Sieben Jahre hat Terézia Mora regelmäßig ihre Gedanken und Beobachtungen in einem Blog festgehalten - von ihrem 43. bis zum 50. Geburtstag. Kurze Texte, in denen die vielfach preisgekrönte Autorin (Deutscher Buchpreis, Georg-Büchner-Preis) spontane Eindrücke festhält und »Glücksmomente« im Alltag sucht. Einträge, in denen sie ebenso klug wie kurzweilig über unsere Zeit reflektiert. »Fleckenverlauf« enthält Momentaufnahmen, die weit über eine Ideensammlung für spätere Werke hinausgehen. Ein Tage- und Arbeitsbuch, das Terézia Moras literarisches Schaffen kunstvoll ergänzt.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.09.2021Wir beobachten die Situation
Terézia Mora zeichnet in ihrem Tage- und Arbeitsbuch auf, wie das Leben in die Literatur eingeht, und was sie als Schriftstellerin vom Schreiben abhält
Als Darius Kopp nach dem Selbstmord seiner Frau ihren Laptop findet, entdeckt er private Dateien, die Namen wie „Gnozis“ oder „Schrott“ tragen. Was zunächst kryptisch klingt, entpuppt sich als genaue Mitschrift der Vergangenheit. Flora hat ein Leben lang en Tagebuch geführt, in dem sie ihrer depressiven Erkrankung genauso nachgeht wie der autoritären Gesellschaftsstruktur Ungarns, wo sie aufgewachsen ist. Manchmal bestehen die Einträge nur aus wenigen Wörtern, halten Traumbilder fest, beschreiben Szenen aus dem Alltag oder halten ein Zitat aus einem Buch fest.
Möglicherweise hat sich die Schriftstellerin Terézia Mora ihre eigene Figur zum Vorbild genommen. Jedenfalls hat sie wie Flora, das heimliche Zentrum ihrer drei Romane über den IT-Experten Darius Kopp, Tagebuch geführt. Es ist zugleich ein Arbeitsbuch und verdankt sich einem konkreten Projekt: sieben Jahre lang das eigene Leben mitzuschreiben. Genauer: die Zeit von 43 bis 50, „die härteste ,Zwischenzeit‘ für einen Menschen und eine Schriftstellerin“, wie Mora notiert.
Glücklicherweise ist sie ihrem Vorhaben nicht treu geblieben. Aus den sieben Jahren sind fünfeinhalb geworden, der letzte Eintrag stammt aus dem März 2020, sodass keine Gefahr bestand, das Buch könnte in ein Corona-Tagebuch kippen. Sie beginnt es als öffentlichen Blog und führt es dann in Form geschlossener Einträge fort. Es ist eine Mitschrift, aber nicht nur des eigenen Lebens, sondern auch des gesellschaftlichen Alltags, den Mora genau beobachtet und dessen Strukturen sie zu analysieren versucht. So wundert es nicht, dass sie einmal vom „Seismograph-Sein“ schreibt, das ihr Leben als Schriftstellerin auszeichne, und in einem späteren Eintrag ergänzt: „Wir beobachten weiter die Situation.“
Was Terézia Mora aus ihren Beobachtungen macht, könnte man ganz banal Alltagsskizzen nennen. In den besten Fällen aber verwandelt sie die Details in bildgenaue Miniaturen: Die Bewegung einer weißen Bauplane setzt Erinnerungen an Glücksmomente der Kindheit frei, die aufgereihten Bildbände in der Auslage eines Buchladens werden zu einem Tableau der Imagination: „Die Blumentöpfe. Die beiden Männer in den Mänteln zwischen den Rohren. Der Ellenbogen und die Achselhöhlen. Die surrealen Welten. Das Neon und das Protect me from what I want. Der rote Hut. Die Beckmann-Zeichnungen, sowieso. Und der gebeugte Körper unten rechts.“
Tatsächlich kann man von den Einzelheiten der Auslage nicht nur lesen – man kann sie auch sehen. Mora hat Fotografien zwischen die Sätze gestreut, Schnappschüsse oft, von Stadtatmosphären oder absurden Szenerien. Überhaupt gibt es ein Jonglieren mit verschiedenen Medien und Textsorten, die von Briefen über Listen bis zu Gedichtübersetzungen reichen – und die Mora verwendet, um die vielen Splitter ihres Buches ein wenig zu ordnen. Dazu gehört auch das Spiel, nicht einfach nur Lektüreerlebnisse zu notieren, sondern immer den fünften Satz auf der 23. Seite eines Buches, ein Spiel, das vor allem deshalb über die Länge des Bandes hinweg trägt, weil Mora das Verfahren ein ums andere Mal lustvoll untergräbt.
Man kann viel Literaturbetriebs-Gossip in diesem Buch finden und Lamentationen über den Alltag einer Schriftstellerin. Wochenlange Lesereisen, Auftragsarbeiten, unmotivierte Veranstalter, der immerwährende Kampf um eine halbwegs ausreichende Bezahlung – Dinge, die die Autorin von dem abhalten, um das es eigentlich geht: zu schreiben. In ihrer Fülle und in ihrer Ähnlichkeit gehören diese Klage-Passagen nicht unbedingt zu den anregendsten des Buches. Weitaus stärker ist Mora dort, wo sie deutlich macht, durch wie viele Fäden Leben und Schreiben miteinander verwoben sind und welche Notwendigkeit das Schreiben als Überlebensmittel hat: „Schreiben ist auch Stolpern, nur ist das Ergebnis am Ende sichtbarer, vorzeigbarer, verwertbarer, auch für andere. Allein dadurch, dass es sich materialisiert hat. Deswegen kann ich nicht einfach irgendein Buch schreiben, es muss eins sein, das weiter an meinem Kern baut.“
Ein Text könne alles aufnehmen, das existiert, hat Christoph Meckel einmal gesagt. Voraussetzung sei jedoch, dass es „vom Autor verwandelt“ werde. So ähnlich verfährt Terézia Mora in ihrer schriftstellerischen Arbeit. An Beispielen zeigt sie, wie sich das Schreiben aus alltäglichen Beobachtungen speist. Da wandert ein Lebensmittelladen gegenüber einem Friedhof in den Erzählungsband „Die Liebe unter Aliens“ ein, ebenso ein roter Golf (der aber später wieder gestrichen wird). Selbst ein nerviger Behördengang kann wichtig werden und sich am Ende, in einen ganz anderen Kontext versetzt freilich, als Teil des Romans „Auf dem Seil“ wiederfinden.
Eine „déformation professionelle“ nennt Mora ihre Neigung an einer Stelle. Sie speichere nur, was ihr für das Schreiben verwendbar scheine, anderes vergesse sie einfach. Das lasse sich gut als Entschuldigung benutzen, wenn man Menschen auf der Straße nicht wiedererkenne, meint Mora. Es ist aber auch ein Glück für dieses Buch. Denn so kann man genaue Kurzanalysen der politischen Situation in Ungarn lesen oder Notizen zur NS-Geschichte in Moras Geburtsstadt Sopron. Einträge über den Zusammenhang von Körper und Sprache. Pläne, wie die nächsten Bücher aussehen könnten. Und Sätze, in denen Mora feststellt, die Quelle ihrer Angst sei Ungarn, und die Angst sei ihr „Erbe“. Nicht von ungefähr lautet der Titel des Buches „Fleckenverlauf“. Es sind die blauen Flecke nach einem Sturz mit dem Fahrrad. Der Fleckenverlauf ist bei Terézia Mora immer auch ein Schmerzensverlauf.
NICO BLEUTGE
Déformation professionelle:
Sie speichert nur, was sie
verwenden kann
Terézia Mora:
Fleckenverlauf.
Ein Tage- und Arbeitsbuch. Luchterhand,
München 2021.
286 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Terézia Mora zeichnet in ihrem Tage- und Arbeitsbuch auf, wie das Leben in die Literatur eingeht, und was sie als Schriftstellerin vom Schreiben abhält
Als Darius Kopp nach dem Selbstmord seiner Frau ihren Laptop findet, entdeckt er private Dateien, die Namen wie „Gnozis“ oder „Schrott“ tragen. Was zunächst kryptisch klingt, entpuppt sich als genaue Mitschrift der Vergangenheit. Flora hat ein Leben lang en Tagebuch geführt, in dem sie ihrer depressiven Erkrankung genauso nachgeht wie der autoritären Gesellschaftsstruktur Ungarns, wo sie aufgewachsen ist. Manchmal bestehen die Einträge nur aus wenigen Wörtern, halten Traumbilder fest, beschreiben Szenen aus dem Alltag oder halten ein Zitat aus einem Buch fest.
Möglicherweise hat sich die Schriftstellerin Terézia Mora ihre eigene Figur zum Vorbild genommen. Jedenfalls hat sie wie Flora, das heimliche Zentrum ihrer drei Romane über den IT-Experten Darius Kopp, Tagebuch geführt. Es ist zugleich ein Arbeitsbuch und verdankt sich einem konkreten Projekt: sieben Jahre lang das eigene Leben mitzuschreiben. Genauer: die Zeit von 43 bis 50, „die härteste ,Zwischenzeit‘ für einen Menschen und eine Schriftstellerin“, wie Mora notiert.
Glücklicherweise ist sie ihrem Vorhaben nicht treu geblieben. Aus den sieben Jahren sind fünfeinhalb geworden, der letzte Eintrag stammt aus dem März 2020, sodass keine Gefahr bestand, das Buch könnte in ein Corona-Tagebuch kippen. Sie beginnt es als öffentlichen Blog und führt es dann in Form geschlossener Einträge fort. Es ist eine Mitschrift, aber nicht nur des eigenen Lebens, sondern auch des gesellschaftlichen Alltags, den Mora genau beobachtet und dessen Strukturen sie zu analysieren versucht. So wundert es nicht, dass sie einmal vom „Seismograph-Sein“ schreibt, das ihr Leben als Schriftstellerin auszeichne, und in einem späteren Eintrag ergänzt: „Wir beobachten weiter die Situation.“
Was Terézia Mora aus ihren Beobachtungen macht, könnte man ganz banal Alltagsskizzen nennen. In den besten Fällen aber verwandelt sie die Details in bildgenaue Miniaturen: Die Bewegung einer weißen Bauplane setzt Erinnerungen an Glücksmomente der Kindheit frei, die aufgereihten Bildbände in der Auslage eines Buchladens werden zu einem Tableau der Imagination: „Die Blumentöpfe. Die beiden Männer in den Mänteln zwischen den Rohren. Der Ellenbogen und die Achselhöhlen. Die surrealen Welten. Das Neon und das Protect me from what I want. Der rote Hut. Die Beckmann-Zeichnungen, sowieso. Und der gebeugte Körper unten rechts.“
Tatsächlich kann man von den Einzelheiten der Auslage nicht nur lesen – man kann sie auch sehen. Mora hat Fotografien zwischen die Sätze gestreut, Schnappschüsse oft, von Stadtatmosphären oder absurden Szenerien. Überhaupt gibt es ein Jonglieren mit verschiedenen Medien und Textsorten, die von Briefen über Listen bis zu Gedichtübersetzungen reichen – und die Mora verwendet, um die vielen Splitter ihres Buches ein wenig zu ordnen. Dazu gehört auch das Spiel, nicht einfach nur Lektüreerlebnisse zu notieren, sondern immer den fünften Satz auf der 23. Seite eines Buches, ein Spiel, das vor allem deshalb über die Länge des Bandes hinweg trägt, weil Mora das Verfahren ein ums andere Mal lustvoll untergräbt.
Man kann viel Literaturbetriebs-Gossip in diesem Buch finden und Lamentationen über den Alltag einer Schriftstellerin. Wochenlange Lesereisen, Auftragsarbeiten, unmotivierte Veranstalter, der immerwährende Kampf um eine halbwegs ausreichende Bezahlung – Dinge, die die Autorin von dem abhalten, um das es eigentlich geht: zu schreiben. In ihrer Fülle und in ihrer Ähnlichkeit gehören diese Klage-Passagen nicht unbedingt zu den anregendsten des Buches. Weitaus stärker ist Mora dort, wo sie deutlich macht, durch wie viele Fäden Leben und Schreiben miteinander verwoben sind und welche Notwendigkeit das Schreiben als Überlebensmittel hat: „Schreiben ist auch Stolpern, nur ist das Ergebnis am Ende sichtbarer, vorzeigbarer, verwertbarer, auch für andere. Allein dadurch, dass es sich materialisiert hat. Deswegen kann ich nicht einfach irgendein Buch schreiben, es muss eins sein, das weiter an meinem Kern baut.“
Ein Text könne alles aufnehmen, das existiert, hat Christoph Meckel einmal gesagt. Voraussetzung sei jedoch, dass es „vom Autor verwandelt“ werde. So ähnlich verfährt Terézia Mora in ihrer schriftstellerischen Arbeit. An Beispielen zeigt sie, wie sich das Schreiben aus alltäglichen Beobachtungen speist. Da wandert ein Lebensmittelladen gegenüber einem Friedhof in den Erzählungsband „Die Liebe unter Aliens“ ein, ebenso ein roter Golf (der aber später wieder gestrichen wird). Selbst ein nerviger Behördengang kann wichtig werden und sich am Ende, in einen ganz anderen Kontext versetzt freilich, als Teil des Romans „Auf dem Seil“ wiederfinden.
Eine „déformation professionelle“ nennt Mora ihre Neigung an einer Stelle. Sie speichere nur, was ihr für das Schreiben verwendbar scheine, anderes vergesse sie einfach. Das lasse sich gut als Entschuldigung benutzen, wenn man Menschen auf der Straße nicht wiedererkenne, meint Mora. Es ist aber auch ein Glück für dieses Buch. Denn so kann man genaue Kurzanalysen der politischen Situation in Ungarn lesen oder Notizen zur NS-Geschichte in Moras Geburtsstadt Sopron. Einträge über den Zusammenhang von Körper und Sprache. Pläne, wie die nächsten Bücher aussehen könnten. Und Sätze, in denen Mora feststellt, die Quelle ihrer Angst sei Ungarn, und die Angst sei ihr „Erbe“. Nicht von ungefähr lautet der Titel des Buches „Fleckenverlauf“. Es sind die blauen Flecke nach einem Sturz mit dem Fahrrad. Der Fleckenverlauf ist bei Terézia Mora immer auch ein Schmerzensverlauf.
NICO BLEUTGE
Déformation professionelle:
Sie speichert nur, was sie
verwenden kann
Terézia Mora:
Fleckenverlauf.
Ein Tage- und Arbeitsbuch. Luchterhand,
München 2021.
286 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Nico Bleutge freut sich vor allem dann, wenn Terézia Mora ihre eigenen Regeln bricht. So begleite ihr Tagebuch sie nicht wie geplant sieben, sondern fünfeinhalb Jahre (minus Corona-Zeit, atmet Bleutge auf), und auch ihr Spiel, immer genau den fünften Satz auf der 23. Seite jedes gelesenen Buches festzuhalten, würde von Mora immer wieder "lustvoll untergraben", schmunzelt der Kritiker. Insgesamt liest er gerne in Moras Alltagsskizzen über ihr Leben und ihre Arbeit, die auch durch andere Formate wie Briefe, Listen oder auch Fotos ergänzt werden. Besonders die Ausführungen zur politischen Situation in Ungarn, ihre schmerzvolle Beziehung zu dem Land und über die Verbindung von Leben und Schreiben gefallen ihm, auf einige der "Lamentationen" über den Schriftstellerinnenalltag hätte er hingegen verzichten können.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.10.2021Wieder romanfit werden
Terézia Mora gibt mit ihrem Tagebuch Auskunft über die Herausforderung der Arbeit an einem großen Romanprojekt.
Von Elena Witzeck
Was macht Schriftsteller greifbar, was nähert sie uns an? Pablo Neruda, wenn er sich erinnerte: "Ich fiel ins Bett wie ein Sack Zwiebeln auf den Markt"? Oder Ingeborg Bachmann, wenn sie sich über den anderen großen Schreiber in ihrer Wohnung beschwerte, der allzu engagiert in die Tasten griff, als ihr eigenes Blatt noch leer war? Sie nähern sich mit der Offenbarung, nicht nur Geist, sondern auch Körper zu sein. Mit dem Geständnis, sich zu quälen, am Alltäglichen zu scheitern.
Terézia Mora ist so eine Autorin, die man beinahe ins Genialische rückt, die mit respektvoller Distanz betrachtet wird. Eigentlich undenkbar, dass sie sich Tag für Tag ernähren muss. Tut sie aber, zum Beispiel von abgelaufenem Knäckebrot, und Geldsorgen hat sie auch, schreibt sie.
In ihrer Kindheit, so Mora, gab es immer Kritik, "wenn ich als ich selbst zu sichtbar wurde". In "Fleckenverlauf", ihrem Tage- und Arbeitsbuch, das den Namen wegen ihrer von Fahrradstürzen blau verfärbten Beine trägt, wird sie sichtbar. Ein Jahrzehnt umfasste ihre Romantrilogie, sie entstand von 2009 bis 2019. Den Deutschen Buchpreis bekam sie für deren zweiten Band, 2013. Kurz danach setzen ihre Tagebuchaufzeichnungen ein, und natürlich fragt man sich da: Gibt es wirklich noch etwas, was eine derart erfolgreiche Schriftstellerin vom Schreiben abhalten kann?
Ein ähnliches Notizbuch hat bereits Flora, die Frau von Darius Kopp, dem Protagonisten ihrer Trilogie, geführt. Er findet es erst nach ihrem Tod. In "Das Ungeheuer" sind die Dokumente, Skizzen, Übersetzungsarbeiten auf einer eigenen Erzählebene versammelt. Auch ihre Schöpferin wollte sieben Jahre lang ihr Leben dokumentieren, in ihren Vierzigern, einer nach ihrer Ansicht besonders mühsamen Zeit für Mensch und Schriftstellerin: "In der Mitte des Lebens hast du keine Zeit . . . Dann hechelt ihr die Oberflächen durch."
Am Ende wurden es fünfeinhalb Jahre, die wohlweislich mit dem Beginn der Pandemie enden, eine Collage persönlicher Beobachtungen, Gedichte, Briefe und Zitate, politischer Betrachtungen über ihr Herkunftsland Ungarn. Was in der Hochphase des Bloggens beginnt und auch Bezug auf ambitionierte Schreibprojekte im Netz nimmt, entwickelt sich zum dichten Bewusstseinsstrom, in dem die Figuren aus Moras entstehenden Geschichten immer greifbarer werden.
Geradezu intim wird es da, wo Mora ihr Hetzen durch einen Alltag zwischen Versenkung und Verpflichtung und das Scheitern an Geschichten beschreibt. "Ich trinke Tee, ich esse Schokolade, ich mache jeden Tag anstrengende Turnübungen. Im Grunde warte ich immer noch darauf, wieder romanfit zu werden." Lesereise, Auftragsarbeiten, dann wieder Familie, nie scheint wirklich Zeit für den "Flow" zu sein. Einmal sucht sie auf der Website "Fakenamegenerator" Namen für ihre Charaktere, einmal entsteht aus dem Gespräch mit einer jungen Frau im Flugzeug eine Figur.
Besonders kraftvoll ist es da, wo sie das Menschliche seziert, die Oberflächlichkeit der Kommunikation auch unter Freunden, "die ja gerade deswegen die Freunde sind, weil eine tiefere Kommunikation möglich wäre, man bewegt sich intellektuell und emotional im gleichen Bereich - aber es passiert einfach zu selten". Oder da, wo sie den Literaturbetrieb kritisch betrachtet und schließlich klagt: Niemand freut sich über Erzählungen. Alle wollen nur den nächsten Roman. Wie Mora aber recherchiert, akribisch, empathisch, mit wenig Rücksicht auf ihre Gesundheit, etwa als sie Zeitzeugen zu den jüdischen Zwangsarbeitern in der heutigen Slowakei befragt, das ist das eigentliche Faszinosum. Alle finden ihre Geschichten so traurig, schreibt sie. "Nur ich nicht. Ich finde, sie sind, wie das Leben nun einmal ist."
In ihrer Schonungslosigkeit mit sich selbst und dem Dasein trägt Mora auch zu ihrer Ikonisierung bei. Nachts, im Regen, am frühen Morgen fährt sie mit dem Rad durch die Stadt, sammelt Bilder vom "Leben auf der Straße", die sie für ihren prekären Helden braucht, stürzt, rappelt sich auf, beobachtet weiter. Man liest, und manchmal schaut man auf und sieht sich um. Und stellt fest, dass man gerade dabei ist, für einen Moment durch ihre Augen zu blicken. So nahe ist sie gekommen.
Terézia Mora: "Fleckenverlauf". Ein Tage- und Arbeitsbuch.
Luchterhand Literaturverlag, München 2021. 288 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Terézia Mora gibt mit ihrem Tagebuch Auskunft über die Herausforderung der Arbeit an einem großen Romanprojekt.
Von Elena Witzeck
Was macht Schriftsteller greifbar, was nähert sie uns an? Pablo Neruda, wenn er sich erinnerte: "Ich fiel ins Bett wie ein Sack Zwiebeln auf den Markt"? Oder Ingeborg Bachmann, wenn sie sich über den anderen großen Schreiber in ihrer Wohnung beschwerte, der allzu engagiert in die Tasten griff, als ihr eigenes Blatt noch leer war? Sie nähern sich mit der Offenbarung, nicht nur Geist, sondern auch Körper zu sein. Mit dem Geständnis, sich zu quälen, am Alltäglichen zu scheitern.
Terézia Mora ist so eine Autorin, die man beinahe ins Genialische rückt, die mit respektvoller Distanz betrachtet wird. Eigentlich undenkbar, dass sie sich Tag für Tag ernähren muss. Tut sie aber, zum Beispiel von abgelaufenem Knäckebrot, und Geldsorgen hat sie auch, schreibt sie.
In ihrer Kindheit, so Mora, gab es immer Kritik, "wenn ich als ich selbst zu sichtbar wurde". In "Fleckenverlauf", ihrem Tage- und Arbeitsbuch, das den Namen wegen ihrer von Fahrradstürzen blau verfärbten Beine trägt, wird sie sichtbar. Ein Jahrzehnt umfasste ihre Romantrilogie, sie entstand von 2009 bis 2019. Den Deutschen Buchpreis bekam sie für deren zweiten Band, 2013. Kurz danach setzen ihre Tagebuchaufzeichnungen ein, und natürlich fragt man sich da: Gibt es wirklich noch etwas, was eine derart erfolgreiche Schriftstellerin vom Schreiben abhalten kann?
Ein ähnliches Notizbuch hat bereits Flora, die Frau von Darius Kopp, dem Protagonisten ihrer Trilogie, geführt. Er findet es erst nach ihrem Tod. In "Das Ungeheuer" sind die Dokumente, Skizzen, Übersetzungsarbeiten auf einer eigenen Erzählebene versammelt. Auch ihre Schöpferin wollte sieben Jahre lang ihr Leben dokumentieren, in ihren Vierzigern, einer nach ihrer Ansicht besonders mühsamen Zeit für Mensch und Schriftstellerin: "In der Mitte des Lebens hast du keine Zeit . . . Dann hechelt ihr die Oberflächen durch."
Am Ende wurden es fünfeinhalb Jahre, die wohlweislich mit dem Beginn der Pandemie enden, eine Collage persönlicher Beobachtungen, Gedichte, Briefe und Zitate, politischer Betrachtungen über ihr Herkunftsland Ungarn. Was in der Hochphase des Bloggens beginnt und auch Bezug auf ambitionierte Schreibprojekte im Netz nimmt, entwickelt sich zum dichten Bewusstseinsstrom, in dem die Figuren aus Moras entstehenden Geschichten immer greifbarer werden.
Geradezu intim wird es da, wo Mora ihr Hetzen durch einen Alltag zwischen Versenkung und Verpflichtung und das Scheitern an Geschichten beschreibt. "Ich trinke Tee, ich esse Schokolade, ich mache jeden Tag anstrengende Turnübungen. Im Grunde warte ich immer noch darauf, wieder romanfit zu werden." Lesereise, Auftragsarbeiten, dann wieder Familie, nie scheint wirklich Zeit für den "Flow" zu sein. Einmal sucht sie auf der Website "Fakenamegenerator" Namen für ihre Charaktere, einmal entsteht aus dem Gespräch mit einer jungen Frau im Flugzeug eine Figur.
Besonders kraftvoll ist es da, wo sie das Menschliche seziert, die Oberflächlichkeit der Kommunikation auch unter Freunden, "die ja gerade deswegen die Freunde sind, weil eine tiefere Kommunikation möglich wäre, man bewegt sich intellektuell und emotional im gleichen Bereich - aber es passiert einfach zu selten". Oder da, wo sie den Literaturbetrieb kritisch betrachtet und schließlich klagt: Niemand freut sich über Erzählungen. Alle wollen nur den nächsten Roman. Wie Mora aber recherchiert, akribisch, empathisch, mit wenig Rücksicht auf ihre Gesundheit, etwa als sie Zeitzeugen zu den jüdischen Zwangsarbeitern in der heutigen Slowakei befragt, das ist das eigentliche Faszinosum. Alle finden ihre Geschichten so traurig, schreibt sie. "Nur ich nicht. Ich finde, sie sind, wie das Leben nun einmal ist."
In ihrer Schonungslosigkeit mit sich selbst und dem Dasein trägt Mora auch zu ihrer Ikonisierung bei. Nachts, im Regen, am frühen Morgen fährt sie mit dem Rad durch die Stadt, sammelt Bilder vom "Leben auf der Straße", die sie für ihren prekären Helden braucht, stürzt, rappelt sich auf, beobachtet weiter. Man liest, und manchmal schaut man auf und sieht sich um. Und stellt fest, dass man gerade dabei ist, für einen Moment durch ihre Augen zu blicken. So nahe ist sie gekommen.
Terézia Mora: "Fleckenverlauf". Ein Tage- und Arbeitsbuch.
Luchterhand Literaturverlag, München 2021. 288 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main