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Eine Frau auf unendlicher Reise. Sie lebt im Zug, in Großraumabteilen, in ICEs. Früher hatte sie ein normales Leben: Wohnung, Beruf, Mann, beste Freundin. Jetzt hat sie eine Bahncard 100, eine Tasche mit dem Nötigsten und lebt vom Flaschensammeln. Und doch scheint diese Außenseiterin hellsichtig. Für die Komödien und Tragödien um sie herum, für ein Deutschland ohne Orientierung. Albrecht Selges virtuoser Sprachwitz und hintergründige Ironie sorgen dafür, dass dieser Roman bei allem Ernst leicht und überraschend bleibt. Die Geschichte eines Sturzes? Eine Geschichte übers Aufstehen und…mehr

Produktbeschreibung
Eine Frau auf unendlicher Reise. Sie lebt im Zug, in Großraumabteilen, in ICEs. Früher hatte sie ein normales Leben: Wohnung, Beruf, Mann, beste Freundin. Jetzt hat sie eine Bahncard 100, eine Tasche mit dem Nötigsten und lebt vom Flaschensammeln. Und doch scheint diese Außenseiterin hellsichtig. Für die Komödien und Tragödien um sie herum, für ein Deutschland ohne Orientierung. Albrecht Selges virtuoser Sprachwitz und hintergründige Ironie sorgen dafür, dass dieser Roman bei allem Ernst leicht und überraschend bleibt. Die Geschichte eines Sturzes? Eine Geschichte übers Aufstehen und Weiterfahren, über Obdach und Würde. Und ein Bild unserer Gegenwart aus außergewöhnlichem Blickwinkel.
Autorenporträt
Albrecht Selge, geboren 1975 in Heidelberg, studierte Germanistik und Philosophie in Berlin und Wien. Sein begeistert aufgenommenes Debüt 'Wach' (2011) wurde für den Alfred-Döblin-Preis nominiert und mit dem Klaus-Michael-Kühne-Preis des Harbour Front Literaturfestivals Hamburg ausgezeichnet. Die folgenden Romane 'Die trunkene Fahrt' (2016), 'Fliegen' (2019) und 'Beethovn' (2020) wurden nicht weniger gelobt. 2022 erschien sein Jugendroman 'Luyánta - Das Jahr in der Unselben Welt'. Albrecht Selge lebt als freier Autor und Musikkritiker mit seiner Familie in Berlin.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.03.2019

Endlose Wagenreihung
In Albrecht Selges Roman „Fliegen“ verbringt eine Frau ihr Leben in
Zügen der Deutschen Bahn. Dabei geht sie der Welt verloren
VON ULRICH RÜDENAUER
In den letzten Jahren schwirrten sensationsfreudige Geschichten über Zugnomaden durch die Medien: Eine handelte von einer Studentin, die anderthalb Jahre lang ihre Wohnung gegen eine Bahncard 100 tauschte. Eine von einem jungen Angestellten, dem sein Alltag zu langweilig geworden war, und der deshalb die Nächte im ICE verbrachte. Und eine schöne Reportage von Uwe Ebbinghaus schilderte das entgleiste Leben eines Mannes, der von seelischer Not getrieben aus seinem Leben aus- und in den Zug eingestiegen war, sich mit dem Sammeln von Pfandflaschen die Bahncard 100 finanzierte und dank zuverlässig verspäteter Verbindungen DB-Verzehrgutscheine ergatterte. Sein Besitz passte in eine einzige Reisetasche, und seinen Wissensdurst löschte er durch manische Zeitungslektüre.
Die Heldin in Albrecht Selges drittem Roman „Fliegen“ hat große Ähnlichkeit mit diesem heimatlosen Reisenden. Sie ist eine haltlose, aus ihrem eher bürgerlichen Alltag herausgestolperte Gestalt, eine Zugstreicherin – nicht mehr jung, aber noch nicht alt genug, an den Strapazen fortwährender Bewegung kaputtzugehen. Sie ist keine Obdachlose, darauf besteht sie, sondern eine Vagabundin mit mobilem Dach über dem Kopf. Diskret sucht sie die liegengelassenen Flaschen in den Waggons zusammen, was ihr Einkünfte für die Dauerfahrkarte sichert; die Schaffner kennen sie und lassen sie gewähren. In der DB Lounge gibt es für sie als Besitzerin einer Bahncard 100 warme Getränke und Zeitungen.
Aber an Bahnhöfen hält sie sich nicht lange auf. Der feste Boden kommt ihr schwer vor, „als hinge eine Last an den Füßen“. Sie bewegt sich auf ausgeklügelten Routen durch die Republik, die Zeit vergeht in geordneter Bahn, in einem sie beruhigenden Kreisverkehr. Manchen Pendlern begegnet sie immer wieder. Mit einem Physiklehrer, den sie „Karlheinzbohrer“ nennt – eine Assoziation, die von der Zeitungslektüre rührt –, spielt sie einmal in der Woche Backgammon. Eine Bankerin, die bei der Ruhelosen „Schmale Jungfrau“ heißt, teilt das Frühstück mit ihr. Doktor Wildblumenkohl, der regelmäßig zum Hüten seines Enkelkindes fährt, bringt ihr Salben und Medikamente mit. So hat sie sich eingerichtet an diesem rasenden „Ort ohne Jahreszeiten“. „Sie fuhr jetzt ins zweite Jahr. Draußen war Sommer.“
Albrecht Selge bleibt sehr nah bei seiner Figur. Alles wird aus ihr heraus erzählt, sprunghaft und verträumt, in einer eigensinnigen, vom vielen Alleinsein, Grübeln und Zugruckeln etwas schaukelnden Sprache. Sie ist eine genaue Beobachterin, nicht nur notgedrungen achtet sie auf die feinen Regungen der Menschen, registriert die Welt, die ausgeschlossen bleibt und doch fortwährend an ihr vorbeizieht.
Sensibilisiert ist sie nicht zuletzt durch ein kleines Büchlein, das sie immer wieder nachts aus ihrer Tasche hervorkramt: ein kleines Reclam-Bändchen mit Gedichten der Romantik. Einzelne Zeilen schweben ihr im Kopf herum, während der Zug durch die Landschaft fliegt. „In so ein schönes Dämmern fiel sie oft, wenn sie lange aus dem Fenster blickte. Das schönste plem im guten Sinn. Ging eins nahtlos ins andre über, kaum zu sagen, wo Hinausblicken aufhört und Hineinschauen anfängt: Dämmerstündchen zwischen Wach und Schlaf, in denen der Bildersalat aus Eindrücken und Erinnerungen zu hellen Träumen wird.“ Im Zug wird es niemals richtig hell und niemals richtig dunkel; das Dämmern und Dösen ist auf Dauer gestellt. Aber in der Nacht huschen Gestalten um sie herum, die in den Ritzen und Spalten, in den Gängen und Löchern, Winkeln und Rillen zu Hause sind – „die Unbekannten“. „Scheuen mich die Geister nicht“ – diese Zeile aus einem Brentano-Gedicht spukt ihr durch den Sinn, wenn sie heimgesucht wird von den nächtlichen Mitfahrern, ihren Nachtmahren.
Man sieht: Albrecht Selges Heldin ist eine Frau, die in einer Zwischenwelt heimisch ist, einem transitorischen Raum, einem Nicht-Ort. Getrieben und fortwährend in Bewegung, bleibt sie doch ganz erstarrt und gleitet langsam aus dem Leben – ein Abschied mit Wartezeit, wie es sich für eine Reisende mit der Deutschen Bahn gehört. Immer wieder fährt sie an ihrer Vergangenheit vorbei, die in Kleinstädten begraben liegt, an Vater und Mutter oder alten Lieben. Und betrachtet sie durchs staubige Fenster des ICEs wie eine fahlgewordene Erinnerung.
Nach und nach enthüllt sich so ein Leben, das schon abgelegt und auserzählt scheint. Nur manchmal gibt es noch eine Verbindung zur früheren Existenz, wenn sie Station macht und ihre Freundin Lilo trifft – und mit ihr bis tief in die Nacht trinkt und redet. Aber zurück bringt sie das nicht. Die Welt außerhalb des Waggons verliert sich zusehends.
Je schneller die Züge sich durchs Land bewegen, desto mehr tritt der Text auf der Stelle. Schlimm ist das gar nicht, denn dieser rasende Stillstand im ICE bringt schöne Gedankenspiralen hervor. In seinem ersten Roman „Wach“ trieb es Albrecht Selges Helden August schlaflos durch eine Großstadt. Die Ruhelosigkeit der Metropole und die langsamen Bewegungen des Gehenden, der im Dunkel seinen hellen Blick aufs Nebensächliche richtete, vermengten sich auf betörende Weise, die Sätze selbst kamen einem berauscht von den Entdeckungen vor, die dieser altmodische Flaneur in moderner Gestalt machte.
Selges Zugnomadin zieht sich hingegen in sich zurück. Ihre Überlebenssätze borgt sie sich von Bartleby und all jenen, die einfach genug haben: „ich möchte lieber nicht“ und „hau ab“. Die Welt mit ihren Geheimnissen und ihrer Gleichgültigkeit kommt ihr abweisend vor. Sie fliegt durchs Leben, weil es ihr sonst um die Ohren flöge. „Ein Teil der Welt, zu der sie weder gehört noch passt: ihr eigenes Leben. Mein Leben, das klingt fast so unheimlich und lächerlich wie Seele. Auch so schön? Wie sie auch balancierte und kippelte am Rand dieses ihres Lebens, sie würde schon nicht hineinfallen. Höchstens ganz hinaus.“
„Wach“ hat einen Gehenden und Beobachtenden zum Helden, einen wirklichen Romantiker. Die Shopping Mall und eine große Stadt sind sein Revier. Es gibt viel zu sehen. Das ist literarisch ergiebiger, die Sprache, das Erleben strebt nach außen. „Fliegen“ richtet sich nach innen, ist abgeschlossener, eintöniger dadurch auch. Aber nicht weniger faszinierend, weil wir fast in einen Menschen hineinkriechen und ihm beim Vergehen zuschauen. Als Sten Nadolny Anfang der Achtzigerjahre in einem Roman seinen Ole Reuter mit einer Netzkarte durchs Land schickte, war das ein Aufbruch: Da suchte einer nach der richtigen Verbindung zum Leben. Mit der Bahncard 100 fährt die Heldin von Albrecht Selge einer Endstation entgegen, die aber – auf die Bahn ist Verlass – erst einmal nicht erreicht wird. Wenn das nicht eine der einschlägigen Erfahrungen des zeitgenössischen Menschen schön ins Bild setzt: fortwährend in Bewegung zu sein und doch kaum voranzukommen.
Im Zug wird es niemals
richtig hell und
niemals richtig dunkel
Mit der Bahncard 100
fährt die Heldin
einer Endstation entgegen
Der Schriftsteller Albrecht Selge, geboren 1975 in Heidelberg, lebt in Berlin.
Foto: Sven Meissner
Albrecht Selge: Fliegen. Roman. Rowohlt Berlin, Berlin 2019, 171 Seiten,
20 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Die Protagonistin in Albrecht Selges Buch hat nichts mehr - keinen Mann, kein Heim, keinen Job -  alles ist ihr im Laufe ihres Lebens abhanden gekommen, erzählt Rezensentin Franziska Wolffheim. Heute besitzt sie nur noch ihre Erinnerungen, ein paar Bücher und eine Bahn-Card 100, mit der sie Woche für Woche im Zug durch Deutschland fährt. Tagsüber sammelt sie Flaschen ein und nachts liest sie und grübelt manchmal stundenlang über einen einzigen Vers nach, erfahren wir. Dass die Schilderungen eines solchen Lebens nicht in absolute Trostlosigkeit abgleiten, verdankt dieser Roman dem Humor seiner Protagonistin, ihrem scharfen Blick für ihre Mitfahrer und der Gabe des Erzählers, "Komik und Schwermut" zu einer wunderbaren Melange zu verbinden, so die angetane Rezensentin. Diese Mischung wird auch sprachlich deutlich, meint Wolffheim, und zwar wenn Selge Alltagsjargon mit Hochsprache zusammenfließen lässt, die der Kritikerin nur selten allzu "gestelzt" erscheint.

© Perlentaucher Medien GmbH
Komik und Schwermut liegen eng beieinander ... Dass Selge auf den erhobenen Zeigefinger verzichtet, macht aus seinem Roman ein scharfsichtig-verschrobenes Ereignis. Franziska Wolffheim Die Zeit 20190314