Die Grenzöffnung für Flüchtlinge im September 2015 hat Europa gespalten und für immer verändert. Rainer Nowak, Thomas Prior und Christian Ultsch rekonstruieren in Gesprächen mit damaligen Entscheidungsträgern in Österreich und Europa das Flüchtlingsjahr 2015 und die Ereignisse, die im März 2016 zur Schließung der Balkanroute geführt haben. Sie beschreiben, wie Europas Staatskanzleien in diesen Monaten die Kontrolle verloren und danach verzweifelt versuchten, sie wiederzuerlangen. Sie analysieren, wie dieses Jahr Politikerkarrieren pushte und beendete. Und sie zeigen, wie weitreichend die politischen Folgen für die gesamte EU waren.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Alexandra Föderl-Schmid findet den von den österreichischen "Presse"-Journalisten Rainer Nowak, Thomas Prior und Christian Utsch erstellten Band auch für deutsche Leser interessant. Nicht nur kann sie hier erfahren, zu welchen deutschen Politikern der künftige österreichische Regierungschef Sebastian Kurz besonders Kontakt hält, vor allem dessen Rolle bei der Schließung der Balkanroute können ihre die Autoren erschließen. "Flott" und detailreich schreiben die Autoren laut Föderl-Schmid eine Chronik der Flüchtlingsbewegung seit Sommer 2015 und erörtern die diplomatischen Vorgänge zwischen Wien, Berlin und Skopje.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 30.10.2017Doppeltes Spiel
in Berlin
Wer schloss die Balkanroute?
Wohl nicht Sebastian Kurz allein
Dass er die Balkanroute für den Durchzug von Flüchtlingen 2016 geschlossen hat, damit hat Sebastian Kurz in den vergangenen Monaten in Österreich Wahlkampf gemacht und mit der von ihm angeführten ÖVP die Nationalratswahl am 15. Oktober gewonnen. In dem kurz vor dem Wahltermin erschienenen Buch räumen drei Journalisten der konservativen österreichischen Zeitung Die Presse jedoch mit dem Mythos auf, dass er der Urheber dieser Aktion war: „Die Slowenen hatten als Erste die Idee aufgebracht und über Monate die Polizeikooperation entlang des Flüchtlingstrecks im ehemaligen Jugoslawien vorangetrieben“, schreiben die Autoren: der Chefredakteur des Blattes, Rainer Nowak, dessen Außenpolitik-Chef Christian Ultsch und Innenpolitik-Redakteur Thomas Prior. Aber der mit einem Gespür für Stimmungen ausgestattete damals 30-jährige Außenminister war es, der sich zur Galionsfigur der Grenzschließer aufschwang und auf Umsetzung drängte.
Die Autoren zeichnen in dem flott geschriebenen Buch, das mit vielen Details aufwartet, die Chronik der Flüchtlingsbewegung seit dem Sommer 2015 nach. Auch wenn vieles aus österreichischer Perspektive geschildert wird, so könnte dieses Buch auch in Deutschland für Diskussionen sorgen. Denn die Autoren unterstellen – als Frage formuliert – Bundeskanzlerin Angela Merkel ein doppeltes Spiel: Entgegen der offiziellen Position, dass man Flüchtlinge weiter aufnehmen wolle, sei Merkel die Grenzschließung sehr recht gewesen: „Sie wollten uns nicht stoppen. Sie wollten nur nicht selbst als diejenigen gelten, die schließen“, wird ein ranghoher Diplomat – aus welchem Land bleibt offen – zitiert. Der damalige mazedonische Außenminister Nikola Poposki sagt offen: „Es gab eine stille Zustimmung Deutschlands zur Schließung der Balkanroute. Die deutschen Politiker wünschten, dass wir es tun, aber sie änderten ihr Vokabular nicht.“
Laut den Autoren zählen zu den Verbündeten des österreichischen Außenministers in Berlin Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen und Innenminister Thomas de Maizière, die er gebeten haben soll, bei der mazedonischen Regierung anzurufen. „Ein Husarenstück: Der österreichische Außenminister organisiert Anrufe deutscher Minister in Mazedonien, damit sie dort auf informellem Weg die öffentliche Position ihrer Kanzlerin unterlaufen.“ Selbst Finanzminister Wolfgang Schäuble soll Kurz gefragt haben, ob sich Merkel schon bedankt habe.
Da Kurz nächster Regierungschef in Wien werden dürfte, ist auch interessant zu erfahren, zu wem er in Deutschland engen Kontakt hält: zu CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer, CDU-Finanzstaatssekretär Jens Spahn und zu Ex-Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg.
ALEXANDRA FÖDERL-SCHMID
Rainer Nowak, Thomas Prior, Christian Ultsch:
Flucht. Wie der Staat die Kontrolle verlor. Molden-Verlag Wien 2017.
208 Seiten, 22,90 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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in Berlin
Wer schloss die Balkanroute?
Wohl nicht Sebastian Kurz allein
Dass er die Balkanroute für den Durchzug von Flüchtlingen 2016 geschlossen hat, damit hat Sebastian Kurz in den vergangenen Monaten in Österreich Wahlkampf gemacht und mit der von ihm angeführten ÖVP die Nationalratswahl am 15. Oktober gewonnen. In dem kurz vor dem Wahltermin erschienenen Buch räumen drei Journalisten der konservativen österreichischen Zeitung Die Presse jedoch mit dem Mythos auf, dass er der Urheber dieser Aktion war: „Die Slowenen hatten als Erste die Idee aufgebracht und über Monate die Polizeikooperation entlang des Flüchtlingstrecks im ehemaligen Jugoslawien vorangetrieben“, schreiben die Autoren: der Chefredakteur des Blattes, Rainer Nowak, dessen Außenpolitik-Chef Christian Ultsch und Innenpolitik-Redakteur Thomas Prior. Aber der mit einem Gespür für Stimmungen ausgestattete damals 30-jährige Außenminister war es, der sich zur Galionsfigur der Grenzschließer aufschwang und auf Umsetzung drängte.
Die Autoren zeichnen in dem flott geschriebenen Buch, das mit vielen Details aufwartet, die Chronik der Flüchtlingsbewegung seit dem Sommer 2015 nach. Auch wenn vieles aus österreichischer Perspektive geschildert wird, so könnte dieses Buch auch in Deutschland für Diskussionen sorgen. Denn die Autoren unterstellen – als Frage formuliert – Bundeskanzlerin Angela Merkel ein doppeltes Spiel: Entgegen der offiziellen Position, dass man Flüchtlinge weiter aufnehmen wolle, sei Merkel die Grenzschließung sehr recht gewesen: „Sie wollten uns nicht stoppen. Sie wollten nur nicht selbst als diejenigen gelten, die schließen“, wird ein ranghoher Diplomat – aus welchem Land bleibt offen – zitiert. Der damalige mazedonische Außenminister Nikola Poposki sagt offen: „Es gab eine stille Zustimmung Deutschlands zur Schließung der Balkanroute. Die deutschen Politiker wünschten, dass wir es tun, aber sie änderten ihr Vokabular nicht.“
Laut den Autoren zählen zu den Verbündeten des österreichischen Außenministers in Berlin Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen und Innenminister Thomas de Maizière, die er gebeten haben soll, bei der mazedonischen Regierung anzurufen. „Ein Husarenstück: Der österreichische Außenminister organisiert Anrufe deutscher Minister in Mazedonien, damit sie dort auf informellem Weg die öffentliche Position ihrer Kanzlerin unterlaufen.“ Selbst Finanzminister Wolfgang Schäuble soll Kurz gefragt haben, ob sich Merkel schon bedankt habe.
Da Kurz nächster Regierungschef in Wien werden dürfte, ist auch interessant zu erfahren, zu wem er in Deutschland engen Kontakt hält: zu CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer, CDU-Finanzstaatssekretär Jens Spahn und zu Ex-Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg.
ALEXANDRA FÖDERL-SCHMID
Rainer Nowak, Thomas Prior, Christian Ultsch:
Flucht. Wie der Staat die Kontrolle verlor. Molden-Verlag Wien 2017.
208 Seiten, 22,90 Euro.
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