Der im Mai 1933 abgeschlossene Roman »Flucht nach oben« ist wie die davor entstandene »Lyrische Novelle« »bestürzend jung und individualistisch, ganz unschweizerisch mondän im Gehabe und kosmopolitisch im Milieu« (Carl Seelig). Auch seine Protagonisten gehören zu den »Abseitsstehenden«, die immer und überall fremd sind. Zum Beispiel Francis: Von einem längeren Überseeaufenthalt nach Europa zurückgekehrt, findet sich der 30jährige zu Hause nicht mehr zurecht. Ohne eigentlichen Beruf, ohne politische und seelische Heimat, ohne Hoffnung auf eine erfüllte Liebe flüchtet er nach »oben«, in die Abgeschiedenheit eines österreichischen Bergkurortes.'Vergebliche Liebe und ängstliches Sichentziehen, Fremdheit und Nähe. All das in karge, nüchterne Satze gefasst, aufs äusserste verdichtet, lebendig und anschaulich: erstaunlich ausgereift für eine 25jährige Autorin.' Der Tagesspiegel
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.07.1999Versäumte Entscheidung
Bewegtes Leben: Annemarie Schwarzenbach flieht in die Reise
Am 8. April 1933 schrieb die vierundzwanzigjährige Schweizerin Annemarie Schwarzenbach aus Berlin ihren politisch entschiedensten Brief an Klaus Mann: "Selbstverständlich sind die Zustände in jeder Hinsicht erschreckend, die Äußerungen des Dritten Reiches ausnahmslos abstoßend und nach den humanistischen, jedem von uns selbstverständlichen Empfinden menschenunwürdig . . . Ein halbwegs geistig orientierter Mensch, dazu ein Europäer, gehört natürlich in die Opposition. Sich abwenden ist eigentlich so gut wie Selbstaufgabe und Selbstmord. Bekennt man sich zur Opposition - und was können wir anderes tun -, so muß das im Bewußtsein geschehen, diesen Vorgängen nicht entrinnen zu können, weil wir eben im Kern unserer Existenz mitbetroffen sind."
Politisch Stellung zu beziehen, zumal in der Opposition, wurde der 1908 geborenen Schweizerin nicht in die Wiege gelegt. Als Tochter eines reichen Seidenfabrikanten und Offiziers wurde sie von Privatlehrern und auf einer höheren Töchterschule erzogen. Doch ermutigte sie der Vater zum Studium an der Universität Zürich, das sie 1931 mit einer Dissertation zur Geschichte des Oberengadin abschloß. Als junge Frau war Schwarzenbach vor allem mit sich selbst beschäftigt. Die dominierende Mutter, als Reiterin erfolgreich, verstärkte in ihrer Lieblingstochter den Hang zum Androgynen. Es gibt Fotos von Annemarie in Lederhosen, als Page, Rosenkavalier oder Matrose. Als Annemaries Androgynie sich in ihrer Präferenz für Frauen ausdrückte, ging die Mutter auf Distanz. Schwarzenbachs frühe fiktionale Texte, "Freunde um Bernhard" (1931) und "Lyrische Novelle" (1933), sind Versuche, mit dem Problem der gleichgeschlechtlichen Liebe klarzukommen. Einsamkeit, Entwurzelung und unerfüllte Liebe sind mit diesem Sujet eng verknüpft und bleiben Schwarzenbachs große Themen. Anfang der dreißiger Jahre intensivierte Schwarzenbach ihre Freundschaft mit Klaus und Erika Mann. Die Beziehung wurde dadurch kompliziert, daß die Schweizerin sich in Erika verliebte, gleichzeitig eine Mäzenatenrolle übernahm, doch von den erfolgsverwöhnten Geschwistern Mann als literarisch wenig talentiert und politisch mangelhaft engagiert an den Rand ihres Kreises gedrängt wurde. Nach der Lektüre der "Lyrischen Novelle" war Klaus Mann "enerviert" von so viel feinem Leben und beklagte sich in seinem Tagebuch über die "fast penetrante Atmosphäre sozialer Sorglosigkeit".
Im Roman "Flucht nach oben", der erst 1997 als Manuskript in der Zentralbibliothek Zürich entdeckt wurde und jetzt, mit einem vorzüglichen Nachwort von Roger Perret versehen, erschienen ist, versuchte Schwarzenbach auf die seit Januar 1933 neue politische Lage in Deutschland zu reagieren. Francis von Ruthern, älterer Sohn eines preußischen Gutsbesitzers, kehrt nach neunjährigem Südamerikaaufenthalt nach Europa zurück. Entwurzelt, gleichgültig zieht er sich in das Bergdorf Alptal zurück. Die Berge und das Skilaufen schützen Francis vor seiner "Angst vor der Tiefe". Unten "rauschte es, wühlte es, bekämpften sich die entfesselten menschlichen Mächte". Katalysator der Handlung ist von Rutherns Alter ego, der Bruder Carl, der eine Offizierslaufbahn bei der Reichswehr eingeschlagen hatte und plötzlich seinen Abschied nahm. "Er sagte mir", berichtet Carls Freundin Adrienne, in die sich Francis verliebt hat, "man werde zwangsweise vor eine Entscheidung gestellt. Und wenn man sich zu entscheiden habe, rechts oder links, und mit dem Bewußtsein den Verzicht auf sich genommen habe, dann erst beginne das Erwachsensein."
Dem Erwachsensein, der Verantwortungsübernahme, wollen beide Brüder entgehen. Als Carl mit einem selbst zugefügten Lungenschuß im Innsbrucker Krankenhaus liegt, reist Francis zum ersten Mal in die Tiefe. Obgleich der Tod des Bruders die Wertschätzung des eigenen Lebens erhöht und Francis veranlaßt, nach Berlin zu fahren, kann er sich dort nicht zur Verantwortung entschließen. "Heimatgefühl hieß, Verpflichtung gegenüber einem Land, einem Stück Boden auf sich nehmen." Francis zieht sich auf eine bequemere Position zurück: "Liebe war alles." Als ihn in Berlin ein Brief Adriennes erreicht, reist er nach Alptal. Er erreicht das Bergdorf rechtzeitig, um Adriennes kleinen Sohn Klaus, den Francis liebt, aus einer gefährlichen Lage zu retten. Ob eine Liebe ohne Pflicht und Bindung sich bewähren kann, ergründet der Roman nicht.
Der präzis konstruierte, symmetrisch angelegte Text spielt mit Motiven, Metaphern und Symbolen, die ihre große literarische Zeit um die Jahrhundertwende hatten. Die gesamte Entscheidungsproblematik des Francis von Ruthern wurde sprachlich und konzeptionell eindringlicher in Arthur Schnitzlers brillantem Roman "Der Weg ins Freie" (1908) vorweggenommen.
Es war jedoch weniger mangelnde literarische Originalität als fehlender politischer Wille, der Schwarzenbach letztlich den Zutritt zum inneren Kreis der Geschwister Mann verwehrte. Nach Abschluß des Romans erkannte Schwarzenbach, daß Reisen die einzige ihr erträgliche Existenzform war. Sie verbrachte Jahre in fernen Ländern, wo sie vorzügliche Fotoreportagen machte, heiratete (1935 in Teheran einen französischen Diplomaten), Frauen sich in sie verliebten (1940 in den Vereinigten Staaten die Schriftstellerin Carson McCullers) und sie selbst wegen Frauen in Verzweiflung geriet. Als sie 1941 nach Hause zurückkehrte, stieß sie bei der Mutter auf Grund ihrer Affären und einer Morphiumsucht auf so große Ablehnung, daß sie vier Wochen später in den Belgisch-Kongo reiste. Bei einem erneuten Aufenthalt in der Schweiz 1942 verunglückte sie im September mit dem Fahrrad und starb im November an den Folgen einer Kopfverletzung.
SUSANNE KLINGENSTEIN.
Annemarie Schwarzenbach: "Flucht nach oben". Roman. Mit einem Essay von Roger Perret. Lenos Verlag Basel 1999. 239 S., geb., 38,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Bewegtes Leben: Annemarie Schwarzenbach flieht in die Reise
Am 8. April 1933 schrieb die vierundzwanzigjährige Schweizerin Annemarie Schwarzenbach aus Berlin ihren politisch entschiedensten Brief an Klaus Mann: "Selbstverständlich sind die Zustände in jeder Hinsicht erschreckend, die Äußerungen des Dritten Reiches ausnahmslos abstoßend und nach den humanistischen, jedem von uns selbstverständlichen Empfinden menschenunwürdig . . . Ein halbwegs geistig orientierter Mensch, dazu ein Europäer, gehört natürlich in die Opposition. Sich abwenden ist eigentlich so gut wie Selbstaufgabe und Selbstmord. Bekennt man sich zur Opposition - und was können wir anderes tun -, so muß das im Bewußtsein geschehen, diesen Vorgängen nicht entrinnen zu können, weil wir eben im Kern unserer Existenz mitbetroffen sind."
Politisch Stellung zu beziehen, zumal in der Opposition, wurde der 1908 geborenen Schweizerin nicht in die Wiege gelegt. Als Tochter eines reichen Seidenfabrikanten und Offiziers wurde sie von Privatlehrern und auf einer höheren Töchterschule erzogen. Doch ermutigte sie der Vater zum Studium an der Universität Zürich, das sie 1931 mit einer Dissertation zur Geschichte des Oberengadin abschloß. Als junge Frau war Schwarzenbach vor allem mit sich selbst beschäftigt. Die dominierende Mutter, als Reiterin erfolgreich, verstärkte in ihrer Lieblingstochter den Hang zum Androgynen. Es gibt Fotos von Annemarie in Lederhosen, als Page, Rosenkavalier oder Matrose. Als Annemaries Androgynie sich in ihrer Präferenz für Frauen ausdrückte, ging die Mutter auf Distanz. Schwarzenbachs frühe fiktionale Texte, "Freunde um Bernhard" (1931) und "Lyrische Novelle" (1933), sind Versuche, mit dem Problem der gleichgeschlechtlichen Liebe klarzukommen. Einsamkeit, Entwurzelung und unerfüllte Liebe sind mit diesem Sujet eng verknüpft und bleiben Schwarzenbachs große Themen. Anfang der dreißiger Jahre intensivierte Schwarzenbach ihre Freundschaft mit Klaus und Erika Mann. Die Beziehung wurde dadurch kompliziert, daß die Schweizerin sich in Erika verliebte, gleichzeitig eine Mäzenatenrolle übernahm, doch von den erfolgsverwöhnten Geschwistern Mann als literarisch wenig talentiert und politisch mangelhaft engagiert an den Rand ihres Kreises gedrängt wurde. Nach der Lektüre der "Lyrischen Novelle" war Klaus Mann "enerviert" von so viel feinem Leben und beklagte sich in seinem Tagebuch über die "fast penetrante Atmosphäre sozialer Sorglosigkeit".
Im Roman "Flucht nach oben", der erst 1997 als Manuskript in der Zentralbibliothek Zürich entdeckt wurde und jetzt, mit einem vorzüglichen Nachwort von Roger Perret versehen, erschienen ist, versuchte Schwarzenbach auf die seit Januar 1933 neue politische Lage in Deutschland zu reagieren. Francis von Ruthern, älterer Sohn eines preußischen Gutsbesitzers, kehrt nach neunjährigem Südamerikaaufenthalt nach Europa zurück. Entwurzelt, gleichgültig zieht er sich in das Bergdorf Alptal zurück. Die Berge und das Skilaufen schützen Francis vor seiner "Angst vor der Tiefe". Unten "rauschte es, wühlte es, bekämpften sich die entfesselten menschlichen Mächte". Katalysator der Handlung ist von Rutherns Alter ego, der Bruder Carl, der eine Offizierslaufbahn bei der Reichswehr eingeschlagen hatte und plötzlich seinen Abschied nahm. "Er sagte mir", berichtet Carls Freundin Adrienne, in die sich Francis verliebt hat, "man werde zwangsweise vor eine Entscheidung gestellt. Und wenn man sich zu entscheiden habe, rechts oder links, und mit dem Bewußtsein den Verzicht auf sich genommen habe, dann erst beginne das Erwachsensein."
Dem Erwachsensein, der Verantwortungsübernahme, wollen beide Brüder entgehen. Als Carl mit einem selbst zugefügten Lungenschuß im Innsbrucker Krankenhaus liegt, reist Francis zum ersten Mal in die Tiefe. Obgleich der Tod des Bruders die Wertschätzung des eigenen Lebens erhöht und Francis veranlaßt, nach Berlin zu fahren, kann er sich dort nicht zur Verantwortung entschließen. "Heimatgefühl hieß, Verpflichtung gegenüber einem Land, einem Stück Boden auf sich nehmen." Francis zieht sich auf eine bequemere Position zurück: "Liebe war alles." Als ihn in Berlin ein Brief Adriennes erreicht, reist er nach Alptal. Er erreicht das Bergdorf rechtzeitig, um Adriennes kleinen Sohn Klaus, den Francis liebt, aus einer gefährlichen Lage zu retten. Ob eine Liebe ohne Pflicht und Bindung sich bewähren kann, ergründet der Roman nicht.
Der präzis konstruierte, symmetrisch angelegte Text spielt mit Motiven, Metaphern und Symbolen, die ihre große literarische Zeit um die Jahrhundertwende hatten. Die gesamte Entscheidungsproblematik des Francis von Ruthern wurde sprachlich und konzeptionell eindringlicher in Arthur Schnitzlers brillantem Roman "Der Weg ins Freie" (1908) vorweggenommen.
Es war jedoch weniger mangelnde literarische Originalität als fehlender politischer Wille, der Schwarzenbach letztlich den Zutritt zum inneren Kreis der Geschwister Mann verwehrte. Nach Abschluß des Romans erkannte Schwarzenbach, daß Reisen die einzige ihr erträgliche Existenzform war. Sie verbrachte Jahre in fernen Ländern, wo sie vorzügliche Fotoreportagen machte, heiratete (1935 in Teheran einen französischen Diplomaten), Frauen sich in sie verliebten (1940 in den Vereinigten Staaten die Schriftstellerin Carson McCullers) und sie selbst wegen Frauen in Verzweiflung geriet. Als sie 1941 nach Hause zurückkehrte, stieß sie bei der Mutter auf Grund ihrer Affären und einer Morphiumsucht auf so große Ablehnung, daß sie vier Wochen später in den Belgisch-Kongo reiste. Bei einem erneuten Aufenthalt in der Schweiz 1942 verunglückte sie im September mit dem Fahrrad und starb im November an den Folgen einer Kopfverletzung.
SUSANNE KLINGENSTEIN.
Annemarie Schwarzenbach: "Flucht nach oben". Roman. Mit einem Essay von Roger Perret. Lenos Verlag Basel 1999. 239 S., geb., 38,- DM.
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