Maria ist verschwunden. Seit Monaten hat Herwig, mit dem sie seit fast dreißig Jahren verheiratet ist, nichts von ihr gehört. Dass sie ihren Job gekündigt und seinen Volvo mitgenommen hat, lässt zumindest hoffen, dass sie noch am Leben ist. Doch was ist passiert, mit ihrer Ehe, ihrer Liebe, ihrem gemeinsamen Leben? Hubert Achleitner schickt seine Protagonisten auf eine abenteuerliche Reise, die sie von den österreichischen Bergen quer durch Europa bis nach Griechenland führt. Und die für beide doch in erster Linie eine hochemotionale Reise in ihr Inneres bedeutet.
»Ein Buch, das sich einem beim Lesen selbst erzählt. Als säße man mit Menschen zusammen, die einem von sich, von ihren Lieben und ihrem Leiden erzählen.« NDR Kultur
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Nils Kahlefendt rät Hubert Achleitner alias Hubert von Goisern bei seinen musikalischen Leisten zu bleiben. Achleitners literarisches Debüt jedenfalls, die Geschichte einer veritablen Midlife-Crisis und der Flucht davor, zündet laut Rezensent nicht, auch wenn der Autor den Soundtrack des Buches fachmännisch wählt und den ein oder anderen "schönen Einfall" hat. Zur Verzweiflung bringen Kahlefendt nicht zuletzt lahme tagespolitische Exkurse zu österreichischen Zuständen, Figurenpsychologie aus der Küche, ein klischeegepflasterter Roadtrip und sprachliche Komik der ungewollten Art.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.09.2020Durchschlagskraft eines Tischfeuerwerks
Hubert Achleitners Roman "flüchtig" setzt auf Roadtrip-Charme, die Handlung aber in den Sand.
Zeig mir deine Platten, und ich sage dir, wer du bist: Gilt das Diktum, das einer wie Nick Hornby ("Fever Pitch") geprägt haben könnte, auch für Romane? In "flüchtig", dem späten Erstling von Hubert Achleitner, spielt der Soundtrack keine ganz unbedeutende Rolle. Der blendend aussehende Lehramtsstudent Herwig Berger etwa, den seine Schüler abwechselnd "Wig" oder "Don Giovanni" nennen, lernt seine spätere Frau, die eben noch seine Schülerin war, bei den Salzburger Festspielen 1988 kennen - er ist an die Salzach gereist, um "die Gruberova" zu erleben, die junge Bankangestellte Maria hat die begehrten Karten als Mitarbeiterin des Monats gewonnen. Trotz dieses Kulturgefälles landen die beiden recht schnell in Wigs moosgrünem Mini Cooper; unter den Klängen einer André-Heller-Kassette ("Du, du, du") ist es mit beider Unschuld bald vorbei.
Ein Missverständnis mit Folgen: "Für Wig war es die große Liebe. Für Maria war es der beste Sex." Marias Abschiedsbrief an Wig, fast dreißig Jahre später, wird von Leonard Cohen und, logisch, abermals von einem gefühligen Heller begleitet: "Wie mei Herzschlag g'herst zu mir." Weiterhin in der Tonspur des Romans: "Weiße Rosen aus Athen", Nina Hagen und Brian Wilson. Nicht weiter unüblich für den Babyboomer Wig, dessen Sozialisation in die optimistischen Siebziger fiel, das Jahrzehnt von John Lennon und Wolfgang Ambros.
Wenn die Textnachweise am Ende von "flüchtig" an die Playlist eines Mixtapes erinnern, liegt das vielleicht auch daran, dass der Autor des Romans als Musiker berühmt wurde. Da nennt sich Achleitner nach dem Ort im Traunviertel, in dem er 1952 geboren wurde: Als Hubert von Goisern, der einst den Alpenrock erfunden hat, füllt er Arenen. Wie schlägt sich der Klangforscher und Song-Poet im erzählenden Fach?
Große Teile des Personals in Achleitners Roman befinden sich tatsächlich in permanenter Fluchtbewegung vor der Midlife-Crisis: Maria, die mit 25 ihr mit Wig gezeugtes Baby verliert und mit Mitte fünfzig die kinderlose, bleiern gewordene Ehe verlässt. Wig, der sich zu diesem Zeitpunkt nach Versuchen mit Haschisch und Alkohol ins Bett der 33 Jahre jüngeren Geliebten Nora flüchtet - die sich ihm wiederum in Richtung ihres festen Freunds Oskar entzieht. Und dann ist da noch die notorisch mobile Tramperin Lisa, die auf Marias Selbsterfahrungstrip Richtung Griechenland Lager, Essen, esoterisch angehauchte Sinnsprüche und einmal sogar einen Mann mit ihrer neuen Freundin teilt.
Lisa ist es schließlich auch, die - einen Brief Marias an Wig im Gepäck - den Verlassenen aufsucht und der Erzählung die klassische Herausgeberfiktion mitgibt: "Dies ist die Geschichte von Eva Maria Magdalena Neuhauser", heißt es, in einer Mischung aus "Schlafes Bruder" und dem Vorspann zur Krimiserie "Fargo" am Beginn aus Lisas Mund; sie gebe "die Dinge genau so wieder, wie sie geschehen oder, da, wo ich nicht dabei war, wie sie mir berichtet worden sind, das meiste von Maria selbst". Im letzten Drittel des Romans wird das Fluchtmotiv allerdings restlos überstrapaziert: Wigs leiblicher Vater Lothar, Mitte achtzig, ist mit einem Leichenwagen aus einem Pflegeheim "abgängig" und wird den Sohn nach Griechenland begleiten auf der Suche nach Maria. In Böhmen aufgewachsen, hat Lothar als Kind seine Mutter auf der Flucht verloren; in hohem Alter ist seine Frau unter ungeklärten Umständen verschwunden. Während Wig hier dunkles Fatum vermutet, kontert der Achtzigjährige erfreulich forsch und spricht dem Leser aus der Seele: "Komm mir nicht mit dieser Karma-Scheiße!"
Trotz solcher Pointen wird aus dem Roman kein Frank Schulz'sches "Ouzo-Orakel". Dabei mangelt es Achleitner nicht an schönen Einfällen: Marias Geburt in einer winterlich feststeckenden Seilbahngondel fräst sich ins Hirn. Dass Lisa beim ersten Treffen mit Wig eine Ausgabe der "Furche" als Erkennungszeichen vorschlägt ("Die Wahrscheinlichkeit, dass zwei Leser dieses Blattes zur selben Stunde am selben Ort stünden, sei statistisch vernachlässigbar"), ist eine kleine, fiese Gemeinheit, die die 1945 gegründete österreichische Qualitätswochenzeitung nicht verdient hat.
Wer hier in Zeiten der Medienkrise noch mitfühlend schmunzelt, wird im Fortgang der Lektüre mehr und mehr verzweifeln: Seitenhiebe auf die aktuelle österreichische Tagespolitik - zur Handlungszeit steht der fesche Sebastian Kurz noch vor der ersten Kanzlerkür - haben die Durchschlagskraft eines Tischfeuerwerks: "Das Grauen mit den Blauen wird wohl noch eine Weile dauern." Figurenkonstellationen bewegen sich auf küchenpsychologischem Level, der Roadtrip nach Griechenland reiht Klischee an Klischee - ganz so als befände man sich abwechselnd in einem Reiseführer und im Treatment einer familientauglichen Vorabendserie. Sprachliche Abstürze geben dem Ganzen einen Spin ins ungewollt Groteske: "Seine verletzte Seele wurde zu einer scharf gemachten Bombe", heißt es da vom waidwund-verlassenen Wig. Der an anderer Stelle laut darüber räsoniert, dass früher doch irgendwie alles besser war: "Wer hätte sich vor 30 Jahren gedacht, dass selbst die Demokratie eine Achillesferse haben könnte?" O tempora, o mores!
Das literarische Urteil über "flüchtig" spricht Wig, ohne es zu ahnen, selbst aus, als er einmal, mit reichlich THC in den Taschen, den Zug nach Wien verpasst: "Das geht sich nicht aus."
NILS KAHLEFENDT
Hubert Achleitner: "flüchtig". Roman.
Zsolnay Verlag, Wien 2020. 304 S., geb., 23,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Hubert Achleitners Roman "flüchtig" setzt auf Roadtrip-Charme, die Handlung aber in den Sand.
Zeig mir deine Platten, und ich sage dir, wer du bist: Gilt das Diktum, das einer wie Nick Hornby ("Fever Pitch") geprägt haben könnte, auch für Romane? In "flüchtig", dem späten Erstling von Hubert Achleitner, spielt der Soundtrack keine ganz unbedeutende Rolle. Der blendend aussehende Lehramtsstudent Herwig Berger etwa, den seine Schüler abwechselnd "Wig" oder "Don Giovanni" nennen, lernt seine spätere Frau, die eben noch seine Schülerin war, bei den Salzburger Festspielen 1988 kennen - er ist an die Salzach gereist, um "die Gruberova" zu erleben, die junge Bankangestellte Maria hat die begehrten Karten als Mitarbeiterin des Monats gewonnen. Trotz dieses Kulturgefälles landen die beiden recht schnell in Wigs moosgrünem Mini Cooper; unter den Klängen einer André-Heller-Kassette ("Du, du, du") ist es mit beider Unschuld bald vorbei.
Ein Missverständnis mit Folgen: "Für Wig war es die große Liebe. Für Maria war es der beste Sex." Marias Abschiedsbrief an Wig, fast dreißig Jahre später, wird von Leonard Cohen und, logisch, abermals von einem gefühligen Heller begleitet: "Wie mei Herzschlag g'herst zu mir." Weiterhin in der Tonspur des Romans: "Weiße Rosen aus Athen", Nina Hagen und Brian Wilson. Nicht weiter unüblich für den Babyboomer Wig, dessen Sozialisation in die optimistischen Siebziger fiel, das Jahrzehnt von John Lennon und Wolfgang Ambros.
Wenn die Textnachweise am Ende von "flüchtig" an die Playlist eines Mixtapes erinnern, liegt das vielleicht auch daran, dass der Autor des Romans als Musiker berühmt wurde. Da nennt sich Achleitner nach dem Ort im Traunviertel, in dem er 1952 geboren wurde: Als Hubert von Goisern, der einst den Alpenrock erfunden hat, füllt er Arenen. Wie schlägt sich der Klangforscher und Song-Poet im erzählenden Fach?
Große Teile des Personals in Achleitners Roman befinden sich tatsächlich in permanenter Fluchtbewegung vor der Midlife-Crisis: Maria, die mit 25 ihr mit Wig gezeugtes Baby verliert und mit Mitte fünfzig die kinderlose, bleiern gewordene Ehe verlässt. Wig, der sich zu diesem Zeitpunkt nach Versuchen mit Haschisch und Alkohol ins Bett der 33 Jahre jüngeren Geliebten Nora flüchtet - die sich ihm wiederum in Richtung ihres festen Freunds Oskar entzieht. Und dann ist da noch die notorisch mobile Tramperin Lisa, die auf Marias Selbsterfahrungstrip Richtung Griechenland Lager, Essen, esoterisch angehauchte Sinnsprüche und einmal sogar einen Mann mit ihrer neuen Freundin teilt.
Lisa ist es schließlich auch, die - einen Brief Marias an Wig im Gepäck - den Verlassenen aufsucht und der Erzählung die klassische Herausgeberfiktion mitgibt: "Dies ist die Geschichte von Eva Maria Magdalena Neuhauser", heißt es, in einer Mischung aus "Schlafes Bruder" und dem Vorspann zur Krimiserie "Fargo" am Beginn aus Lisas Mund; sie gebe "die Dinge genau so wieder, wie sie geschehen oder, da, wo ich nicht dabei war, wie sie mir berichtet worden sind, das meiste von Maria selbst". Im letzten Drittel des Romans wird das Fluchtmotiv allerdings restlos überstrapaziert: Wigs leiblicher Vater Lothar, Mitte achtzig, ist mit einem Leichenwagen aus einem Pflegeheim "abgängig" und wird den Sohn nach Griechenland begleiten auf der Suche nach Maria. In Böhmen aufgewachsen, hat Lothar als Kind seine Mutter auf der Flucht verloren; in hohem Alter ist seine Frau unter ungeklärten Umständen verschwunden. Während Wig hier dunkles Fatum vermutet, kontert der Achtzigjährige erfreulich forsch und spricht dem Leser aus der Seele: "Komm mir nicht mit dieser Karma-Scheiße!"
Trotz solcher Pointen wird aus dem Roman kein Frank Schulz'sches "Ouzo-Orakel". Dabei mangelt es Achleitner nicht an schönen Einfällen: Marias Geburt in einer winterlich feststeckenden Seilbahngondel fräst sich ins Hirn. Dass Lisa beim ersten Treffen mit Wig eine Ausgabe der "Furche" als Erkennungszeichen vorschlägt ("Die Wahrscheinlichkeit, dass zwei Leser dieses Blattes zur selben Stunde am selben Ort stünden, sei statistisch vernachlässigbar"), ist eine kleine, fiese Gemeinheit, die die 1945 gegründete österreichische Qualitätswochenzeitung nicht verdient hat.
Wer hier in Zeiten der Medienkrise noch mitfühlend schmunzelt, wird im Fortgang der Lektüre mehr und mehr verzweifeln: Seitenhiebe auf die aktuelle österreichische Tagespolitik - zur Handlungszeit steht der fesche Sebastian Kurz noch vor der ersten Kanzlerkür - haben die Durchschlagskraft eines Tischfeuerwerks: "Das Grauen mit den Blauen wird wohl noch eine Weile dauern." Figurenkonstellationen bewegen sich auf küchenpsychologischem Level, der Roadtrip nach Griechenland reiht Klischee an Klischee - ganz so als befände man sich abwechselnd in einem Reiseführer und im Treatment einer familientauglichen Vorabendserie. Sprachliche Abstürze geben dem Ganzen einen Spin ins ungewollt Groteske: "Seine verletzte Seele wurde zu einer scharf gemachten Bombe", heißt es da vom waidwund-verlassenen Wig. Der an anderer Stelle laut darüber räsoniert, dass früher doch irgendwie alles besser war: "Wer hätte sich vor 30 Jahren gedacht, dass selbst die Demokratie eine Achillesferse haben könnte?" O tempora, o mores!
Das literarische Urteil über "flüchtig" spricht Wig, ohne es zu ahnen, selbst aus, als er einmal, mit reichlich THC in den Taschen, den Zug nach Wien verpasst: "Das geht sich nicht aus."
NILS KAHLEFENDT
Hubert Achleitner: "flüchtig". Roman.
Zsolnay Verlag, Wien 2020. 304 S., geb., 23,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Der Roman ist versiert konstruiert, weist einen komplexen Subtext auf und hat eine existentielle Tiefendimension, die nach der Lektüre noch eine Weile nachhallt, und - last but not least - ist das Buch spannend zu lesen." Günter Kaindlstorfer, Ö1 Ex libris, 21.06.20
"Eine elegante Erzählung in klaren Worten. Die geschickt verflochtenen Handlungsstränge zwischen Österreich und Griechenland machen sie zum lebensklugen Pageturner." Michael Wurmitzer, Der Standard, 14.6.2020
"'flüchtig' ist ein Buch, dass sich einem beim Lesen selbst erzählt. Als säße man mit Menschen zusammen, die einem von sich, von ihren Lieben und ihrem Leiden erzählen - einfach so. Mit 'flüchtig' ist Hubert Achleitner ein bemerkenswerter Debütroman geglückt." Martina Kothe, NDR Kultur, 06.06.20
"Es ist ein schönes Buch geworden - über alles, was das Leben ausmacht." Doris Kraus, Die Presse am Sonntag, 24.05.20
"Achleitner überzeugt als großartiger Geschichtenerzähler." Christian Mückl, Nürnberger Zeitung, 26.05.20
"Eine spannende und leichtfüßige literarische Reise" Judith Hoffmann, Ö1 Morgenjournal, 25.05.20
"Ein (viel-)stimmiges, sprachlich trittsicheres Roadmovie ... Ein weltkluger Roman, der mehr ist als eine flüchtige Lektüre." Bernd Melichar, Kleine Zeitung, 24.05.20
"Ein Roman voller Reisen zu äußeren und inneren Lebenszielen." Ö1 Kulturjournal, 25.05.20
"Spätes, aber umso beeindruckenderes Debüt des österreichischen Nicht-nur-Volks-Musikers. Ein Buch, das immer in Bewegung bleibt." Musikexpress, 21.05.20
"Eine elegante Erzählung in klaren Worten. Die geschickt verflochtenen Handlungsstränge zwischen Österreich und Griechenland machen sie zum lebensklugen Pageturner." Michael Wurmitzer, Der Standard, 14.6.2020
"'flüchtig' ist ein Buch, dass sich einem beim Lesen selbst erzählt. Als säße man mit Menschen zusammen, die einem von sich, von ihren Lieben und ihrem Leiden erzählen - einfach so. Mit 'flüchtig' ist Hubert Achleitner ein bemerkenswerter Debütroman geglückt." Martina Kothe, NDR Kultur, 06.06.20
"Es ist ein schönes Buch geworden - über alles, was das Leben ausmacht." Doris Kraus, Die Presse am Sonntag, 24.05.20
"Achleitner überzeugt als großartiger Geschichtenerzähler." Christian Mückl, Nürnberger Zeitung, 26.05.20
"Eine spannende und leichtfüßige literarische Reise" Judith Hoffmann, Ö1 Morgenjournal, 25.05.20
"Ein (viel-)stimmiges, sprachlich trittsicheres Roadmovie ... Ein weltkluger Roman, der mehr ist als eine flüchtige Lektüre." Bernd Melichar, Kleine Zeitung, 24.05.20
"Ein Roman voller Reisen zu äußeren und inneren Lebenszielen." Ö1 Kulturjournal, 25.05.20
"Spätes, aber umso beeindruckenderes Debüt des österreichischen Nicht-nur-Volks-Musikers. Ein Buch, das immer in Bewegung bleibt." Musikexpress, 21.05.20