Paris 1936. Er rettet sie aus einer Ausstellungseröffnung, sie hilft ihm durch den Platzregen, und so verlieben sie sich: die junge Malerin Signe aus Norwegen und der Ire Samuel Weldon. Aber auch wenn Paris die Stadt der Liebe ist, sind die Zeiten nicht eben rosig. Dennoch scheint ihr Glück perfekt, als ihnen Bekka, ein kleines Mädchen, anvertraut wird. Doch dann wird die Stadt von deutschen Truppen besetzt. Sam und Signe versuchen der Wirklichkeit einen kleinen Traum entgegenzustemmen und für ein paar Wochen den Atem anzuhalten. Bis ihnen nur noch die Flucht bleibt. Das Bild einer Liebe, die die Jahre überdauert, auch wenn das Leben die Liebenden bricht.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 12.07.2002Drei Leichen
Prüfstein für exaktes Lesen: Andreas Schendels „Fluchtpunkt”
Am Anfang ist fast alles schon zu Ende: „Wir haben Bekka heute nachmittag beerdigt”, schreibt Samuel Weldon auf der ersten Seite von Andreas Schendels Roman „Fluchtpunkt” in sein Tagebuch, Paris 12. Juli 1942. Mit dem Tod des siebenjährigen Nachbarmädchens erlischt für Sam und seine Freundin Signe der hellste Hoffnungsfunken in einer dunklen Zeit. Wenig später fliehen sie auf riskante Weise per Fahrrad aus Paris. Sie retten ihr Leben, jedoch zum Preis der eigenen Kinderlosigkeit, verursacht durch einen schweren Sturz Signes. Die „Geschichte einer Liebe” verspricht der Untertitel des Romans, doch im Grunde wird die Geschichte einer beschädigten Liebe erzählt.
Der Roman ist in zwei Abschnitte untergliedert: Der erste, wesentlich umfangreichere Teil („In den Städten”) verhandelt die Zeit zwischen 1936 und 1942: Sams irische und Signes norwegische Herkunft, ihr Kennenlernen und gemeinsames Leben in Paris bis zur Flucht. Der Knotenpunkt dieses Abschnitts ist Bekka, Kind deutscher Juden, das von ihren Eltern kurz vor Kriegsausbruch, im Sommer 1939, zu einem Onkel nach Paris geschickt wird, Sams und Signes Nachbar. Mit Freuden kümmern sich die beiden regelmäßig um das Mädchen, auch weil auf diese Weise ihre Beziehung entlastet wird von dem Druck, der von Sams sehnlichem, durch Signe aber nicht erwiderten Kinderwunsch ausgeht.
Im Juni 1940 besetzen die Nazis Paris, von da an beherrscht Angst den Alltag: Sam und Signe besitzen keine gültige Aufenthaltsgenehmigung und stehen in enger Verbindung zur Untergrundbewegung, ihre Wohnung dient sogar zeitweise als konspirativer Unterschlupf. Zur Katastrophe wird dies, als sie im Juli 1942 einen von den Nazis verfolgten Juden aus Amsterdam aufnehmen. Der junge Mann missbraucht und erwürgt die kleine Bekka, wird dabei von Bekkas Onkel ertappt und erschossen, woraufhin dieser sich selbst das Leben nimmt. Drei Leichen sind es am Ende, und niemand außer dem auktorialen Erzähler und dem ratlosen Leser weiß, dass Bekkas Mörder ihr eigener Bruder gewesen ist. Der zweite, kürzere Abschnitt des Buches spielt Mitte der sechziger Jahre in der Normandie, wo sich Sam und Signe in einem kleinen Dorf am Meer niedergelassen haben. Bestimmendes Thema dieser Passagen ist die beständig wiederkehrende Erinnerung an die traumatischen Erlebnisse jener Zeit in Paris sowie die Kinderlosigkeit, die eine dauerhafte Leerstelle zwischen Sam und Signe markiert.
„Fluchtpunkt” ist somit nicht nur die Geschichte einer beschädigten Liebe, sondern auch ein Geschichtsroman über die deutsche Besatzung in Paris und die Resistance, über das Exil und die Verfolgung der europäischen Juden, ein Roman über Erinnerung, Scham und Schuld und schließlich auch ein Kriminalroman. Ein bisschen viel auf einmal. Denn Andreas Schendels Roman ist inhaltlich und formal heillos überfrachtet. Die Vielzahl der Orte, Ereignisse, Zeitebenen und Erzählformen (auktorialer Erzähler, Tagebuch, Brief) hinterlässt ein ganzes Bündel loser Enden und Widersprüche im Text. Zwar fehlt es nicht an Verbindungselementen wie Querverweisen oder Motiven (Wasser, Fahrrad, Träume), doch schütten diese den Text eher oberflächlich zu, als dass sie tiefer liegende Verknüpfungen aufzeigen.
Besonders penetrant wirkt diese Eigenart im zweiten, dem Erinnerungsteil des Buches, wo zahllose Detailanspielungen auf die vorangegangenen 250 Seiten nicht viel mehr sind als Lernzielkontrollen für exaktes Lesen. Das größte Manko einer solchen, beinahe didaktischen Schreibweise ist, dass sie mit wenig Gespür für das Eigenleben des Be- und Geschriebenen arbeitet und stattdessen den Bildern und Begriffen explizit Bedeutung einzupflanzen versucht. Etwa wenn Signe am Strand liegend an die alte Pariser Wohnung denkt, und es heißt: „Auch diese Erinnerung ist stumm, und das Pulsieren der Wellen passt gut zu dem Bild.”
Der Anspruch, der anfänglich den Charme dieses Romans ausmacht, nämlich die Geschichte einer Liebe mit der Geschichte einer Zeit zu verknüpfen, wird letztlich nicht eingelöst. Bleibt zugute zu halten, dass ein höherer Anspruch wohl kaum zu wählen ist.
THOMAS WILD
ANDREAS SCHENDEL: Fluchtpunkt. Geschichte einer Liebe. Roman. Nagel und Kimche Verlag, Zürich 2002. 312 Seiten, 19,90 Euro.
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Prüfstein für exaktes Lesen: Andreas Schendels „Fluchtpunkt”
Am Anfang ist fast alles schon zu Ende: „Wir haben Bekka heute nachmittag beerdigt”, schreibt Samuel Weldon auf der ersten Seite von Andreas Schendels Roman „Fluchtpunkt” in sein Tagebuch, Paris 12. Juli 1942. Mit dem Tod des siebenjährigen Nachbarmädchens erlischt für Sam und seine Freundin Signe der hellste Hoffnungsfunken in einer dunklen Zeit. Wenig später fliehen sie auf riskante Weise per Fahrrad aus Paris. Sie retten ihr Leben, jedoch zum Preis der eigenen Kinderlosigkeit, verursacht durch einen schweren Sturz Signes. Die „Geschichte einer Liebe” verspricht der Untertitel des Romans, doch im Grunde wird die Geschichte einer beschädigten Liebe erzählt.
Der Roman ist in zwei Abschnitte untergliedert: Der erste, wesentlich umfangreichere Teil („In den Städten”) verhandelt die Zeit zwischen 1936 und 1942: Sams irische und Signes norwegische Herkunft, ihr Kennenlernen und gemeinsames Leben in Paris bis zur Flucht. Der Knotenpunkt dieses Abschnitts ist Bekka, Kind deutscher Juden, das von ihren Eltern kurz vor Kriegsausbruch, im Sommer 1939, zu einem Onkel nach Paris geschickt wird, Sams und Signes Nachbar. Mit Freuden kümmern sich die beiden regelmäßig um das Mädchen, auch weil auf diese Weise ihre Beziehung entlastet wird von dem Druck, der von Sams sehnlichem, durch Signe aber nicht erwiderten Kinderwunsch ausgeht.
Im Juni 1940 besetzen die Nazis Paris, von da an beherrscht Angst den Alltag: Sam und Signe besitzen keine gültige Aufenthaltsgenehmigung und stehen in enger Verbindung zur Untergrundbewegung, ihre Wohnung dient sogar zeitweise als konspirativer Unterschlupf. Zur Katastrophe wird dies, als sie im Juli 1942 einen von den Nazis verfolgten Juden aus Amsterdam aufnehmen. Der junge Mann missbraucht und erwürgt die kleine Bekka, wird dabei von Bekkas Onkel ertappt und erschossen, woraufhin dieser sich selbst das Leben nimmt. Drei Leichen sind es am Ende, und niemand außer dem auktorialen Erzähler und dem ratlosen Leser weiß, dass Bekkas Mörder ihr eigener Bruder gewesen ist. Der zweite, kürzere Abschnitt des Buches spielt Mitte der sechziger Jahre in der Normandie, wo sich Sam und Signe in einem kleinen Dorf am Meer niedergelassen haben. Bestimmendes Thema dieser Passagen ist die beständig wiederkehrende Erinnerung an die traumatischen Erlebnisse jener Zeit in Paris sowie die Kinderlosigkeit, die eine dauerhafte Leerstelle zwischen Sam und Signe markiert.
„Fluchtpunkt” ist somit nicht nur die Geschichte einer beschädigten Liebe, sondern auch ein Geschichtsroman über die deutsche Besatzung in Paris und die Resistance, über das Exil und die Verfolgung der europäischen Juden, ein Roman über Erinnerung, Scham und Schuld und schließlich auch ein Kriminalroman. Ein bisschen viel auf einmal. Denn Andreas Schendels Roman ist inhaltlich und formal heillos überfrachtet. Die Vielzahl der Orte, Ereignisse, Zeitebenen und Erzählformen (auktorialer Erzähler, Tagebuch, Brief) hinterlässt ein ganzes Bündel loser Enden und Widersprüche im Text. Zwar fehlt es nicht an Verbindungselementen wie Querverweisen oder Motiven (Wasser, Fahrrad, Träume), doch schütten diese den Text eher oberflächlich zu, als dass sie tiefer liegende Verknüpfungen aufzeigen.
Besonders penetrant wirkt diese Eigenart im zweiten, dem Erinnerungsteil des Buches, wo zahllose Detailanspielungen auf die vorangegangenen 250 Seiten nicht viel mehr sind als Lernzielkontrollen für exaktes Lesen. Das größte Manko einer solchen, beinahe didaktischen Schreibweise ist, dass sie mit wenig Gespür für das Eigenleben des Be- und Geschriebenen arbeitet und stattdessen den Bildern und Begriffen explizit Bedeutung einzupflanzen versucht. Etwa wenn Signe am Strand liegend an die alte Pariser Wohnung denkt, und es heißt: „Auch diese Erinnerung ist stumm, und das Pulsieren der Wellen passt gut zu dem Bild.”
Der Anspruch, der anfänglich den Charme dieses Romans ausmacht, nämlich die Geschichte einer Liebe mit der Geschichte einer Zeit zu verknüpfen, wird letztlich nicht eingelöst. Bleibt zugute zu halten, dass ein höherer Anspruch wohl kaum zu wählen ist.
THOMAS WILD
ANDREAS SCHENDEL: Fluchtpunkt. Geschichte einer Liebe. Roman. Nagel und Kimche Verlag, Zürich 2002. 312 Seiten, 19,90 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Viel vorgenommen hat sich Andreas Schendel da, findet Rezensent Thomas Wild. Sein Roman über eine kinderlose und daher "beschädigte" Liebe im Frankreich der Résistance wolle gleichzeitig Liebesroman, Geschichtsroman über das besetzte Frankreich und die Judenverfolgung, "Roman über Erinnerung, Scham und Schuld" und Kriminalroman sein. Da wundert es den Rezensenten nicht, dass der Text sowohl "inhaltlich" als auch "formal" "heillos überfrachtet" ist. Die "Vielzahl der Orte, Ereignisse, Zeitebenen und Erzählformen" führe eher zu Verwirrungen und Ungereimtheiten. Auch die vielen Verweise wollen dem Rezensenten partout nicht schmecken. Er sieht darin eher eine "Lernzielkontrolle für exaktes Lesen" und ärgert sich über schulmeisterhaft "eingepflanzte Bedeutungen", denen das "Gespür für das Eigenleben des Be- und Geschriebenen" fehlt. Das ist schade, meint Wild, dem der Anspruch, "die Geschichte einer Liebe mit der Geschichte einer Zeit zu verknüpfen", gut gefallen hat. Schendel kann diesen Anspruch nicht einlösen, so Wild abschließend, und er fügt versöhnlich hinzu, dass "ein höherer Anspruch wohl kaum zu wählen ist".
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Überraschend, wunderbar traurig und von gelassener Schönheit - so schreibt Andreas Schendel seine Bücher." (Süddeutsche Zeitung) "Verblüffend! Grosses Kompliment!" (Das Magazin)