Abgesänge auf Europa sind schon länger in Mode. Die politischen, ökonomischen und ideellen Krisen, die vor allem die EU seit Jahren plagen, halten nicht wenige für überdeutliche Anzeichen eines unaufhaltsamen Auflösungs- und Zerfallsprozesses. Dass in Europa die Integrationskräfte nachlassen und die Fliehkräfte zunehmen, scheint kaum ein anderes Ereignis besser zu belegen als die Flüchtlingskrise, die im Sommer 2015 eskalierte. Diese Krise hat innerhalb der EU zu einem Dauerstreit um die Verteilung von Flüchtlingen geführt und dominiert nach wie vor die innenpolitischen Debatten in der Bundesrepublik Deutschland. Vielleicht ist das momentane Interregnum, in dem die Bundesregierung nur geschäftsführend amtiert und offen ist, wie die nächste Regierungskoalition aussieht, nicht der schlechteste Zeitpunkt, um vom Klein-Klein der Tagespolitik abzusehen und die Flüchtlingskrise des Jahres 2015 in größere Zusammenhänge einzuordnen. Der Themenschwerpunkt Flüchtiges Europa lädt genau hierzu ein: Die versammelten Beiträge erinnern daran, dass Flucht und Migration ein wesentlicher Bestandteil der europäischen Geschichte sind, und korrigieren damit die verbreitete Vorstellung, die Ereignisse des Jahres 2015 seien unvergleichlich. In den Texten wird zudem dafür argumentiert, die Flüchtlingskrise auch als Krise des europäischen Grenzregimes zu verstehen – eine Krise, die im Übrigen nicht erst 2015 begonnen hat und wie ein Fatum über Europa kam, sondern durchaus hausgemacht ist. Schließlich wird in dem Schwerpunkt eine Entwicklung problematisiert, die man als Kulturalisierung des Politischen bezeichnen kann. Gemeint ist die Ausblendung sozialer und sozio-ökonomischer Ungleichheit zugunsten der Überbetonung kultureller Differenzen im politischen Diskurs. Diese rhetorischen Verschiebungen und ihre sozialstrukturellen Folgen ins allgemeine Bewusstsein zu heben, kann auch die parteipolitische Diskussion beleben. Christoph Michael stellt in seiner Einleitung die einzelnen Beiträge des Thementeils vor und erklärt, warum die Figur des Flüchtlings die Krisen Europas symbolisiert und Europa sich auf einen post-humanitären Zustand zubewegt. Europa, so könnte man in Anspielung auf den Titel des Schwerpunkts sagen, ist also nicht nur flüchtig, weil es Geflüchtete beherbergt und Flucht, Vertreibung, Umsiedlung und Migration zu seiner Historie gehören. Flüchtig ist Europa auch insofern, als es Fehler im Umgang mit seinen Krisen macht, die auf Zeitdruck und die Unterwerfung unter vorgebliche Sachzwänge zurückgehen. Gerade im Angesicht der Flüchtlinge scheint sich Europa zu verflüchtigen, indem es sich aus der Verantwortung stiehlt, hinter seine normativen Grundsätze zurückfällt und juristische Mindeststandards unterbietet. Außerhalb des Themenschwerpunkts veröffentlichen wir einen Auszug aus dem Briefwechsel, den der Schriftsteller Franz Fühmann in den 1970er Jahren mit Ingrid Prignitz, seiner Lektorin beim Hinstorff-Verlag, und dem Philosophen Wolfgang Heise geführt hat. Wie Kirsten Thietz erläutert, drehen sich die Briefe um die Studie „Ignaz Denner“, in der Fühmann eine Erzählung E.T.A. Hoffmanns im Lichte der Hegelschen Herr-Knecht-Dialektik deutet. Und schließlich wird Bilanz gezogen: Nach 100 Jahren gibt Thomas Kuczynski zum Nachdenken anregende Antworten auf die Frage, was von der Oktoberrevolution bleibt. Wladislaw Hedeler setzt seine umfassende Literatur- und Veranstaltungskritik aus Heft 2/2017 fort und legt einen Überblick über das diesjährige Gedenken an die Russische Revolution 1917 vor.