Blick ins BuchRoh, gekocht, kalt, heiß, fettig oder mager - Fleisch ist heute überall und jederzeit verfügbar. Die allgegenwärtige Verfügbarkeit von Fleisch als Konsumware unterscheidet unsere Moderne von allen vorherigen Epochen. Wer verstehen will, warum und wie wir Fleisch essen, muss ins Berlin des 19. Jahrhunderts zurückgehen. Hier erlangte Fleisch jene Selbstverständlichkeit, die im Zentrum der aktuellen Ernährungsdebatten steht. Christian Kassung beschreibt in diesem Buch die Kulturtechniken der industriellen Schweinefleischproduktion von der Zucht, der Haltung, der Schlachtung bis hin zur Distribution und Zubereitung. Er schildert, wie erst durch die Verschränkung einer Vielzahl industrieller Prozesse und Technologien die energiereiche Ernährung der arbeitenden Bevölkerung sichergestellt werden konnte. Der Fleischkonsum wurde damit im großstädtischen Alltag so stark wirksam, dass unser kulinarisches System dadurch bis heute geprägt ist. All dies fügt sich zu einer Geschichte des Überflusses zusammen - und regt zum Nachdenken über die historischen Bedingungen unserer eigenen Ernährungskultur an.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.11.2020Die Ordnung des Schlachthofs
Brennstoff für die moderne Gesellschaft: Christian Kassung zeigt am Beispiel der Metropole Berlin, wie Fleisch zum Industrieprodukt wurde.
Von Kai Spanke
In Büchern und Zeitungen gibt es viel zu lesen über die Sauereien, die sich jeden Tag hinter den Mauern deutscher Schlachthäuser abspielen. Die Liste reicht von schlechter Behandlung über unsachgemäßes Töten bis hin zu falscher Verarbeitung der Tiere. Wie sich jedoch all diese Praktiken vor fast hundertfünfzig Jahren entwickelt haben und welche soziale Bedeutung ihnen zukommt, darüber ist weniger bekannt. Das Buch des Kulturwissenschaftlers Christian Kassung leistet sich diesbezüglich einen Etikettenschwindel. Es heißt "Fleisch" und trägt den Untertitel "Die Geschichte einer Industrialisierung". Tatsächlich handelt es fast nur von Schweinefleisch und seiner Rolle im Berlin des neunzehnten Jahrhunderts.
Der Autor beschäftigt sich deshalb mit der Zucht und Mast von Schweinen, der technischen und architektonischen Infrastruktur, welche nötig ist, um Tiere in Waren zu transformieren, sowie Aspekten der Hygiene und des Markts. Anschließend erörtert er, wie und in welcher Form das Fleisch auf dem Teller der Konsumenten landet und welche Arten von Abfall übrig bleiben. Dabei vertritt er die These, dass Fleisch zum "Brennstoff der modernen Gesellschaft wurde", wobei es "die Industrialisierung in gewisser Weise erst ermöglichte". Gegenstand der Überlegungen bilden mithin nicht Schnitzel und Koteletts, sondern das Zusammenspiel aufeinander abgestimmter Abläufe, deren Ziel das fertige Produkt darstellt.
Kassung zeigt, dass es spezieller Voraussetzungen bedarf, um eine rasant wachsende Metropole wie Berlin mit Fleisch zu versorgen. Die Eröffnung des Zentralvieh- und Schlachthofs im März 1881, wo täglich zehntausend Tiere verarbeitet wurden, ging Hand in Hand mit dem Ausbau und Anschluss der Eisenbahn: Vom Nordosten her kamen die Waren herein, gen Westen wurde vor allem exportiert. 1860 betrug die Gesamtlänge deutscher Eisenbahnen elftausend Kilometer, dreißig Jahre später hatte sie sich auf dreiundvierzigtausend Kilometer vervierfacht. Von den rund drei Millionen Tonnen Tiertransporten des Jahres 1883 entfielen 1,7 Millionen Tonnen auf die Preußische Staatsbahn. Im Jahr davor waren es nur 0,8 Millionen Tonnen gewesen. Während sich die Produktion von Rind- und Kalbfleisch zwischen 1883 und 1913 um vierunddreißig Prozent steigerte, belief sich der Zuwachs des Schweinefleischs auf hundertvierzig Prozent.
Wie ist dieser Unterschied zu erklären? Kassung zufolge hat sich gerade der Verzehr von Schwein um 1900 so weit ausdifferenziert, dass er feine Unterschiede markieren konnte. Die Oberschicht nahm mit dem klassischen Braten vorlieb, die Mittelschicht favorisierte gepökeltes Fleisch. Zudem hätten Züchter das Schwein gleichsam technologisiert, was ökonomische Vorteile gebracht habe und mit Rindern wesentlich schwieriger zu machen gewesen sei. Der Berliner Soziologe und Volkswirt Werner Sombart (1863 bis 1941) verwies in diesem Zusammenhang auf eine "Steigerung des Lebendgewichts der einzelnen Tiere sowie eine Verbesserung der Rassen, Erhöhung des Nutzwertes".
Solange sich Kassung um Fakten und Zahlen kümmert, bleibt seine Abhandlung wohltuend bodenständig. Sobald er mit kulturwissenschaftlichem Rüstzeug die geschichtliche Darstellung kapert, wird es in mancher Hinsicht unübersichtlich. Kulturwissenschaft ist nur interdisziplinär möglich. Das verlangt ihren Verfechtern Disziplin ab. Wer sich ohne eng umrissene Fragestellung und definiertes Gegenstandsfeld in den Weiten verschiedener Fächer austobt, macht schnell eine Wandlung vom Forscher zum Moderator durch. Das passiert auch Kassung immer dann, wenn er den Jargon seiner Zunft bemüht oder einen Spagat von Darwin über Foucault bis Lévi-Strauss vollführt - auf Kosten der Klarheit: "Es scheint also gerade das komplexe Ineinanderspiel von nervösem Vibrieren und kontrolliertem Schwingen zu sein, in dem Fleisch als netzwerkbasiertes Produkt entsteht."
Wer es versteht, hier zwischen den Zeilen zu lesen, wird eine faszinierende Reise durch einen Teil unserer Ernährungskultur unternehmen. Alle anderen dürften in den eingeflochtenen Exkursen - etwa über das Auswalzen von Eisen - und im veranstalteten Begriffswirbel Orientierungsprobleme bekommen. So spielt etwa die animistisch unterfütterte Kategorie der Verwandlung eine wesentliche Rolle. Die Außenhaut des Berliner Fleischschauamts - heller Backstein, Fenster im Obergeschoss - habe eine "eindeutig mediale Funktion", nämlich "Licht ins Gebäudeinnere zu lenken und so das gesamte Gebäude in eine einzige Medienapparatur zu verwandeln". Am Eisenbahnnetz interessieren Kassung besonders "die konkreten Anschlüsse und einzelnen Schnittstellen", sie bildeten die "Grenzzonen, an denen sich Tiere in Fleisch verwandeln".
Metaphorische und assoziative Argumente reichert der Autor gern mit Signalworten wie "Praxis", "Störung", "Disziplinarregime", "Netzwerk", "Spannungsfeld", "Symbol" oder "Synchronisation" an. Weil es zum täglichen Geschäft des Viehhändlers gehörte, sich Geld zu leihen und Konflikte auszutragen, heißt es: "Der Kredit wird zu einem Medium der Synchronisation der Fleischproduktion." Wie sich derlei Ausführungen zur These verhalten, Fleisch sei für die Industrialisierung der Katalysator schlechthin gewesen, bleibt offen. Zudem hat es mehr mit rhetorischer Schnittigkeit als stringenter Analyse zu tun, wenn Kassung behauptet, während der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts habe die Kohle die Maschine und das Fleisch den Menschen mit Energie versorgt. Das eigentliche Verdienst des reich bebilderten Buchs ist ein anderes: Es illustriert im Detail, wie das Verhältnis von Mensch und Schlachtvieh seine noch heute wirksame Ordnung angenommen hat.
Christian Kassung: "Fleisch". Die Geschichte einer Industrialisierung.
Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn 2020.
294 S., Abb., geb., 39,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Brennstoff für die moderne Gesellschaft: Christian Kassung zeigt am Beispiel der Metropole Berlin, wie Fleisch zum Industrieprodukt wurde.
Von Kai Spanke
In Büchern und Zeitungen gibt es viel zu lesen über die Sauereien, die sich jeden Tag hinter den Mauern deutscher Schlachthäuser abspielen. Die Liste reicht von schlechter Behandlung über unsachgemäßes Töten bis hin zu falscher Verarbeitung der Tiere. Wie sich jedoch all diese Praktiken vor fast hundertfünfzig Jahren entwickelt haben und welche soziale Bedeutung ihnen zukommt, darüber ist weniger bekannt. Das Buch des Kulturwissenschaftlers Christian Kassung leistet sich diesbezüglich einen Etikettenschwindel. Es heißt "Fleisch" und trägt den Untertitel "Die Geschichte einer Industrialisierung". Tatsächlich handelt es fast nur von Schweinefleisch und seiner Rolle im Berlin des neunzehnten Jahrhunderts.
Der Autor beschäftigt sich deshalb mit der Zucht und Mast von Schweinen, der technischen und architektonischen Infrastruktur, welche nötig ist, um Tiere in Waren zu transformieren, sowie Aspekten der Hygiene und des Markts. Anschließend erörtert er, wie und in welcher Form das Fleisch auf dem Teller der Konsumenten landet und welche Arten von Abfall übrig bleiben. Dabei vertritt er die These, dass Fleisch zum "Brennstoff der modernen Gesellschaft wurde", wobei es "die Industrialisierung in gewisser Weise erst ermöglichte". Gegenstand der Überlegungen bilden mithin nicht Schnitzel und Koteletts, sondern das Zusammenspiel aufeinander abgestimmter Abläufe, deren Ziel das fertige Produkt darstellt.
Kassung zeigt, dass es spezieller Voraussetzungen bedarf, um eine rasant wachsende Metropole wie Berlin mit Fleisch zu versorgen. Die Eröffnung des Zentralvieh- und Schlachthofs im März 1881, wo täglich zehntausend Tiere verarbeitet wurden, ging Hand in Hand mit dem Ausbau und Anschluss der Eisenbahn: Vom Nordosten her kamen die Waren herein, gen Westen wurde vor allem exportiert. 1860 betrug die Gesamtlänge deutscher Eisenbahnen elftausend Kilometer, dreißig Jahre später hatte sie sich auf dreiundvierzigtausend Kilometer vervierfacht. Von den rund drei Millionen Tonnen Tiertransporten des Jahres 1883 entfielen 1,7 Millionen Tonnen auf die Preußische Staatsbahn. Im Jahr davor waren es nur 0,8 Millionen Tonnen gewesen. Während sich die Produktion von Rind- und Kalbfleisch zwischen 1883 und 1913 um vierunddreißig Prozent steigerte, belief sich der Zuwachs des Schweinefleischs auf hundertvierzig Prozent.
Wie ist dieser Unterschied zu erklären? Kassung zufolge hat sich gerade der Verzehr von Schwein um 1900 so weit ausdifferenziert, dass er feine Unterschiede markieren konnte. Die Oberschicht nahm mit dem klassischen Braten vorlieb, die Mittelschicht favorisierte gepökeltes Fleisch. Zudem hätten Züchter das Schwein gleichsam technologisiert, was ökonomische Vorteile gebracht habe und mit Rindern wesentlich schwieriger zu machen gewesen sei. Der Berliner Soziologe und Volkswirt Werner Sombart (1863 bis 1941) verwies in diesem Zusammenhang auf eine "Steigerung des Lebendgewichts der einzelnen Tiere sowie eine Verbesserung der Rassen, Erhöhung des Nutzwertes".
Solange sich Kassung um Fakten und Zahlen kümmert, bleibt seine Abhandlung wohltuend bodenständig. Sobald er mit kulturwissenschaftlichem Rüstzeug die geschichtliche Darstellung kapert, wird es in mancher Hinsicht unübersichtlich. Kulturwissenschaft ist nur interdisziplinär möglich. Das verlangt ihren Verfechtern Disziplin ab. Wer sich ohne eng umrissene Fragestellung und definiertes Gegenstandsfeld in den Weiten verschiedener Fächer austobt, macht schnell eine Wandlung vom Forscher zum Moderator durch. Das passiert auch Kassung immer dann, wenn er den Jargon seiner Zunft bemüht oder einen Spagat von Darwin über Foucault bis Lévi-Strauss vollführt - auf Kosten der Klarheit: "Es scheint also gerade das komplexe Ineinanderspiel von nervösem Vibrieren und kontrolliertem Schwingen zu sein, in dem Fleisch als netzwerkbasiertes Produkt entsteht."
Wer es versteht, hier zwischen den Zeilen zu lesen, wird eine faszinierende Reise durch einen Teil unserer Ernährungskultur unternehmen. Alle anderen dürften in den eingeflochtenen Exkursen - etwa über das Auswalzen von Eisen - und im veranstalteten Begriffswirbel Orientierungsprobleme bekommen. So spielt etwa die animistisch unterfütterte Kategorie der Verwandlung eine wesentliche Rolle. Die Außenhaut des Berliner Fleischschauamts - heller Backstein, Fenster im Obergeschoss - habe eine "eindeutig mediale Funktion", nämlich "Licht ins Gebäudeinnere zu lenken und so das gesamte Gebäude in eine einzige Medienapparatur zu verwandeln". Am Eisenbahnnetz interessieren Kassung besonders "die konkreten Anschlüsse und einzelnen Schnittstellen", sie bildeten die "Grenzzonen, an denen sich Tiere in Fleisch verwandeln".
Metaphorische und assoziative Argumente reichert der Autor gern mit Signalworten wie "Praxis", "Störung", "Disziplinarregime", "Netzwerk", "Spannungsfeld", "Symbol" oder "Synchronisation" an. Weil es zum täglichen Geschäft des Viehhändlers gehörte, sich Geld zu leihen und Konflikte auszutragen, heißt es: "Der Kredit wird zu einem Medium der Synchronisation der Fleischproduktion." Wie sich derlei Ausführungen zur These verhalten, Fleisch sei für die Industrialisierung der Katalysator schlechthin gewesen, bleibt offen. Zudem hat es mehr mit rhetorischer Schnittigkeit als stringenter Analyse zu tun, wenn Kassung behauptet, während der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts habe die Kohle die Maschine und das Fleisch den Menschen mit Energie versorgt. Das eigentliche Verdienst des reich bebilderten Buchs ist ein anderes: Es illustriert im Detail, wie das Verhältnis von Mensch und Schlachtvieh seine noch heute wirksame Ordnung angenommen hat.
Christian Kassung: "Fleisch". Die Geschichte einer Industrialisierung.
Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn 2020.
294 S., Abb., geb., 39,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Es geht hier vor allem um Schweinehaltung, -vertrieb und -verzehr und am Beispiel Berlins und seines Wachstum darum, wie die Fleischproduktion das Wachstum der Metropole ermöglicht und gesteigert hat, meint Rezensent Kai Spanke. So lange der Autor sich an diese Geschichte hält, ist der Kritiker von dem Buch beeindruckt. Sobald Autor Christian Kassung jedoch kulturwissenschaftlich alles mit "rhetorischer Schnittigkeit" präpariert und sich zwischen Darwin, Foucault und Lévi-Strauss verirrt, scheint er, so legt es der Kritiker nahe, seinen Erklärungshorizont zu übersteigen. Insofern scheint Spanke auch die These, Fleisch sei für den Menschen im Industriezeitalter was die Kohle für die Maschinen war, nicht wirklich belegt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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