe, ja daß er "in Emma Bovary verliebt" sei.

Dieses Geständnis ist nützlich, weil Vargas Llosa selbst nach den Gründen für die unschickliche Verletzung der Grenze zwischen Realität und Dichtung sucht. Sie liegen, so findet er heraus, zum einen im Stil des Werkes, der die erzählte Welt so exakt beschreibt, daß der Leser sie als die wirkliche wiederzuerkennen glaube. Zum anderen aber spreche die Mischung von Rebellion, Melodramatik und Sexualität in Emma Bovarys Liebes-und Leidensgeschichte seine, Vargas Llosas, triebbestimmte Phantasiewelt an. Doch sollte der verliebte Interpret nicht die Augen davor verschließen, daß Flaubert Emma nicht gerade mit liebenswürdigen Zügen ausgestattet hat. In diesem - und nur in diesem - Punkt hat Dacia Maraini (auch sie eine Schriftstellerin) den Roman richtiger gelesen als Vargas Llosa: Flaubert zerstöre Emma Bovary, weil er sich in ihr selbst verleumden wolle. Ihre falschen Gefühle, Folge der falschen Lektüre verlogener Bücher, ihre schiefen Vorstellungen von der großen Welt und vor allem ihre verblasene Redeweise beschädigen Emmas Reiz so sehr, daß sich die Lobpreisungen ihrer - vom Erzähler in manchem eingeschränkten - Schönheit nur wie ein Hohn auf den mißratenen Charakter anhören.

Trotz der glänzenden Verbindung von Freimut, Reflektiertheit und Scharfsinn, die Vargas Llosas Buch auszeichnet, kann auch er sich einer verbreiteten Illusion nicht entziehen: Die Liebe sei ein elementares Ereignis des menschlichen Lebens und der Literatur. Deshalb entgeht ihm Flauberts einzigartige Desillusion der Liebe: Sie ist kein natürliches Fundament, sondern ein künstliches Resultat zufälliger und heterogener kultureller Gewohnheiten. Man kann "Madame Bovary" als psychologisches Kompendium aller Umstände lesen, die in Personen den Irrtum erzeugen, sie spürten und erlebten "Liebe". Was Emma für Liebe hält - und ebenso der moderne Leser, der zwar nicht mehr an Gott und Teufel, aber noch immer an die Liebe glauben will -, zerfällt in der rücksichtslosen Analyse Flauberts in die pubertären Wirkungen der romantischen Dichtung, in Unzufriedenheit mit der Umgebung, in Langeweile der bürgerlichen Existenz, in Täuschungen über und durch das andere Geschlecht, in das Hören und Sagen von Gemeinplätzen und - auch das verhehlt der Arztsohn Gustave Flaubert nicht - in die physiologischen Ursachen der Sexualität. Nur um den beschämenden Mechanismus dieses Getriebes aus physischer Disposition und gesellschaftlicher Konvention sich zu verbergen, haben sich die Menschen ein eigenes Vokabular der "Liebe" und "Leidenschaft" erfunden. Emmas Versuch, den Realitätsgehalt dieser Wörter einzufordern, muß leer ausgehen und tödlich enden.

Vermutlich ist Emma Bovary für Vargas Llosa nur eine Allegorie des literarischen Werks gleichen Namens, das er wirklich liebt und das, anders als seine Heldin, makellos und wie aus einem Guß ist. Flauberts Werk bedeutet ihm ein Absolutum, an dem er andere Autoren mißt. Eine solche Voreingenommenheit ist doppelt gerechtfertigt. Kunstkenner brauchen solche absoluten Werke - "Madame Bovary" für den Roman wie "Don Giovanni" für die Oper, Vermeer für die Malerei oder Tassos "Aminta" für das Schäferdrama -, um eine Leidenschaft, die in Wahrheit allen Kunstwerken gilt, für die innere Anschauung und für die emphatische Rede in ein einziges Wort zu fassen. Das Vorurteil rechtfertigt sich aber vor allem durch Vargas Llosas Arbeit selbst, indem er die literarischen Qualitäten von "Madame Bovary" so sinnfällig zu demonstrieren weiß, daß der Leser seines aufklärenden Buches sich nun erst ganz in die Geheimnisse Flauberts eingeweiht wähnt.

Das Verfahren von Vargas Llosas psychologisierender Ästhetik, die mit eigenen Leseerlebnissen beginnt, um bei objektiven Erkenntnissen über die Form dieses Romans zu enden, besitzt philologischer Enthaltsamkeit gegenüber einen wesentlichen Vorzug. Geht er abgelegenen Details nach, die Flaubert angeregt haben könnten, analysiert er die verschiedenen Tempora des Erzählens oder bemerkt er die Verdoppelung aller Gegenstände und Motive - von zwei Vasen bis zu zwei Liebhabern -, so werden solche Entdeckungen aus der Leidenschaft eines Lesers verständlich: aus den unruhigen Fragen, die nur bei mehrfach wiederholter Lektüre sich stellen und zugleich ihre Antwort finden können.

An der Entstehung und Struktur dieses Romans legt Vargas Llosa Entstehungsbedingungen und Strukturgesetze von Literatur und Kunst überhaupt frei. Flaubert verarbeitet Vorfälle in seiner Nähe mit literarischen Vorbildern und unbewußten Träumereien zum Konglomerat einer "fiktiven Realität". Vargas Llosa entscheidet sich nicht zwischen der realistischen Partei unter den Kritikern, die für jede Einzelheit des Romans eine empirische Quelle aufspüren, ohne ihre Transformation in einen imaginären Zusammenhang zu verfolgen, und der stilistischen Partei, die aus Flauberts unermüdlichem Feilen am Wortlaut die Folgerung zieht, man dürfe rechtens nur das sprachliche Kunstwerk genießen. Bei Flaubert verschränken sich die Gegensätze, ohne sich aufzuheben: Er beobachtet das Leben aus der Distanz des Schriftstellers und ist allein auf literarische Verwertbarkeit bedacht. Bereits in dieser Haltung triumphiert der Stil über die Realität. Im Gegenzug überprüft er bei jedem Wort, ob es einen Sachverhalt in der - wenngleich fiktiven - Realität trifft. Leben und Kunst scheinen hier ihre Eigenschaften auszutauschen. Diese Struktur der Vertauschung kehrt, wie Vargas Llosa zeigt, in Einzelheiten der Romanform wieder: Flaubert stattet die Dinge mit menschlichen Eigenschaften aus (so zu Beginn die kuriose Mütze Charles Bovarys), alles Menschliche jedoch, auch Sehnsucht oder Fröhlichkeit, behandelt er, als wären es Dinge (der Liebesakt zwischen Emma und Léon wird nur durch die Zirkulation einer Kutsche durch Rouen dargestellt). Dennoch hält Flaubert physische Realität und sprachliche Virtuosität auseinander. In der Einsicht, daß die Macht des Realen durch Worte nicht zu brechen ist, zeigt sich die Heroik des Autors von "Madame Bovary".

Wer durch die Teilnahme an Mario Vargas Llosas Orgie erkennender Lektüre ein klügerer Leser von Flauberts Roman geworden ist, braucht Dacia Marainis "Nachforschungen über Emma B." nicht mehr zu folgen. Sie stellt einen Reader's Digest des Romans her, den sie von Anfang bis Ende mit vielen Zitaten nacherzählt, wobei sie jedem Kapitelchen ein paar Biographika über den Autor hinzufügt. Diese sollen den Verdacht nähren, Flaubert habe in Emma Bovary seine Geliebte Louise Colet, andere Frauen und schließlich sich selbst bloßgestellt. Der Dichter scheint ein bedenklicher Charakter, ein unmoralischer sogar, gewesen zu sein. Dacia Maraini will "Leserinnen, die sich gern mit den weiblichen Romanpersonen identifizieren", vor einer solchen Identifikation warnen. Daran tut sie gut, für eine bessere Lektüre der "Madame Bovary" aber hat sie dennoch nichts getan. Sie hätte ihren Leserinnen die Lektüre von Vargas Llosas "Orgía perpetua" empfehlen sollen.

Mario Vargas Llosa: Flaubert und "Madame Bovary". Die ewige Orgie. Aus dem Spanischen übersetzt von Maralde Meyer-Minnemann. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1996. 251 S., geb., 38,- DM.

Dacia Maraini: "Nachforschungen über Emma B." Aus dem Italienischen übersetzt von Sigrid Vagt. Piper Verlag, München 1996. 233 S., geb., 36,- DM.

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