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Mit dem »Fliegenden Brief« beabsichtigte Hamann zwischen 1785 und 1787 seine literarische Tätigkeit zu beschließen. Dem Anspruch nach wollte er sein gesamtes Schreiben und Denken öffentlich reflektieren und dabei insbesondere Darstellungsfragen diskutieren sowie seinen vielgescholtenen dunklen Stil und das von ihm entwickelte Verfahren der indirekten Mitteilung rechtfertigen. In einer dramatischen, 16 Monate währenden literarischen Berg- und Talfahrt scheiterte er schließlich daran, das anspielungsreiche, hochreflektierte und von radikalem Sprachdenken geprägte Werk zum Abschluss zu bringen,…mehr

Produktbeschreibung
Mit dem »Fliegenden Brief« beabsichtigte Hamann zwischen 1785 und 1787 seine literarische Tätigkeit zu beschließen. Dem Anspruch nach wollte er sein gesamtes Schreiben und Denken öffentlich reflektieren und dabei insbesondere Darstellungsfragen diskutieren sowie seinen vielgescholtenen dunklen Stil und das von ihm entwickelte Verfahren der indirekten Mitteilung rechtfertigen. In einer dramatischen, 16 Monate währenden literarischen Berg- und Talfahrt scheiterte er schließlich daran, das anspielungsreiche, hochreflektierte und von radikalem Sprachdenken geprägte Werk zum Abschluss zu bringen, das mit den Worten endet: »usw. ich kann nicht mehr -«. Vom »Fliegenden Brief« sind Dutzende von Entwürfen überliefert. Kein anderes Schreibprojekt ermöglicht daher bessere Einblicke in die Produktionsbedingungen und die Hamann'sche Arbeitsweise, die sich durch Kombination und Re-Kombination der unterschiedlichsten Quellen und Zitate auszeichnet. Die zweibändige Ausgabe bietet erstmals eine historisch-kritische und kommentierte Edition sämtlicher Dokumente zum »Fliegenden Brief«. Ein Spezifikum der Ausgabe ist ihr zweigeteilter Kommentar. Zum einen findet sich in der Marginalspalte der Edition jeweils eine kurze Annotation, die den konkreten Anspielungshorizont der Stelle unmittelbar vor Augen führt. Zum anderen bietet der zweite Band der Ausgabe einen ausführlichen Kommentar, der sich strukturell nach Quellenarten (Klassisches Altertum, Neuzeit, Bibel) sowie in einen Personen-, Wort- und Sachkommentar aufgliedert. Neben Edition und Kommentar enthält die Ausgabe eine ausführliche Einführung sowie umfangreiche Dokumente zur Entstehungsgeschichte - und bietet der Forschung erstmals eine solide Basis für dieBeschäftigung mit einem der wichtigsten und zugleich schwierigsten Texte des Hamann'schen Werks.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Autorenporträt
(1730-1788), von Goethe »einer der hellsten Köpfe der Zeit« genannt, studierte und lebte vorwiegend in Königsberg, wo er seinen Lebensunterhalt - auf Vermittlung Kants - als Übersetzer und Zollverwalter verdiente. Im Mittelpunkt seines Denkens stand eine theologisch begründete, radikale Sprachphilosophie, die Sinnlichkeit und Vernunft im »treffenden Wort« zusammenführen wollte. Der enge Freund Herders und Briefpartner F.H. Jacobis gilt als Wegbereiter des »Sturm und Drang«.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.09.2020

Grund- und Bodenschätze

Gold liegt immer da, wo's am wenigsten danach aussieht: Janina Reibold legt unter den Texten Johann Georg Hamanns ein Bergwerk von Bezügen frei.

Ich habe mit einer Dedication an Niemand den Kundbaren angefangen und denke mit einem fliegenden Brief an ihn meine kleine Autorschaft zu schließen." Das schrieb Johann Georg Hamann am 14. Dezember 1785 an den Schriftsteller und Philosophen Friedrich Heinrich Jacobi. Hamann, 1730 in Königsberg geboren, dort verbunden mit Kant und Herder und von Goethe rückblickend als der hellste Kopf seiner Zeit charakterisiert, hatte 1759 sein erstes Buch, die "Sokratischen Denkwürdigkeiten", mit einer durchaus kryptischen "Zuschrift an Niemand" versehen. Darauf reagierten zunächst die Berliner Aufklärer und ihr Umfeld, indem sie Hamann schon anlässlich seiner ersten Veröffentlichung mit den Schlagworten Dunkelheit und Unverständlichkeit kennzeichneten, die auch in den folgenden Jahren das Bild des Autors prägen sollten.

Hamanns mehr als 25 Jahre später im Brief an Jacobi formulierte Hoffnung, eine abschließende Darstellung seines eigenen "Ideals" könne dem "andächtigen Leser" in Berlin angesichts seiner "Gabe der Deutlichkeit" die "Haare zu Berge stehen" lassen, schließt hier unmittelbar an. In der von Friedrich Nicolai herausgegebenen "Allgemeinen deutschen Bibliothek", einem der Zentralorgane der Aufklärung, war kurz zuvor Hamanns Schrift "Golgatha und Scheblimini", eine kritische Einlassung zu Moses Mendelssohns "Jerusalem", wiederum nicht in der Sache kritisiert, sondern mit dem Vorwurf abgetan worden, die Sprache sei "sonderbar und fremd" und ebendarum "unverständlich und rätselhaft". Hamann, offensichtlich getroffen, entschloss sich, mit einer grundsätzlichen Replik in Form einer Selbstkritik zu reagieren, die sein emphatisches Eintreten für ein lutherisches Christentum ebenso wie die Eigentümlichkeiten seiner Schreibweise rechtfertigen und in einem erneuten Angriff auf die Berliner Aufklärung zugleich sein gesamtes Werk plausibel machen sollte.

Die Beiläufigkeit, mit der er im Brief an Jacobi auf seine Anfänge als Schriftsteller zurückkam, macht die Wut, die sein Vorhaben antrieb, nur sehr indirekt sichtbar. Und sie lässt nicht einmal in Ansätzen erahnen, in welchem Ausmaß Hamanns Vorhaben, mit einem wiederum an "Niemand" adressierten "fliegenden Brief" seine Autorschaft förmlich zu beenden, scheitern sollte. Dass Hamanns umfassend angelegter Versuch einer Selbstkritik scheiterte, ist die grundlegende Einsicht, auf deren Basis Janina Reibold eine mehr als überfällige historisch-kritische Neuausgabe des "Fliegenden Briefs" vorgelegt hat (Bd. 1: Edition. Bd. 2: Anhang. Mit einer Einführung, Kommentar, Dokumenten zur Entstehungsgeschichte. Felix Meiner Verlag, Hamburg 2018. 395 und 245 S., geb. u. br., 128,- [Euro]).

Objektivierter Okkasionalismus

Der Anspruch der Heidelberger Germanistin, Hamanns Selbstkritik "erstmals lesbar zu machen", ist angesichts von vier schon vorliegenden Ausgaben ehrgeizig, aber sie löst ihn mit ihrer in jeder Hinsicht wegweisenden Edition souverän ein. "Das Scheitern", so fasst Reibold ihre langjährige Detailarbeit zusammen, gehöre zur "Aporie dieses Schreibprojekts, das beabsichtigte, eine übergeordnete Einheit und ein System aus einem über fünfundzwanzigjährigen literarischen Schreiben zu generieren, das aus extrem individualisierten, okkasionellen und unsystematischen Einzeltexten" bestehe.

Mit dieser Einsicht bestätigt Reibold eine frühe Selbsteinschätzung Hamanns, die dieser schon vor Erscheinen der "Sokratischen Denkwürdigkeiten" in einem Brief festhielt: "Wahrheiten, Grundsätze, Systems bin ich nicht gewachsen. Brocken, Fragmente, Grillen. Einfälle. Ein jeder nach seinem Grund und Boden." Anders als frühere Editoren, die den "Fliegenden Brief" in zwei Fassungen abgedruckt hatten, nimmt Reibold die Situations- und Kontextabhängigkeit von Hamanns Schreibverfahren ernst und rückt auf radikale Weise von der Vorstellung ab, es lägen verschiedene Fassungen des Textes vor.

Ganz bewusst konstituiert Reibold aus den diversen Ansätzen und Bruchstücken, die sie in Briefen und handschriftlich kommentierten Probedrucken vorfindet, nicht das Phantasma einer letztlich doch druckbaren Fassung. Sie dokumentiert in ihrer Edition vielmehr das schrittweise Scheitern von Hamanns Versuch, die Selbstkritik in einen finalen Text zu überführen, indem sie sich entscheidet, die über einen Zeitraum von knapp anderthalb Jahren entstandenen Entwürfe, Korrekturen und Neuansätze chronologisch zu dokumentieren und sie dabei in ebendem Briefzusammenhang zu belassen, in den Hamann sie von Beginn an einbettete.

Schon mit dem lakonischen ersten Hinweis auf sein Vorhaben machte Hamann Jacobi zu einem unentbehrlichen Teilnehmer seines Schreibunternehmens. Er band die Arbeit am Text in einen Briefwechsel ein, der sich über die Distanz von mehr als tausend Kilometern zwischen Königsberg und dem Gut Pempelfort, Jacobis Wohnsitz bei Düsseldorf, entfaltete.

Mit Reuß über Reuß hinaus

Von dem Austausch versprach sich Hamann Impulse nicht zuletzt für seine Auseinandersetzung mit den Berliner Spätaufklärern, deren Komplexität, auch das zeigt die vorliegende Edition, mit der gängigen Zuschreibung Gegenaufklärung kaum erfasst werden kann. So eröffnet die Dokumentation des Schreibprozesses ergänzende Perspektiven auf den durch Jacobi ausgelösten Pantheismusstreit, die Vielgestaltigkeit der Vernunftkritik im ausgehenden achtzehnten Jahrhundert wie auf Hamanns kritisch-polemische, aber gleichwohl grundsätzlich freundschaftliche Auseinandersetzung mit Mendelssohn.

Aber auch hier kommt es nicht zu einem klärenden Abschluss. So beiläufig Hamanns Versuch einer Selbstkritik einsetzte, so unvermittelt brach er ihn in einem Brief an Jacobi, der als letztes Dokument der Textedition abgedruckt ist, auch wieder ab: "usw. ich kann nicht mehr -".

Reibold ist geprägt durch die philologisch strenge, Kompromissen nicht aufgeschlossene Textkritik im Umfeld der Heidelberger Germanistik. Die Editionsprinzipien, mit denen Roland Reuß in seinen Kafka- und Kleist-Ausgaben neue Standards gesetzt hat, entwickelt sie aber auch weiter, wenn sie die überlieferten 41 Dokumente, die im Faksimile und in einer differenzierten diplomatischen Umschrift in chronologischer Reihung abgedruckt werden, mit einem mehrteilig angelegten Kommentar versieht, der auf die Schreibsituation eingeht und auf die ohnehin großflächig gegebene Kommentarbedürftigkeit von Hamanns Schreibweise reagiert.

Gegen den topischen Vorwurf der Unverständlichkeit setzt Reibold die ungleich plausiblere These, dass Hamanns Texte "Wissenserwerb provozieren". So versieht sie die Dokumente im ersten Band der Edition in der Marginalspalte mit kurzen Stellenkommentaren, die jene Texte und Kontexte benennen, die Hamann zitiert, paraphrasiert oder auf andere Weise verwendet. Diese Verweise auf Fundstellen bilden aber nur ein Gerüst für den ausführlichen Kommentar im zweiten Band. Eigene Kapitel erschließen und erläutern dort Hamanns Quellen des klassischen Altertums, seine biblischen wie seine neuzeitlichen Quellen. Dank der systematischen Gliederung kann Reibold vor Augen führen, wie Hamann mit einem "Bausatz an Quellen" arbeitete, die er netzwerkartig seiner assoziativ strukturierten Schreibpraxis unterlegte. Durch den Nachvollzug vielgestaltiger Verschiebungs- und Verdichtungsbewegungen wird der Kommentarband zu einem eigenständig lesbaren Begleitbuch, das unvermutet weitreichende Einblicke in Hamanns Denk- und Schreibweise ermöglicht.

Wäre Benutzerfreundlichkeit nicht ein eher abschreckendes, mit Verzicht auf Komplexität assoziiertes Kriterium, würde man es Reibolds Edition zuschreiben. Sie eröffnet nicht nur der Lektüre des "Fliegenden Briefs", sondern der Hamann-Philologie insgesamt (und nicht nur dieser) neue Perspektiven. Deren Tragweite wird noch deutlicher sichtbar werden, wenn die in Vorbereitung befindlichen weiteren historisch-kritischen Editionen von Hamann-Texten publiziert sein werden. Dabei ist es nach der nun vorliegenden Dokumentation des Scheiterns eines finalen Abschlusses der Autorschaft nur folgerichtig, dass der nächste Band Hamanns Anfängen gewidmet sein wird - den "Sokratischen Denkwürdigkeiten" und deren "Nachschrift", den 1760 publizierten "Wolken", Hamanns erster Reaktion auf den Vorwurf der Unverständlichkeit.

Im Januar dieses Jahres ist der erste Teil der von Janina Reibold mit Leonard Keidel herausgegebenen kommentierten Online-Edition von Hamanns Briefen freigeschaltet worden (www.hamann-ausgabe.de). Auf Grundlage der im Druck vorliegenden Briefausgabe von Arthur Henkel und dessen umfangreicher Vorarbeiten für eine Kommentierung, die Sybille Hubach 2005 in einen Online-Kommentar überführte, entsteht mit der "Kommentierten Briefausgabe" eine Edition, die das textkritisch geprüfte Briefkorpus als durchsuchbaren Volltext zur Verfügung stellt und mit einem Stellenkommentar verknüpft. Dieser bietet das, was auch Janina Reibolds Edition des "Fliegenden Briefs" auszeichnet: detaillierte Nachweise von Zitaten, Anspielungen und Lektürespuren, deren Wiederherstellung Hamann gerade in seiner Komplexität zugänglich macht.

ECKHARD SCHUMACHER

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»Faszinierende Ausgabe [...] , deren Präzision und philologische Umsicht man gar nicht genug loben kann.« Cord-Friedrich Berghahn, Germanisch-Romanische Monatsschrift 69.2 (2019)