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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.02.1999

Kaffeehaus des Schreckens
Als Wien emigrierte: Soma Morgensterns "Flucht in Frankreich"

Als der Schriftsteller Soma Morgenstern im Jahr 1976 im New Yorker Exil starb, verschied unbeachtet einer der letzten Zeugen der Wiener Moderne, ein enger Freund Alban Bergs und Joseph Roths, ein naher Bekannter von Otto Klemperer und Jascha Horenstein, von Hanns Eisler und Anton Webern, von Elias Canetti, Hermann Broch und Robert Musil. Es war dann auch der Robert Musil-Herausgeber Adolf Frisé, der als nahezu einziger des Toten gedachte. Frisé hatte, einem Hinweis in Musils Tagebüchern folgend, Morgenstern im Jahr 1973 in New York besucht, um sich Aufschluß über Musil zu holen. Und dabei hatte er einen Mann entdeckt, der selbst, wie Frisé schrieb, "Fragen aufwarf, die Interesse, die Neugier provozierten".

Salomo Morgenstern wurde 1890 in einem ostgalizischen Dorf bei Tarnopol geboren. Die orthodox-jüdische Familie sprach Jiddisch und die Umgangssprachen der Gegend, Polnisch und Ukrainisch. Deutsch kam hinzu, weil der Vater, ein Kaufmann und Gutsverwalter, diese Sprache liebte und immer wieder mahnte: "Wenn du Deutsch nicht kannst, bist du kein gebildeter Mensch." Dennoch mußte Morgenstern den Besuch des Gymnasiums und der Universität gegen den starken Widerstand des tiefgläubigen Vaters durchsetzen.

In Wien begann Morgenstern 1912 sein Jurastudium, das er nach seinem Kriegsdienst als Leutnant bei der k. u. k. Infanterie erst 1921 mit einer beruflich nie genutzten Promotion abschloß. Schon lange hatte Morgenstern in Künstlerkreisen verkehrt. Roth und Berg waren seine liebsten Freunde, und zu Berg gehörten die fünf "Hausgötter", Peter Altenberg, Gustav Mahler, Arnold Schönberg, Adolf Loos und Karl Kraus. Doch erst nach dem Studium gab Morgenstern seinen eigenen literarischen Neigungen nach. Er nannte sich Soma, schrieb Theaterstücke und siedelte Mitte der zwanziger Jahre als Kritiker nach Berlin. Seine Rezensionen trugen ihm Ende 1927 eine Stelle bei der Frankfurter Zeitung ein, als deren Kulturkorrespondent er 1928 ins geliebte Wien zurückkehrte.

Morgensterns Interesse am Journalismus erlosch, als er 1930 mit der Arbeit an einer Romantrilogie begann, deren ungewöhnliches Thema die Wiederentdeckung des Landlebens und des jüdischen Glaubens durch einen assimilierten Wiener Juden war. Der erste Band der Trilogie, "Der Sohn des verlorenen Sohnes", erschien durch Vermittlung Stefan Zweigs 1935 im Verlag Erich Reiss in Berlin. Einhundert Seiten hatte Morgenstern an Musil geschickt, der kommentierte: "Wenn Sie jetzt sterben, gehören diese hundert Seiten schon zur Weltliteratur." Frisé war skeptisch, als er dies in New York hörte; zu Hause aber fand er im Nachlaß Musils den Ansatz zu einer positiven Rezension, der mit dem Satz endete: "(D)ieser Roman (zeigt) nach der episch-gegenständlichen Darstellung auch den sicheren Witz, die abkürzende Formulierung und die beobachtende Vorurteilslosigkeit eines geistvollen und dem Geiste dienenden neuen Dichters."

In der Tat fand der Roman, obgleich er in Nazi-Deutschland nur an Juden verkauft werden durfte, starke Resonanz und wurde, wie der Morgenstern-Herausgeber Ingolf Schulte schrieb, "als ein herausragendes Zeugnis einer neuen Blüte jüdischer Belletristik gewertet". Die Blüte war indes nur von kürzester Dauer. Goebbels liquidierte den Verlag; Morgenstern verlor seine Stelle bei der Frankfurter Zeitung, floh im März 1938 nach Paris und trieb dort den Abschluß der Trilogie voran. Als "feindlicher Ausländer" wurde Morgenstern im September 1939 verhaftet, im Dezember freigelassen, im Mai 1940 erneut verhaftet und im Juni in das Lager bei Audierne (Bretagne) deportiert. Von dort gelang Morgenstern noch im gleichen Monat die Flucht nach Marseille, wo er sieben Monate lebte und die verlorenen Manuskripte zu rekonstruieren versuchte. Über Casablanca und Lissabon erreichte Morgenstern im Frühjahr des Jahres 1941 endlich New York.

Morgensterns Lebensgeschichte legt nahe, warum er in Deutschland als Schriftsteller fast unbekannt blieb. Er entfaltete sich als Künstler zu einer Zeit, als freies Publizieren für Juden gerade unmöglich wurde; er verlor seine Manuskripte auf der Flucht und veröffentlichte sein Hauptwerk, die Trilogie "Funken im Abgrund", in englischer Sprache (1946 bis 1950). Materielle Sorgen, Depressionen, innere Widerstände gegen die deutsche Sprache erschwerten Morgenstern das Schreiben im Exil. Dennoch schrieb er, und zwar vorwiegend Biographisches.

Noch in den siebziger Jahren war in Deutschland das Interesse an Exilliteratur äußerst gering, und so kam es, daß Frisé den über achtzigjährigen Morgenstern auf dicken Manuskripten sitzend antraf: "300 Seiten über Alban Berg und seine Idole, 300 Seiten über Joseph Roth, große druckbereite biographische Unternehmungen." Zunehmendes Interesse an jüdischer Literatur hat Morgenstern zu einer späten Anerkennung verholfen. Seit 1994 schon erscheinen im Lüneburger Zu Klampen Verlag Morgensterns Werke in vorzüglich edierten Einzelbänden. Die Erinnerungen "Joseph Roths Flucht und Ende" und "Alban Berg und seine Idole" machten den Anfang. Ihnen folgten die Trilogie "Funken im Abgrund", der bewegende Memoirenband "In einer anderen Zeit". Jugendjahre in Ostgalizien und der schwierige Nekrolog auf die Opfer des Holocaust "Die Blutsäule: Zeichen und Wunder am Sereth".

Zuletzt erschien der Romanbericht "Flucht in Frankreich", in dem sich Morgenstern dem Ende seines Exils in Frankreich zuwendet. Der Erzähler ist der nichtjüdische ukrainische Schriftsteller Petrykowsky, dessen Biographie sich (mit Ausnahme der Abstammung) recht genau mit der Morgensterns deckt. Petrykowsky, der als Emigrant sowohl im Herbst 1939 als auch im Frühsommer 1940 von den Franzosen interniert wurde, ist aus dem Lager bei Audierne geflohen und erhält in Marseille die Nachricht, daß ein Mitflüchtling, ein Buchdrucker namens Cukiersky, in einem kleinen französischen Dorf tot aufgefunden wurde. Der Roman rekonstruiert nun die Ereignisse, die zum Tode Cukierskys führen, und skizziert dabei das Elend der Masseninternierung in den Pariser Fußballstadien Colombes und Buffalo und in den Lagern bei Montargis und Audierne.

Wer von Morgenstern nun allerdings einen Roman in dunklen Tönen erwartet, der hat nicht mit seinem aufhellenden "sicheren Witz" (Musil) und mit seinem originellen Zugriff gerechnet. Im Lager trifft die kulturelle Elite Österreichs - Schriftsteller, Musiker, Maler, Dichter - auf Börsenräte, Geschäftsmänner, Journalisten und gewöhnliche Lumpen. Es wird diskutiert, philosophiert, analysiert, spekuliert und intrigiert. Kurzum, man verbringt, zur Untätigkeit verdammt, die Zeit wie im Kaffeehaus. In Morgensterns Darstellung wird das Lager zum authentischen Wien, denn das spritzige, künstlerische, jüdische Wien in Österreich fand im März 1938 sein jähes Ende.

Joseph Roth, der bis zu seinem Tod im Mai 1938 dasselbe Pariser Hotel bewohnte wie Morgenstern, schrieb im Exil "Das Märchen der 1002. Nacht", ein charmantes Phantasiegespinst, in dem die k. u. k. Monarchie noch einmal ihre melancholische Pracht entfaltet. Sein Freund Morgenstern hingegen hat in seinem Romanbericht "Flucht in Frankreich" einem wirklicheren, modernen Wien ein Denkmal gesetzt, das mit ihm selbst und Roth und vielen anderen emigrierte. Auf die drei weiteren Bände der Werkausgabe dieses begabten Erzählers und glaubwürdigen Zeitzeugen darf man gespannt sein. SUSANNE KLINGENSTEIN

Soma Morgenstern: "Flucht in Frankreich". Ein Romanbericht. Hrsg. von Ingolf Schulte. Zu Klampen Verlag, Lüneburg 1998. 432 S., geb., 78,- DM.

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