Ob fanatische Tierschützer, heillos Verliebte, Althippies, obsessive Sammler oder moribunde Mafiapaten: T. C. Boyles Kuriositätenkabinett ist wieder einmal unübertrefflich.
Phantastische, skurrile und zynische Geschichten mit Überraschungseffekt.
Ein junger Mann befreit aus Liebe zu einer engagierten Tierschützerin in einer Nacht-und-Nebel-Aktion Hunderte von Truthähnen. Allerdings geht das Mädchen danach mit einem anderen Tierschützer auf und davon, und die Geschichte nimmt speziell für die Truthähne ein schlimmes Ende. In einer anderen Geschichte wird ein Vater durch seine kleine Tochter mit der eigenen Hippie-Vergangenheit konfrontiert, zu der er sich nicht mehr bekennen kann. Ein reiches Sammlerpaar heuert eine Firma an, die gegen teures Geld ihr vollgestopftes Heim entrümpelt, und zwar so radikal, daß die beiden nicht einmal ihre Matratzen wiederfinden. Boyle ist nichts heilig, wie seine Leser wissen, und gerade das schätzen wir an ihm. Doch sollten sein Mangel an Respekt und an politischer Korrektheit nicht darüber hinwegtäuschen, daß er die Themen, mit denen er sich beschäftigt und die auch uns beschäftigen, ganz und gar ernst nimmt.Die neueste Sammlung T. C. Boyles, des Geschichtenerzählers, überrascht wieder einmal durch die phantastischen Motive, die Bandbreite der Themen, die bizarren Personen, die bei aller Verschrobenheit doch völlig wirklichkeitsnah sind.
Phantastische, skurrile und zynische Geschichten mit Überraschungseffekt.
Ein junger Mann befreit aus Liebe zu einer engagierten Tierschützerin in einer Nacht-und-Nebel-Aktion Hunderte von Truthähnen. Allerdings geht das Mädchen danach mit einem anderen Tierschützer auf und davon, und die Geschichte nimmt speziell für die Truthähne ein schlimmes Ende. In einer anderen Geschichte wird ein Vater durch seine kleine Tochter mit der eigenen Hippie-Vergangenheit konfrontiert, zu der er sich nicht mehr bekennen kann. Ein reiches Sammlerpaar heuert eine Firma an, die gegen teures Geld ihr vollgestopftes Heim entrümpelt, und zwar so radikal, daß die beiden nicht einmal ihre Matratzen wiederfinden. Boyle ist nichts heilig, wie seine Leser wissen, und gerade das schätzen wir an ihm. Doch sollten sein Mangel an Respekt und an politischer Korrektheit nicht darüber hinwegtäuschen, daß er die Themen, mit denen er sich beschäftigt und die auch uns beschäftigen, ganz und gar ernst nimmt.Die neueste Sammlung T. C. Boyles, des Geschichtenerzählers, überrascht wieder einmal durch die phantastischen Motive, die Bandbreite der Themen, die bizarren Personen, die bei aller Verschrobenheit doch völlig wirklichkeitsnah sind.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.10.1999Auf dem Krötenteppich
T. C. Boyle ergibt sich der Fleischeslust / Von Hubertus Breuer
Früher waren die Kurzgeschichten von Tom Coraghessan Boyle schönstes amerikanisches Schauertheater. In feinen Restaurants servierte der Autor Hirne in aufgeklappten Schädeln lebender Affen. Oder er ließ einen Regenschauer von Blut auf eine Hippiekommune niederrauschen. Und ein Adoptivsohn, der sich für eine Killerbiene hielt, schickte Morddrohungen an die lieben Stiefeltern. Das Leben freilich hütet sich, derartige Geschichten zu schreiben - einzig der unausgesetzt glühende Durchlauferhitzer von Boyles Fantasie konnte es sich leisten, dem täglichen Einerlei solch überzeichneten Ausdruck zu geben. Bald galt der in Kalifornien lebende Ex-Hippie als Matador der amoklaufenden Wirklichkeit. Rezensenten preisen den beißenden Witz, die sprachliche Opulenz, Beobachtungsschärfe und die durchdachte Komposition seiner Werke - ein brillanter Bad Boy, der in den achtziger Jahren mit seinem Wahnwitz heutigen jungen Wilden wie dem Briten Will Self oder dem Amerikaner David Foster Wallace den Boden bereitete.
Allein, nach einigen Büchern, als die Satire zur Zirkusnummer zu verkommen schien, trat vielerorts Müdigkeit ein. Seit dem 1993 veröffentlichten Roman "Willkommen in Wellville", der das Leben des Gesundheitsapostels Doktor Kellogg erzählte, wurden Rufe laut, hinter den krachbunten Karikaturen verkümmere die Wirklichkeit. Das jedoch ist zumindest ein Missverständnis. Dem 1948 geborenen Tom Coraghessan Boyle geht es stets um die Realität. Nur suchte der Autor zunächst sich die absurde Welt mit schallendem Gelächter vom Leibe zu halten. Der surreale Spott entsprang einer naturgegebenen Überlebensstrategie, einem Reflex, in dessen Spiegel sich die bedrohliche amerikanische Gesellschaft in bizarren Formen wiederfand. Der da Leser kitzelt, ist ein sensibler abgrundtiefer Pessimist, ein in schwarzen Komödien schwelgender Melancholiker.
Inzwischen lässt Boyle die Wirklichkeit längst näher an sich heran. In der jetzt auf Deutsch vorliegenden Sammlung "Fleischeslust", die in den Vereinigten Staaten bereits 1994 erschien, verblassen apokalyptische Visionen von einst zu gewitzten Alltagsparodien, von der Realität nur einen Schritt weit entfernt. Die Welt erscheint weniger grauslich fantastisch als amüsant erschreckend. Dabei strauchelt Boyle im holprigen Gelände des richtigen Lebens mindestens ebenso oft, wie er bezaubernde Luftsprünge vollführt.
Den Auftakt der Sammlung macht "Großwildjagd", eine Erzählung über eine Safari auf einer Ranch bei Bakersfield in Südkalifornien, einem Tierpark blutiger Sonderklasse. Ein Immobilienmakler versucht vergebens, sich den Kindertraum einer Löwen- oder Elefantentrophäe zu erfüllen. Stattdessen, weil er den Gewehrlauf vom Kolben kaum unterscheiden kann, stürmt die angeschossene alte Dickhäuterin Bessie Bee wild auf ihn los. An dieser Stelle wechselt Boyle die Perspektive: vom entsetzten Wildhüter zum schmerzerfüllten grauen Riesen. Er erzählt davon, wie der Elefant in einem Zirkus sein Dasein fristete, in den Tierpark kam und jetzt weiß, dass er sterben muss - nicht ohne sich noch wenigstens einmal zu wehren: "Das machte sie wütend, trieb sie nur umso wilder voran, unaufhaltsam und unbesiegbar, dreieinhalb Meter Schulterhöhe und gut sieben Tonnen Gewicht, Schluss mit den Zirkussen, Palankins, Stachelstöcken. Sie sah zwei lächerliche Stichmännchen hinter einem Fels hervorspringen - die konnte sie drei Mal schlucken und wieder ausspucken."
Mensch und Kreatur stoßen in mehreren Geschichten aufeinander. Dabei gibt Boyle keiner Gattung den Vorzug. Auf ihre Weise wirken beide lächerlich. Zum Beispiel in der Erzählung "Keimende Hoffnung", in der ein Pärchen nach einem Vortrag in der Volkshochschule über Gerüchte des weltweiten Froschsterbens verzweifelt. Da machen sich die zwei auf, die Hüpfer im Wald zu finden. Und tatsächlich: In einem vergessenen feuchten Winkel des Forsts entdecken sie eine Massenorgie hunderter Kröten, "eine Wiese aus Fleisch, eine gewaltige, unendliche Krötenvereinigung". Davon animiert, lassen sich die beiden Menschlein wollüstig auf den weichen, tiefen Teppich schleimiger Tiere fallen. Die Unterschiede zwischen Zwei- und Vierbeinern verschwinden, alle Unkenrufe verstummen angesichts blinder Begierde. In einer anderen Episode trifft ein Werbetexter auf eine hinreißende militante Tierschützerin, die ihn verführt. Doch der Dame geht es um ihre Mission. Betört vom Abenteuer zwischen ihren Laken, bekehrt er sich zum Vegetarier und beginnt vor Pelzläden zu demonstrieren. Als Höhepunkt befreit er in ihrem Gefolge in einer Nacht-und-Nebel-Aktion, wenige Tage vor Thanksgiving, Tausende von Truthähnen. Dann jedoch zieht Jeanne d'Arc mit einem altgedienten Ökoterroristen davon.
Boyle geriert sich nicht als Mahner ökologischen Untergangs, ungeachtet der Tatsache, dass die Schrecken, von denen er berichtet, anders als die wilden Kopfgeburten von einst, greifbare Wirklichkeit sind. Der Autor sieht Mensch und Tier miteinander verkeilt in einer unfriedlichen Welt. Der eine kämpft blind, der andere von Hoffnung und Glaube verblendet, ums eigene Überleben. Für beide leuchtet kein Silberstreif, im Verteilungskampf geht die Evolution gnadenfern ihren eigenen Weg. Der profunde Schwarzseher erweist sich als komödiantischer Schopenhauer-Adept. Durch den pointiert gemusterten Stoff der Erzählungen schimmert die Ahnung hindurch, dass alles Menschenleiden erst ein Ende findet, wenn die Spezies Homo Sapiens von der kosmisch-komischen Bühne endgültig abgetreten ist. Boyles bessere Erzählungen halten die sich ins hoffnungslose Irgendwo fortwalzende Erdgeschichte ein paar Augenblicke in blitzender Sinnlosigkeit an. Bisweilen aber führt der Autor Boyle auch nur Possen auf, die den Leser rasch den alten Aberwitz und blutrünstigen Humor vermissen lassen. Ein Regierungsangestellter sagt etwa vor dem amerikanischen Kongress aus, wie seine Behörde auf Borneo im Rahmen der Entwicklungshilfe mit DDT die Glieder der Nahrungskette eines nach dem anderen wie Dominosteine umfallen ließ. Selbst auf nur acht Seiten wirkt die Pointe rasch breit, nicht stark.
All das ist keine Erbauungsliteratur. Der karikierende Strich Boyles spendet nur wenig Trost. Wir sehen uns umgeben von einer zerstörten Umwelt, heruntergewirtschafteten Seelen, sozialer Klassenarroganz, Doppelmoral und Gleichgültigkeit. Und wenn Boyle in seinen Erzählungen ein paar Lichtblicke zulässt, dann nur augenzwinkernd. Als ein jungvermählter Pensionist nach einem Hurrikan vom Postamt heimkommt, hat der Sturm sein Anwesen in alle Lüfte davongetragen. "Er hatte schon öfters Häuser verloren - meistens an Ehefrauen, die ja sowieso eine Art Naturkatastrophe waren; damit konnte er leben -, und er hatte auch Ehefrauen verloren, allerdings niemals so." Als Muriel, die Angetraute, unerwartet von den Toten aufersteht, macht sich spürbar Erleichterung breit - aber auch still gehegte Ressentiments, die im Moment der Katastrophe sekundenlang vergessen waren.
Manchmal jedoch nützt Boyle seinen spitzen Stift nicht zum Aufspießen, sondern zur überraschend einfühlsamen Skizze. Die vorzügliche Erzählung "Der Nebelmann" handelt von einem zwölfjährigen Jungen irischer Abstammung, der in den fünfziger Jahren nördlich von New York im Kreis Westchester aufwächst - ebenso wie Boyle, weshalb die Sensibilität für den Charakter wohl nicht von ungefähr kommt. Der Knabe hegt Zuneigung zu einem dunkelhäutigen Mädchen, das halb japanischer, halb afroamerikanischer Abstammung ist, einzigartig in der sonst ausschließlich weißen Nachbarschaft. Aber der Junge versteht die aufwallenden Gefühle der Sehnsucht und Zärtlichkeit nicht. Als das Haus der Familie des Mädchens eines Tages mit rassistischen Parolen verschandelt wird, erklärt er sich bereit, das Gebäude nachts mit Eiern zu bewerfen. Damit sucht er, wenig erfolgreich, seine emotionale Verwirrung niederzuringen. Der Autor beobachtet genau, wie sich der Zwiespalt entwickelt, ohne ihm sarkastisch das Gewicht zu nehmen. Nachdem die Familie des Mädchens die kleine Stadt verlassen hat, klettert der Junge auf den Hügel hinter dem Haus, "um durch die kahlen Fenster zu spähen und mich zu vergewissern". Doch Boyle führt vor, dass Sicherheit nicht zu haben ist, nur auf die verstörende Gegenwart lässt sich zählen. Als das Mädchen eines Tages unerwartet auftaucht, scheint es, als wolle sie den Jungen an den Abfallgrund seiner Seele erinnern. Doch sie lächelt ihm nur zu. Schon im nächsten Augenblick ist sie verschwunden. Der Junge bleibt zurück, irritiert, ohne es zu wissen. Boyle lässt die Irritation stehen, ohne ihr sarkastisch das Gewicht zu nehmen. Die Wirklichkeit ist plötzlich ganz nah. Und gar nicht mehr lustig.
Tom Coraghessan Boyle: "Fleischeslust". Erzählungen. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Werner Richter. Carl Hanser Verlag, München und Wien 1999. 296 S., geb., 36,-DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
T. C. Boyle ergibt sich der Fleischeslust / Von Hubertus Breuer
Früher waren die Kurzgeschichten von Tom Coraghessan Boyle schönstes amerikanisches Schauertheater. In feinen Restaurants servierte der Autor Hirne in aufgeklappten Schädeln lebender Affen. Oder er ließ einen Regenschauer von Blut auf eine Hippiekommune niederrauschen. Und ein Adoptivsohn, der sich für eine Killerbiene hielt, schickte Morddrohungen an die lieben Stiefeltern. Das Leben freilich hütet sich, derartige Geschichten zu schreiben - einzig der unausgesetzt glühende Durchlauferhitzer von Boyles Fantasie konnte es sich leisten, dem täglichen Einerlei solch überzeichneten Ausdruck zu geben. Bald galt der in Kalifornien lebende Ex-Hippie als Matador der amoklaufenden Wirklichkeit. Rezensenten preisen den beißenden Witz, die sprachliche Opulenz, Beobachtungsschärfe und die durchdachte Komposition seiner Werke - ein brillanter Bad Boy, der in den achtziger Jahren mit seinem Wahnwitz heutigen jungen Wilden wie dem Briten Will Self oder dem Amerikaner David Foster Wallace den Boden bereitete.
Allein, nach einigen Büchern, als die Satire zur Zirkusnummer zu verkommen schien, trat vielerorts Müdigkeit ein. Seit dem 1993 veröffentlichten Roman "Willkommen in Wellville", der das Leben des Gesundheitsapostels Doktor Kellogg erzählte, wurden Rufe laut, hinter den krachbunten Karikaturen verkümmere die Wirklichkeit. Das jedoch ist zumindest ein Missverständnis. Dem 1948 geborenen Tom Coraghessan Boyle geht es stets um die Realität. Nur suchte der Autor zunächst sich die absurde Welt mit schallendem Gelächter vom Leibe zu halten. Der surreale Spott entsprang einer naturgegebenen Überlebensstrategie, einem Reflex, in dessen Spiegel sich die bedrohliche amerikanische Gesellschaft in bizarren Formen wiederfand. Der da Leser kitzelt, ist ein sensibler abgrundtiefer Pessimist, ein in schwarzen Komödien schwelgender Melancholiker.
Inzwischen lässt Boyle die Wirklichkeit längst näher an sich heran. In der jetzt auf Deutsch vorliegenden Sammlung "Fleischeslust", die in den Vereinigten Staaten bereits 1994 erschien, verblassen apokalyptische Visionen von einst zu gewitzten Alltagsparodien, von der Realität nur einen Schritt weit entfernt. Die Welt erscheint weniger grauslich fantastisch als amüsant erschreckend. Dabei strauchelt Boyle im holprigen Gelände des richtigen Lebens mindestens ebenso oft, wie er bezaubernde Luftsprünge vollführt.
Den Auftakt der Sammlung macht "Großwildjagd", eine Erzählung über eine Safari auf einer Ranch bei Bakersfield in Südkalifornien, einem Tierpark blutiger Sonderklasse. Ein Immobilienmakler versucht vergebens, sich den Kindertraum einer Löwen- oder Elefantentrophäe zu erfüllen. Stattdessen, weil er den Gewehrlauf vom Kolben kaum unterscheiden kann, stürmt die angeschossene alte Dickhäuterin Bessie Bee wild auf ihn los. An dieser Stelle wechselt Boyle die Perspektive: vom entsetzten Wildhüter zum schmerzerfüllten grauen Riesen. Er erzählt davon, wie der Elefant in einem Zirkus sein Dasein fristete, in den Tierpark kam und jetzt weiß, dass er sterben muss - nicht ohne sich noch wenigstens einmal zu wehren: "Das machte sie wütend, trieb sie nur umso wilder voran, unaufhaltsam und unbesiegbar, dreieinhalb Meter Schulterhöhe und gut sieben Tonnen Gewicht, Schluss mit den Zirkussen, Palankins, Stachelstöcken. Sie sah zwei lächerliche Stichmännchen hinter einem Fels hervorspringen - die konnte sie drei Mal schlucken und wieder ausspucken."
Mensch und Kreatur stoßen in mehreren Geschichten aufeinander. Dabei gibt Boyle keiner Gattung den Vorzug. Auf ihre Weise wirken beide lächerlich. Zum Beispiel in der Erzählung "Keimende Hoffnung", in der ein Pärchen nach einem Vortrag in der Volkshochschule über Gerüchte des weltweiten Froschsterbens verzweifelt. Da machen sich die zwei auf, die Hüpfer im Wald zu finden. Und tatsächlich: In einem vergessenen feuchten Winkel des Forsts entdecken sie eine Massenorgie hunderter Kröten, "eine Wiese aus Fleisch, eine gewaltige, unendliche Krötenvereinigung". Davon animiert, lassen sich die beiden Menschlein wollüstig auf den weichen, tiefen Teppich schleimiger Tiere fallen. Die Unterschiede zwischen Zwei- und Vierbeinern verschwinden, alle Unkenrufe verstummen angesichts blinder Begierde. In einer anderen Episode trifft ein Werbetexter auf eine hinreißende militante Tierschützerin, die ihn verführt. Doch der Dame geht es um ihre Mission. Betört vom Abenteuer zwischen ihren Laken, bekehrt er sich zum Vegetarier und beginnt vor Pelzläden zu demonstrieren. Als Höhepunkt befreit er in ihrem Gefolge in einer Nacht-und-Nebel-Aktion, wenige Tage vor Thanksgiving, Tausende von Truthähnen. Dann jedoch zieht Jeanne d'Arc mit einem altgedienten Ökoterroristen davon.
Boyle geriert sich nicht als Mahner ökologischen Untergangs, ungeachtet der Tatsache, dass die Schrecken, von denen er berichtet, anders als die wilden Kopfgeburten von einst, greifbare Wirklichkeit sind. Der Autor sieht Mensch und Tier miteinander verkeilt in einer unfriedlichen Welt. Der eine kämpft blind, der andere von Hoffnung und Glaube verblendet, ums eigene Überleben. Für beide leuchtet kein Silberstreif, im Verteilungskampf geht die Evolution gnadenfern ihren eigenen Weg. Der profunde Schwarzseher erweist sich als komödiantischer Schopenhauer-Adept. Durch den pointiert gemusterten Stoff der Erzählungen schimmert die Ahnung hindurch, dass alles Menschenleiden erst ein Ende findet, wenn die Spezies Homo Sapiens von der kosmisch-komischen Bühne endgültig abgetreten ist. Boyles bessere Erzählungen halten die sich ins hoffnungslose Irgendwo fortwalzende Erdgeschichte ein paar Augenblicke in blitzender Sinnlosigkeit an. Bisweilen aber führt der Autor Boyle auch nur Possen auf, die den Leser rasch den alten Aberwitz und blutrünstigen Humor vermissen lassen. Ein Regierungsangestellter sagt etwa vor dem amerikanischen Kongress aus, wie seine Behörde auf Borneo im Rahmen der Entwicklungshilfe mit DDT die Glieder der Nahrungskette eines nach dem anderen wie Dominosteine umfallen ließ. Selbst auf nur acht Seiten wirkt die Pointe rasch breit, nicht stark.
All das ist keine Erbauungsliteratur. Der karikierende Strich Boyles spendet nur wenig Trost. Wir sehen uns umgeben von einer zerstörten Umwelt, heruntergewirtschafteten Seelen, sozialer Klassenarroganz, Doppelmoral und Gleichgültigkeit. Und wenn Boyle in seinen Erzählungen ein paar Lichtblicke zulässt, dann nur augenzwinkernd. Als ein jungvermählter Pensionist nach einem Hurrikan vom Postamt heimkommt, hat der Sturm sein Anwesen in alle Lüfte davongetragen. "Er hatte schon öfters Häuser verloren - meistens an Ehefrauen, die ja sowieso eine Art Naturkatastrophe waren; damit konnte er leben -, und er hatte auch Ehefrauen verloren, allerdings niemals so." Als Muriel, die Angetraute, unerwartet von den Toten aufersteht, macht sich spürbar Erleichterung breit - aber auch still gehegte Ressentiments, die im Moment der Katastrophe sekundenlang vergessen waren.
Manchmal jedoch nützt Boyle seinen spitzen Stift nicht zum Aufspießen, sondern zur überraschend einfühlsamen Skizze. Die vorzügliche Erzählung "Der Nebelmann" handelt von einem zwölfjährigen Jungen irischer Abstammung, der in den fünfziger Jahren nördlich von New York im Kreis Westchester aufwächst - ebenso wie Boyle, weshalb die Sensibilität für den Charakter wohl nicht von ungefähr kommt. Der Knabe hegt Zuneigung zu einem dunkelhäutigen Mädchen, das halb japanischer, halb afroamerikanischer Abstammung ist, einzigartig in der sonst ausschließlich weißen Nachbarschaft. Aber der Junge versteht die aufwallenden Gefühle der Sehnsucht und Zärtlichkeit nicht. Als das Haus der Familie des Mädchens eines Tages mit rassistischen Parolen verschandelt wird, erklärt er sich bereit, das Gebäude nachts mit Eiern zu bewerfen. Damit sucht er, wenig erfolgreich, seine emotionale Verwirrung niederzuringen. Der Autor beobachtet genau, wie sich der Zwiespalt entwickelt, ohne ihm sarkastisch das Gewicht zu nehmen. Nachdem die Familie des Mädchens die kleine Stadt verlassen hat, klettert der Junge auf den Hügel hinter dem Haus, "um durch die kahlen Fenster zu spähen und mich zu vergewissern". Doch Boyle führt vor, dass Sicherheit nicht zu haben ist, nur auf die verstörende Gegenwart lässt sich zählen. Als das Mädchen eines Tages unerwartet auftaucht, scheint es, als wolle sie den Jungen an den Abfallgrund seiner Seele erinnern. Doch sie lächelt ihm nur zu. Schon im nächsten Augenblick ist sie verschwunden. Der Junge bleibt zurück, irritiert, ohne es zu wissen. Boyle lässt die Irritation stehen, ohne ihr sarkastisch das Gewicht zu nehmen. Die Wirklichkeit ist plötzlich ganz nah. Und gar nicht mehr lustig.
Tom Coraghessan Boyle: "Fleischeslust". Erzählungen. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Werner Richter. Carl Hanser Verlag, München und Wien 1999. 296 S., geb., 36,-DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
"Hubertus Breuer beschreibt Boyle, den Autor von "Willkommen in Wellville" als einen "Matador der amoklaufenden Wirklichkeit", der nun doch die Realität näher an sich heranlassende. Boyle selbst, so der Rezensent, mag gepürt haben, dass sich die Satire in seiner Kunst totzulaufen begann. Boyles neue Erzählungen treffen bei Breuer auf gemischte, aber eher wohlwollende Resonanz. Am besten gefallen ihm die Geschichten, in denen "Mensch und Kreatur aufeinanderstoßen". Hier beschreibt Breuer mit Hingabe Boyles Perspektivwechsel vom Großwildjäger auf den angeschossenen Elefanten oder die erotische Anregung eines Liebespaars angesichts einer Massenorgie von Hunderten kopulierender Kröten im tiefen tiefen Wald. Boyles satirische Ader bleibt fruchtbar, meint der Rezensent, aber Trost spendet sie weder Mensch noch Tier.
© Perlentaucher Medien GmbH"
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"Eine Sammlung, die Lust macht auf mehr." Renate Dubach in der 'Berner Zeitung'
"Es gibt mehrere dieser stillen Geschichten, in denen sich die Trauer über die Unheilbarkeit der Welt nicht in grellen Bildern und grotesken Verzerrungen äussert, sondern auf ganz unspektakuläre Weise. Da klingt ein neuer Ton an, den wir in Zukunft bei Boyle nicht mehr missen wollen." Claus-Ulrich Bielefeld im 'Tages-Anzeiger', Zürich
"Boyle kennt sie gut, die Verlierertypen, und so gewinnen seine vom Leben überforderten Schwächlinge und Schwachköpfe am Ende doch, irgendwie, meistens - und sei es die Sympathie des Lesers." Martin Wolf in der 'Spiegel'-Messebeilage
"Es gibt mehrere dieser stillen Geschichten, in denen sich die Trauer über die Unheilbarkeit der Welt nicht in grellen Bildern und grotesken Verzerrungen äussert, sondern auf ganz unspektakuläre Weise. Da klingt ein neuer Ton an, den wir in Zukunft bei Boyle nicht mehr missen wollen." Claus-Ulrich Bielefeld im 'Tages-Anzeiger', Zürich
"Boyle kennt sie gut, die Verlierertypen, und so gewinnen seine vom Leben überforderten Schwächlinge und Schwachköpfe am Ende doch, irgendwie, meistens - und sei es die Sympathie des Lesers." Martin Wolf in der 'Spiegel'-Messebeilage
»Es gibt mehrere dieser stillen Geschichten, in denen sich die Trauer über die Unheilbarkeit der Welt nicht in grellen Bildern und grotesken Verzerrungen äussert, sondern auf ganz unspektakuläre Weise. Da klingt ein neuer Ton an, den wir in Zukunft bei Boyle nicht mehr missen wollen.« Claus-Ulrich Bielefeld, Tages-Anzeiger, Zürich