Produktdetails
  • Verlag: Pendo
  • ISBN-13: 9783858425751
  • ISBN-10: 3858425753
  • Artikelnr.: 21653497
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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.08.2004

Kaugummikauende Vegetarier
Unterdrückte Schweizer Fleischeslust: Ursula Frickers Debütroman

Das Unglück ist kaum auszuhalten. Die heranwachsende Ida muß in selbstgestrickten Kleidern in die Schule gehen, sie darf keine Freundinnen haben, der Schwimmunterricht bleibt ihr wegen des gefährlichen Chlorwassers verboten, und zu allen Familienmahlzeiten werden Schwarzbrot, Obst und Sojasprossen aufgetischt. Kein Wunder, daß das Mädchen immer wieder einige Rappen - wir befinden uns in der Schweiz - aus Großmutters Portemonnaie stiehlt, um sich heimlich Süßigkeiten zu kaufen. Einmal kratzt Ida sogar ein altes Kaugummi aus den Ritzen des Straßenpflasters, damit sie endlich den Geschmack dieser verbotenen Köstlichkeit kennenlernt.

Fad ist das Familienleben, das die 1965 geborene Ursula Fricker in ihrem Debütroman beschreibt. An der Enge des Schweizer Kleinbürgertums der fünfziger und sechziger Jahre leiden alle: Großeltern, Eltern, Kinder. Das Unglück der Kinder aber ist Folge des elterlichen Leids. Denn während Ida heimlich betet, daß ihr strenger und fanatischer Vater endlich sterben möge, quält der sich und seine Angehörigen mit vegetarischen Exzessen, um endlich Gewalt über seinen Körper und dessen unerwünschte Leidenschaften zu bekommen.

Ein einziges Mal in seinem Leben hat sich der Silberschmied Simon Brock verliebt, und das geschah Jahre vor seiner Hochzeit mit der biederen Elisabeth, die schon fürchten mußte, als "spätes Mädchen" von der Verwandtschaft verlacht zu werden. Simons große Liebe bleibt ein junger Mann, mit dem er, gerade vom Militär entlassen, nur einmal zufällig zusammengetroffen ist. In seiner Ehe zeugt der Handwerker pflichtbewußt zwei Kinder und versucht, dem Bild eines treusorgenden Familienvaters zu entsprechen. Über viele Jahre hinweg hütet er jedoch das Foto des unerreichbaren Jean als einen kostbaren Schatz und träumt davon, seine Hände "an den unvorstellbaren Stellen eines anderen Mannes" zu wissen.

So viel Triebunterdrückung aber macht krank, was Ursula Fricker mit plakativer Deutlichkeit demonstriert. Denn während Simon in der Silberfabrik den Anblick der jungen Lehrlinge kaum ertragen kann und ihn zu Hause der Körper seiner Frau in Verlegenheit bringt, verhärtet sich sein eigener Leib immer mehr, bis er an chronischer Verstopfung leidet. Nacht für Nacht kämpft er darum, sich durch physische Erleichterung zu reinigen: "Wenn das nicht half, kam die Wut, das Bedürfnis, seinem Körper die Entleerung aufzuzwingen, zur Not mit den Händen die Scheiße aus dem Darm zu klauben."

Die Bekehrung zur radikal vegetarischen Lebensweise bringt nur scheinbar Hilfe. Denn an die Stelle der physischen Obstipation tritt jetzt die schleichende Vergiftung der Familie mit rigiden Verhaltensregeln. Freundschaften zerbrechen über der Frage "Fleisch oder nicht Fleisch"; Ida und ihr Bruder flüchten sich mehr und mehr in Heimlichkeiten und leiden darunter, als Kinder eines Sonderlings zu gelten. Doch auch der fanatische Gesundheitsapostel selbst erfährt durch seine strenge Diät keine Erleichterung. Ständig verliert er an Gewicht und versucht in maßlosen Fahrradtouren, sein dauerndes Frieren zu überwinden. Sein Ende ist so folgerichtig wie symbolisch: Am vierzehnten Geburtstag seiner Tochter wird er neben seinem Fahrrad tot im Schnee gefunden, erfroren mehr an der inneren als der äußeren Kälte.

Möglicherweise hat die formbewußte Ursula Fricker die Inszenierung dieses Kältetodes als Hommage an ihren Landsmann Robert Walser verstanden, dessen Ende im Schnee zu den großen Mythen der modernen Schweizer Literatur gehört. Tatsächlich ist die Geschichte des vielfachen Familienleids eng mit helvetischer Geographie und Historie verknüpft: Der klischeehafte Gegensatz zwischen der bodenständigen deutschen und der freizügigen französischen Schweiz bildet den Hintergrund für Simons Leidenschaft, entsteht seine heimliche Liebe zu dem attraktiven Jean doch ausgerechnet in der urbanen Atmosphäre Lausannes. Seine Ehefrau stammt hingegen aus dem idyllischen Emmental, das seit Jeremias Gotthelf als Inbegriff bäuerlicher Behaglichkeit gilt. Simons eigene Familie lebt in der Nähe der deutschen Grenze. Sein Vater gehörte während des Zweiten Weltkriegs zu jenen berüchtigten mit dem nationalsozialistischen Regime sympathisierenden "Fröntlern", die die Schweizer Kantone durch Gaue ersetzen wollten und später auf die "Saukommunisten" schimpften; seine Mutter hält streng an der traditionell-patriarchalischen Familienstruktur fest.

Nichts in dieser Milieuschilderung vermag zu überraschen, denn alle Personen handeln so, wie es ihre Herkunft und die Prägung durch das familiäre Umfeld erwarten lassen. Das verleiht Frickers Roman bei allem erzählerischen Können den spröden Charme einer sozialpsychologischen Studie. Der liebeshungrige Simon, der sich und seine Familie systematisch aushungert, ist ein Musterbeispiel jenes autoritären Charakters, den die Soziologen der siebziger Jahre so ausführlich beschrieben haben.

SABINE DOERING

Ursula Fricker: "Fliehende Wasser". Roman. Pendo Verlag, Zürich 2004. 170 S., geb., 16,90 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Einer "Bildhaftigkeit von quälender Wucht" sah sich Beatrice Eichmann-Leuchtenegger bei der Lektüre Ursula Frickers Roman über die destruktive Kraft ungelebten Lebens ausgeliefert. Die Autorin entwirft in ihrem Debut eine Familiengeschichte über drei Generationen, die für die vierköpfige Familie Simon Brocks eine zerstörerische Entwicklung nimmt, weil es dem Protagonisten am Willen - oder auch am Mut - zum entscheidenden Handeln gebricht. Seine Fügsamkeit und Anpassung an die Konvention, seine verleugnete Homosexualität und sein unerfüllter Wunsch nach einer eigenen Silberschmiede verwandeln ihn allmählich einen Tyrannen, treiben ihn später in die Flucht und zuletzt in den Tod. Der Stoff habe dabei ein solches Gewicht, dass es der voluminösen Schilderung der familiären Vorgeschichte eigentlich nicht bedurft hätte, findet unsere Rezensentin, es sprenge sogar "den Rahmen dieses dichten schmalen Buchs". Ansonsten aber zeigt sich Eichmann-Leutenegger beeindruckt von Frickers narrativer Präzision und ihrer "disziplinierten" Distanz , aus der sie die peinvollen Ereignisse dem Leser vor Augen führt.

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