«Man liebt nicht weil, man liebt obwohl.» Nach seiner bewunderten Stilstudie «Die Schlange im Wolfspelz» legt Michael Maar eine schlanke und sehr private Sammlung von Notizen, Betrachtungen, Aphorismen, Anekdoten und kurzen Prosastücken vor über all das, was ihm im Lauf der Jahre buchenswert erschien. Maar handelt von Musik und Metaphysik, von prophetischen Träumen, vom in der Luft schwebenden Glas, von den blauen Häkchen bei WhatsApp und wie sie Proust gequält haben würden; von den Frauen bei Tschechow, vom Bahnhofs-Youporn unter Lenin, von Wolfgang Paulis tödlichem Problem mit der Zahl 137, von Joseph Roths Taschenuhr, von Stifters Unfruchtbarkeit, von Fichte, der bei Goethe lässig seinen Mantel abwirft, von Doctorows «Ragtime» als Kleist-Thriller, von den Rätseln der Kosmologie; von der süßen Angewohnheit zu leben, zu lesen, zu lieben, zu altern und nachzudenken.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Wer sich mit Genuss und Gewinn auf 'Die Schlange im Wolfspelz' einließ, wird auch zu diesem neuen Büchlein greifen ... ein großer Stilist. Philipp Haibach Lesart 20230329
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.10.2022„Eh“ ist
ein Abgrund
Miniatur-Essays, Notizen,
Beobachtungen; hinreißend
hingetupft von Michael Maar
Eigentlich ist die literarische Form der Aufzeichnung, der lockeren Sammlung von Notizen und Einfällen, im schönsten Sinne zeitgemäß: schnell aufschreiben und festhalten, denn es stürzt einfach zuviel auf uns ein beim Lesen und Denken. Das gilt besonders dann, wenn es unablässig geschieht wie bei Michael Maar, der so komfortabel in der Sprache und in der Literatur lebt wie andere, weniger privilegierte, in ihren öden Townhäusern. Aber auch ein Enthusiast wie Maar, der im vergangenen Jahr mit seiner leidenschaftlichen Stil- und Weltliteraturkunde „Die Schlange im Wolfspelz“ den essayistischen Triumph des schreibenden Lesers feierte, kann nicht aus jeder Trouvaille ein komplettes Buch machen. Bei Rowohlt erscheint deshalb jetzt ein schmaler Band mit Eindrücken und Lesefrüchten, so nannte man das in den Zeiten, da man Lesen wohl noch mit Kulinarik verband. „Fliegenpapier“ heißt die Sammlung, natürlich mit Blick auf Robert Musils grausam scharf gestellte Schilderung des Fliegensterbens auf dem Klebestreifen „Tangle Foot“, einer Allegorie des gnadenlosen Hinsehens.
Die formalen Vorlagen, Maar erwähnt sie im Vorwort, sind die Notizen von Henning Ritter, Botho Strauß und Peter Sloterdijk. Aber man könnte auch Alfred Polgars pointiert angerissene Hintersinnigkeiten im Kopf haben, wenn man liest, was Michael Maar an Sprach- Denk- und Lesebeobachtungen für bemerkenswert hält. Die kurze, aber etymologisch wie soziallinguistisch erschöpfende Auslassung zum Wörtchen „Eh“ gehört zu den Juwelen in diesem Bändchen, welches, der Form der Notizensammlung gemäß, Edelsteine und Kiesel gleichranging neben einander legt. Das „Chamäleonwort Eh“ bedeutet im Österreichischen soviel mehr als im Hochdeutschen, den Begriff (eher ein Laut) in seinem Gesamtspektrum abzubilden, bedeutet, die österreichische Sprache auf ihre Abgründe hin auszuloten. Wer „eh“ sagt, meint nicht einfach „ohnehin“, sondern „dichtet die Welt ab gegen unerwünschte Neuigkeiten“. Am stärksten ist Michael Maar dort, wo er die Gestalten und Gestalter der Weltliteratur in ihren genialen Schwächen ausleuchtet, den chronisch überinformierenden Tolstoi, aber auch den allerseits geliebten, aber bei genauem Hinsehen mit stereotypen Wendungen und den immer gleichen „Bauklötzchen“ operierenden Tschechow.
Zu den hübschen Einfällen zählt auch die Fantasie, Prousts Swann hätte seiner Odette nicht mit der Rohrpost nachstellen und ihre verzögerten Antworten aushalten müssen, sondern wäre den schwarzen und blauen Häkchen von WhatsApp verfallen, flankiert von dem erbärmlichen Erlösungsgefühl, wenn über Odettes Adressfeld das kursive schreibt erscheint. Das Schöne an Maars Prosaminiaturen ist, dass sie das Bestehende kurz erzittern lassen. Am Ende bleibt kein Zweifel, dass das Erfundene immer dem Wirklichen vorzuziehen ist.
HILMAR KLUTE
Maars Prosaminiaturen
lassen das
Bestehende kurz erzittern
Michael Maar:
Fliegenpapier.
Gemischte Notizen.
Rowohlt, Hamburg 2022. 128 Seiten, 20 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
ein Abgrund
Miniatur-Essays, Notizen,
Beobachtungen; hinreißend
hingetupft von Michael Maar
Eigentlich ist die literarische Form der Aufzeichnung, der lockeren Sammlung von Notizen und Einfällen, im schönsten Sinne zeitgemäß: schnell aufschreiben und festhalten, denn es stürzt einfach zuviel auf uns ein beim Lesen und Denken. Das gilt besonders dann, wenn es unablässig geschieht wie bei Michael Maar, der so komfortabel in der Sprache und in der Literatur lebt wie andere, weniger privilegierte, in ihren öden Townhäusern. Aber auch ein Enthusiast wie Maar, der im vergangenen Jahr mit seiner leidenschaftlichen Stil- und Weltliteraturkunde „Die Schlange im Wolfspelz“ den essayistischen Triumph des schreibenden Lesers feierte, kann nicht aus jeder Trouvaille ein komplettes Buch machen. Bei Rowohlt erscheint deshalb jetzt ein schmaler Band mit Eindrücken und Lesefrüchten, so nannte man das in den Zeiten, da man Lesen wohl noch mit Kulinarik verband. „Fliegenpapier“ heißt die Sammlung, natürlich mit Blick auf Robert Musils grausam scharf gestellte Schilderung des Fliegensterbens auf dem Klebestreifen „Tangle Foot“, einer Allegorie des gnadenlosen Hinsehens.
Die formalen Vorlagen, Maar erwähnt sie im Vorwort, sind die Notizen von Henning Ritter, Botho Strauß und Peter Sloterdijk. Aber man könnte auch Alfred Polgars pointiert angerissene Hintersinnigkeiten im Kopf haben, wenn man liest, was Michael Maar an Sprach- Denk- und Lesebeobachtungen für bemerkenswert hält. Die kurze, aber etymologisch wie soziallinguistisch erschöpfende Auslassung zum Wörtchen „Eh“ gehört zu den Juwelen in diesem Bändchen, welches, der Form der Notizensammlung gemäß, Edelsteine und Kiesel gleichranging neben einander legt. Das „Chamäleonwort Eh“ bedeutet im Österreichischen soviel mehr als im Hochdeutschen, den Begriff (eher ein Laut) in seinem Gesamtspektrum abzubilden, bedeutet, die österreichische Sprache auf ihre Abgründe hin auszuloten. Wer „eh“ sagt, meint nicht einfach „ohnehin“, sondern „dichtet die Welt ab gegen unerwünschte Neuigkeiten“. Am stärksten ist Michael Maar dort, wo er die Gestalten und Gestalter der Weltliteratur in ihren genialen Schwächen ausleuchtet, den chronisch überinformierenden Tolstoi, aber auch den allerseits geliebten, aber bei genauem Hinsehen mit stereotypen Wendungen und den immer gleichen „Bauklötzchen“ operierenden Tschechow.
Zu den hübschen Einfällen zählt auch die Fantasie, Prousts Swann hätte seiner Odette nicht mit der Rohrpost nachstellen und ihre verzögerten Antworten aushalten müssen, sondern wäre den schwarzen und blauen Häkchen von WhatsApp verfallen, flankiert von dem erbärmlichen Erlösungsgefühl, wenn über Odettes Adressfeld das kursive schreibt erscheint. Das Schöne an Maars Prosaminiaturen ist, dass sie das Bestehende kurz erzittern lassen. Am Ende bleibt kein Zweifel, dass das Erfundene immer dem Wirklichen vorzuziehen ist.
HILMAR KLUTE
Maars Prosaminiaturen
lassen das
Bestehende kurz erzittern
Michael Maar:
Fliegenpapier.
Gemischte Notizen.
Rowohlt, Hamburg 2022. 128 Seiten, 20 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Hilmar Klute empfiehlt Michael Maars Prosaminiaturen als exquisiten Happen für zwischendurch. Der Kritiker lässt sich die meisten der Sprach-, Denk- und Lesebeobachtungen, die Maar in dem schmalen Band zusammengestellt hat, munden, etwa wenn der Germanist ihm erläutert, wieviel das "Chamäleonwort Eh" im Österreichischen abzubilden vermag. Ganz hingerissen folgt Klute Maar auch, wenn dieser die "genialen Schwächen" von Weltliteraten wie Tolstoi, Tschechow oder Proust auslotet. Und so schaut der Rezensent gern über ein paar "Kiesel" zwischen den "Juwelen" hinweg.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH