Friedrich Rückert brachte die orientalische Literatur nach Europa. Kann sein Orientbild angesichts der zunehmenden Islamophobie helfen, Brücken zu schlagen?Friedrich Rückert zu lesen heißt abzutauchen in zwei Vergangenheiten: in die des Abendlands und die des Orients. Was hat der Poet heute noch angesichts der aktuellen Krisensituation zu sagen? Stefan Weidner unterzieht den Dichter und polyglotten Übersetzer der orientalischen Literaturen einer Neulektüre vor dem Hintergrund des aktuellen politischen Spannungsfelds zwischen arabischer Welt und Europa. Was der Orient im 19. Jahrhundert für Rückert war, scheint im 21. Jahrhundert für die aus der arabischen Welt kommenden Flüchtlinge Europa zu sein: Beide idealisieren und romantisieren ihren Sehnsuchtsort. Aber während es Rückert erspart blieb, mit der Wirklichkeit in der arabischen Welt konfrontiert zu werden, prallen heute die Flüchtlinge mit ihren Hoffnungen gegen die europäische Wirklichkeit. Und der Orient als Sehnsuchtsort, wie er in den Übersetzungen Rückerts aufscheint, gerät immer stärker in Konflikt mit den aktuellen Bildern. Stefan Weidner zeigt in seiner Analyse dieser Diskrepanz, wie es mit Hilfe von Rückerts poetischem Blick auf die arabische Welt gelingen kann, sich von der medialen Verfremdung und dem einseitig gegenwartsbezogenen Blick auf den Orient freizumachen.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.01.2017Nach Babylon
Stefan Weidner über die „Fluchthelferin Poesie“
Die klassisch-romantische Literatur der Deutschen hätte zu sich selbst nicht finden können ohne den Zustrom aus fremder Poesie und Prosa, den sie durch ihre zahllosen Übersetzungsprojekte in die deutsche Sprache einfließen ließ. Das war schon den Zeitgenossen selbst bewusst, und manche von ihnen krönten ihre Übersetzungspraxis mit der Theorie, in der deutschen Sprache und nur in ihr allein lassen sich ein Ahnung der verloren gegangenen Sprache des Paradieses wiederfinden.
Der Dichter Friedrich Rückert, dessen 150. Todestag im vergangenen Jahr in Schweinfurt, Erlangen und Coburg mit der Ausstellung „Der Weltpoet“ begangen wurde, stand der Auffassung des Deutschen als der idealen post-babylonischen Sprache, die alle anderen in sich aufnehmen kann, nicht fern. Der Islamwissenschaftler, Autor und Übersetzer Stefan Weidner hat seine im April 2016 zur Eröffnung der Ausstellung gehaltene Festrede zu einem Essay über die historische Konstellation von Rückerts Übersetzungen aus der persischen und arabischen Literatur ausgebaut.
Rückert, der als poetischer Herold des Orients berühmt wurde, ist nie im Orient gewesen. Mit den realen Orientbewohnern seiner Zeit hätte er sich nicht unterhalten können. Seine Vielsprachigkeit und seine Übertragungen des Koran, der altarabischen Heldenlieder oder des mittelalterlichen persischen „Königsbuchs“ deutet Weidner als Fluchtbewegung im eigenen Land, das hinter den geistigen Errungenschaften des 18. Jahrhunderts und der Französischen Revolution zurückbleibt. Und er stellt dieser historischen Flucht in den poetischen Orient die aktuellen Fluchtbewegungen aus dem Nahen Osten in einen verklärten Westen gegenüber. Hier wie dort muss die Verklärung in Desillusionierung übergehen.
Aus der Konkursmasse des Orientalismus will Weidner ein Element nicht ohne Grund retten: die Vision einer idealen Sprache der Übersetzung, die sich damals an das Deutsche knüpfte. Denn Übersetzung ist in diesem Essay ein anderes Wort für Gastfreundschaft.
LMUE
Stefan Weidner: Fluchthelferin Poesie. Friedrich Rückert und der Orient. Wallstein Verlag, Göttingen 2017. 64 Seiten, 12,90 Euro. E-Book 9,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Stefan Weidner über die „Fluchthelferin Poesie“
Die klassisch-romantische Literatur der Deutschen hätte zu sich selbst nicht finden können ohne den Zustrom aus fremder Poesie und Prosa, den sie durch ihre zahllosen Übersetzungsprojekte in die deutsche Sprache einfließen ließ. Das war schon den Zeitgenossen selbst bewusst, und manche von ihnen krönten ihre Übersetzungspraxis mit der Theorie, in der deutschen Sprache und nur in ihr allein lassen sich ein Ahnung der verloren gegangenen Sprache des Paradieses wiederfinden.
Der Dichter Friedrich Rückert, dessen 150. Todestag im vergangenen Jahr in Schweinfurt, Erlangen und Coburg mit der Ausstellung „Der Weltpoet“ begangen wurde, stand der Auffassung des Deutschen als der idealen post-babylonischen Sprache, die alle anderen in sich aufnehmen kann, nicht fern. Der Islamwissenschaftler, Autor und Übersetzer Stefan Weidner hat seine im April 2016 zur Eröffnung der Ausstellung gehaltene Festrede zu einem Essay über die historische Konstellation von Rückerts Übersetzungen aus der persischen und arabischen Literatur ausgebaut.
Rückert, der als poetischer Herold des Orients berühmt wurde, ist nie im Orient gewesen. Mit den realen Orientbewohnern seiner Zeit hätte er sich nicht unterhalten können. Seine Vielsprachigkeit und seine Übertragungen des Koran, der altarabischen Heldenlieder oder des mittelalterlichen persischen „Königsbuchs“ deutet Weidner als Fluchtbewegung im eigenen Land, das hinter den geistigen Errungenschaften des 18. Jahrhunderts und der Französischen Revolution zurückbleibt. Und er stellt dieser historischen Flucht in den poetischen Orient die aktuellen Fluchtbewegungen aus dem Nahen Osten in einen verklärten Westen gegenüber. Hier wie dort muss die Verklärung in Desillusionierung übergehen.
Aus der Konkursmasse des Orientalismus will Weidner ein Element nicht ohne Grund retten: die Vision einer idealen Sprache der Übersetzung, die sich damals an das Deutsche knüpfte. Denn Übersetzung ist in diesem Essay ein anderes Wort für Gastfreundschaft.
LMUE
Stefan Weidner: Fluchthelferin Poesie. Friedrich Rückert und der Orient. Wallstein Verlag, Göttingen 2017. 64 Seiten, 12,90 Euro. E-Book 9,99 Euro.
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»fakten- und gedankenreich« (Hermann Schlösser, Wiener Zeitung extra, 24./25.06.2017) »Reitemeier's book provides an excellent model for a territorial Reformation history.« (Jan van de Kamp, Church History and Religious Culture 98, 2018)