"Was macht das Glück einer Familie aus? Wenn es - neben vielen Komponenten wie der Abwesenheit von Krankheiten, sicherem Einkommen und dergleichen - gemeinsame Erinnerungen sind, die Zusammenhalt ermöglichen, miteinander gelebte Vergangenheit", so denkt Lucy an einem Dezembertag in Berlin an eine unglückliche Familie.Ihr Bruder Simon ist verschwunden. Das Nachdenken über ihn führt sie zu einem früheren Wintertag ins Haus der Großeltern in Hamburg, an dessen Ende etwas geschah, das den Kindern verschwiegen wurde. Dieses Schweigen bestimmt nicht nur die weitere Zukunft, sondern reicht auch in die Generation der Großeltern und Urgroßeltern zurück, welche sich in vielfältig Ungesagtes verstrickten, politisches, persönliches. Helene, die Großmutter, kämpft gegen Ende ihres Lebens allerdings umso vehementer um ihre Erinnerungen: jede, auch die schlechteste, ist ihr willkommen, um dem "Schmelzen im Kopf" zu widerstehen.Schnee und Stein sind in diesem Roman die Materialien, an denen dieFiguren scheitern oder wachsen, an denen sie dem Bedrohlichen eine Form abzuringen, dem Zerstörerischen ein "Dennoch" entgegenzusetzen versuchen.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 19.07.2017Schattierungen von Weiß
Die Münchner Schriftstellerin Birgit Müller-Wieland erzählt in ihrem Roman „Flugschnee“ von
blinden Flecken in Familiengeschichten – und nebenbei vom Einfluss des Werks von Peter Weiss
VON ANTJE WEBER
Es gibt Bücher, die das Leben verändern. Nicht nur ein bisschen, sondern von Grund auf, für immer. Eines dieser Bücher ist „Die Ästhetik des Widerstands“ von Peter Weiss. Für die Figur Vera aus dem Roman „Flugschnee“ ist es lebensentscheidend. Und für die Autorin Birgit Müller-Wieland, die diesen vielschichtigen Roman geschrieben hat, sowieso.
Um mit der Fiktion zu beginnen: Vera ist eine von mehreren Figuren, aus deren Perspektiven der Roman „Flugschnee“ (Otto Müller Verlag) abwechselnd erzählt wird. Die österreichische Bildhauerin aus kleinbürgerlichen Verhältnissen ist traumatisiert durch einen gewaltsamen Tod der Eltern. Sie fühlt sich aufgerüttelt von Peter Weiss’ „Ästhetik des Widerstands“, einem monumentalen Roman-Essay über die Arbeiterbewegung im Widerstand gegen den Faschismus, erschienen in den Siebzigerjahren. Und sie ist jäh verliebt, als ein junger Mann sie mit einem Satz aus diesem Werk überrascht: „Wir fragten uns, was das Wahre in der Kunst sei, und fanden, es müsse das Material sein, das durch die eignen Sinne und Nerven gegangen war.“
Ohne solche Sätze hätte auch die Schriftstellerin Birgit Müller-Wieland ihren Mann nicht kennengelernt. Es war Anfang der Neunziger bei einer Jahrestagung der Peter-Weiss-Gesellschaft, als ein junger Komponist namens Jan Müller-Wieland ein Projekt vorstellte; er wollte ein Weiss-Stück vertonen: „Die Leidenschaft, mit der er über Peter Weiss gesprochen hat, hat mich fürs Leben entflammt“, sagt Müller-Wieland. Eigentlich wollte sie das in ihrem Buch gar nicht zum Thema machen, doch „es ist mir passiert“, wie sie sagt; ein Satz, der im Gespräch mit dieser differenziert sich selbst und die Welt reflektierenden Schriftstellerin nicht nur einmal fällt.
Dass Peter Weiss in ihrem Roman immer wieder vorkommt, ist angesichts ihrer Biografie ohnehin so überraschend nicht. Denn dieser bedeutende Nachkriegsautor spielte schon früh eine wichtige Rolle im Leben der heute 54-jährigen Österreicherin, die lange in Salzburg und später Berlin lebte und seit zehn Jahren mit Mann und Tochter in München wohnt. Am Attersee, wo sie ihre Jugend verbrachte, so erzählt sie, gab es eine große Fabrik, in der alle arbeiteten, auch ihre Eltern. Inspiriert von einem ebenfalls dort am Fließband schuftenden Freund las sie als Studentin einen Sommer lang in einem kleinen Lesekreis die „Ästhetik des Widerstands“. Eine prägende Erfahrung: „Das hatte so viel mit uns zu tun! Dieses Buch war wie ein Senkblei in die tiefsten Tiefen, das muss ich so pathetisch sagen.“
In diesen Tiefen veränderte das Buch auch ihre politische Haltung; sie engagierte sich fortan im kommunistischen Studentenverband, ging auf Friedensdemos, forderte „Rote Grütze für alle“. Das war Anfang der Achtzigerjahre, und Müller-Wieland trieb wie so viele andere damals – und vielleicht auch heute wieder – das Gefühl um, „man muss etwas tun, auf die Straßen gehen“. Gleichzeitig war das Buch für sie „das Tor zu einem Denken, das vereint“. Ein Denken, das zum Beispiel nicht proletarische gegen spätbürgerlich-dekadente Kunst ausspielt, sondern in jedem Werk einen eigenen „Widerstandsfunken“ erkennt.
Birgit Müller-Wieland jedenfalls beschäftigte sich so intensiv mit dem Weiss’schen Denken, dass sie ihre Doktorarbeit über ihn schrieb und jahrelang im Vorstand der Internationalen Peter-Weiss-Gesellschaft arbeitete. Und wenn sie über die Vielfalt seines Gesamtwerks schwärmt – er hat Dramen geschrieben und Erzählungen, gemalt und Filme gedreht –, dann ahnt man, warum vielleicht auch sie selbst so vielseitig ist; sie verfasst Lyrik ebenso wie Erzählungen und Libretti, und „Flugschnee“ ist bereits ihr zweiter Roman.
Der handelt, das muss jetzt aber doch ganz entschieden gesagt werden, beileibe nicht nur von Peter Weiss, auch wenn gleich mehrere Figuren auf ihn Bezug nehmen. „Flugschnee“ greift anhand von Figuren aus drei Generationen sehr viele Themen mehr oder weniger beiläufig auf, vom fordernden Alltag mit Kindern über Homosexualität bis hin zum Altwerden. Das alles beherrschende Thema ist jedoch die Frage, wie Familien mit ihren „Leichen im Keller“ umgehen, und das ist durchaus wörtlich zu verstehen. Es ist die Frage: „Wenn unsere Vorfahren uns neben dem üblichen Genmaterial auch ihre Verletzungen und Traumata vererben: Was bedeutet das für unsere Leben? Unsere Träume?“
Diese Frage stellt sich die Berliner Studentin Lucy, Tochter der Bildhauerin Vera. Sie hat gerade einen Artikel über Epigenetik gelesen: „Kann ein Kind sich an das erinnern, was die Eltern vergessen haben?“ Das ist eine Frage, die sie tief bewegt, denn Lucy versucht herauszufinden, warum ihr älterer Bruder Simon spurlos verschwunden ist; warum dieser Bruder schon als Kind von schlimmen Träumen heimgesucht wurde; und warum etwas in ihrer Familie schon immer irgendwie anders war: „Es war etwas zwischen den Erwachsenen, etwas Ungreifbares.“
Birgit Müller-Wieland ist fasziniert von den noch recht neuen Forschungsergebnissen der Epigenetik. Können sich Traumata im Erbgut wiederfinden lassen? „Das betrifft so vieles, was mich umtreibt, wofür ich aber keinen Begriff hatte.“ Geahnt hatte sie zwar schon, dass Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern auch mit Ereignissen in früheren Generationen zu tun haben können; sie fühlte sich darin auch von einem Roman wie „Kallocain“ aus dem Jahr 1940 bestätigt; verfasst hat ihn die schwedische Schriftstellerin Karin Boye, und auch er kommt in Müller-Wielands Roman mehrfach vor (wie übrigens auch bei Peter Weiss, dies nur der Vollständigkeit halber).
In „Flugschnee“ jedenfalls wird deutlich, dass die Verstrickungen der Vergangenheit auch Auswirkungen auf die Gegenwart haben. Bereits der Titel deutet es an: Flugschnee ist laut Wikipedia sehr feiner Schnee, der durch das Dach in ein Haus gelangen kann. Im Roman ist denn auch die Rede von etwas Nassem, das ins Familienhaus einsickert, „eine Art feuchte Wut“. Was da vor sich hin schimmelt, wird im Verlauf der spannenden Lektüre erst allmählich sichtbar. Denn die Protagonisten können oder wollen sich nicht erinnern an einen Weihnachtstag vor vielen Jahren, an dem ganz kurz ein Geheimnis gelüftet wurde, das mit Schuld zu tun hat, mit Scham: Die Studentin Lucy war damals noch zu klein, um etwas abzuspeichern. Ihre Großmutter wiederum kann die Vergangenheit nur bruchstückhaft hervorholen: „Jede Erinnerung, die ihr zuflog aus dem Nebel, in das sich ihr Denken zuweilen verirrte, war wertvoll und musste ausgekostet werden.“
Zumindest ihre Enkelin wird sich am Ende des Buches aus dem Nebel herausarbeiten. „Es geht darum, sich dem zu stellen, was die Vergangenheit bedeutet“, sagt Müller-Wieland; womöglich sei das ein ur-therapeutischer Ansatz. Dabei will sie, obwohl sie neben der Germanistik auch Psychologie studiert hat, gar nicht so viel an theoretischem Wissen einbringen. Sie will sich im Gegenteil im Schreiben „freischaufeln von allem, um ganz nah bei der Figur zu sein, bei ihrer Wahrheit“. Trotz vieler Perspektiv- und Zeitsprünge hat sie den Roman ohne festen Plan geschrieben, eng an den Menschen entlang. Das macht deren Handlungen psychologisch sehr stimmig. Doch „diese Art des Schreibens ist etwas mühsam, weil man überrascht wird“. Die Figuren verhalten sich anders als von der Erfinderin erwartet, und das erfordert ein „ständiges Umschreiben, Nachschreiben, Hinterherschreiben“.
Wer so arbeitet, der lässt sich überraschen von dem, was ihm passiert; von dem, was aus tieferen Schichten nach oben drängen mag. Der ist bereit, sich nicht nur durchs Lesen, sondern auch im Schreiben verändern zu lassen, von Grund auf.
Dass jedes Buch einen eigenen
„Widerstandsfunken“ hat,
hat sie bei Peter Weiss gelernt
„Es geht darum,
sich dem zu stellen, was die
Vergangenheit bedeutet“
Flugschnee ist so fein, dass er in Häuser eindringen kann; bei Birgit Müller-Wieland steht er für eine Art „feuchte Wut“.
Foto: Stephan Rumpf
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Die Münchner Schriftstellerin Birgit Müller-Wieland erzählt in ihrem Roman „Flugschnee“ von
blinden Flecken in Familiengeschichten – und nebenbei vom Einfluss des Werks von Peter Weiss
VON ANTJE WEBER
Es gibt Bücher, die das Leben verändern. Nicht nur ein bisschen, sondern von Grund auf, für immer. Eines dieser Bücher ist „Die Ästhetik des Widerstands“ von Peter Weiss. Für die Figur Vera aus dem Roman „Flugschnee“ ist es lebensentscheidend. Und für die Autorin Birgit Müller-Wieland, die diesen vielschichtigen Roman geschrieben hat, sowieso.
Um mit der Fiktion zu beginnen: Vera ist eine von mehreren Figuren, aus deren Perspektiven der Roman „Flugschnee“ (Otto Müller Verlag) abwechselnd erzählt wird. Die österreichische Bildhauerin aus kleinbürgerlichen Verhältnissen ist traumatisiert durch einen gewaltsamen Tod der Eltern. Sie fühlt sich aufgerüttelt von Peter Weiss’ „Ästhetik des Widerstands“, einem monumentalen Roman-Essay über die Arbeiterbewegung im Widerstand gegen den Faschismus, erschienen in den Siebzigerjahren. Und sie ist jäh verliebt, als ein junger Mann sie mit einem Satz aus diesem Werk überrascht: „Wir fragten uns, was das Wahre in der Kunst sei, und fanden, es müsse das Material sein, das durch die eignen Sinne und Nerven gegangen war.“
Ohne solche Sätze hätte auch die Schriftstellerin Birgit Müller-Wieland ihren Mann nicht kennengelernt. Es war Anfang der Neunziger bei einer Jahrestagung der Peter-Weiss-Gesellschaft, als ein junger Komponist namens Jan Müller-Wieland ein Projekt vorstellte; er wollte ein Weiss-Stück vertonen: „Die Leidenschaft, mit der er über Peter Weiss gesprochen hat, hat mich fürs Leben entflammt“, sagt Müller-Wieland. Eigentlich wollte sie das in ihrem Buch gar nicht zum Thema machen, doch „es ist mir passiert“, wie sie sagt; ein Satz, der im Gespräch mit dieser differenziert sich selbst und die Welt reflektierenden Schriftstellerin nicht nur einmal fällt.
Dass Peter Weiss in ihrem Roman immer wieder vorkommt, ist angesichts ihrer Biografie ohnehin so überraschend nicht. Denn dieser bedeutende Nachkriegsautor spielte schon früh eine wichtige Rolle im Leben der heute 54-jährigen Österreicherin, die lange in Salzburg und später Berlin lebte und seit zehn Jahren mit Mann und Tochter in München wohnt. Am Attersee, wo sie ihre Jugend verbrachte, so erzählt sie, gab es eine große Fabrik, in der alle arbeiteten, auch ihre Eltern. Inspiriert von einem ebenfalls dort am Fließband schuftenden Freund las sie als Studentin einen Sommer lang in einem kleinen Lesekreis die „Ästhetik des Widerstands“. Eine prägende Erfahrung: „Das hatte so viel mit uns zu tun! Dieses Buch war wie ein Senkblei in die tiefsten Tiefen, das muss ich so pathetisch sagen.“
In diesen Tiefen veränderte das Buch auch ihre politische Haltung; sie engagierte sich fortan im kommunistischen Studentenverband, ging auf Friedensdemos, forderte „Rote Grütze für alle“. Das war Anfang der Achtzigerjahre, und Müller-Wieland trieb wie so viele andere damals – und vielleicht auch heute wieder – das Gefühl um, „man muss etwas tun, auf die Straßen gehen“. Gleichzeitig war das Buch für sie „das Tor zu einem Denken, das vereint“. Ein Denken, das zum Beispiel nicht proletarische gegen spätbürgerlich-dekadente Kunst ausspielt, sondern in jedem Werk einen eigenen „Widerstandsfunken“ erkennt.
Birgit Müller-Wieland jedenfalls beschäftigte sich so intensiv mit dem Weiss’schen Denken, dass sie ihre Doktorarbeit über ihn schrieb und jahrelang im Vorstand der Internationalen Peter-Weiss-Gesellschaft arbeitete. Und wenn sie über die Vielfalt seines Gesamtwerks schwärmt – er hat Dramen geschrieben und Erzählungen, gemalt und Filme gedreht –, dann ahnt man, warum vielleicht auch sie selbst so vielseitig ist; sie verfasst Lyrik ebenso wie Erzählungen und Libretti, und „Flugschnee“ ist bereits ihr zweiter Roman.
Der handelt, das muss jetzt aber doch ganz entschieden gesagt werden, beileibe nicht nur von Peter Weiss, auch wenn gleich mehrere Figuren auf ihn Bezug nehmen. „Flugschnee“ greift anhand von Figuren aus drei Generationen sehr viele Themen mehr oder weniger beiläufig auf, vom fordernden Alltag mit Kindern über Homosexualität bis hin zum Altwerden. Das alles beherrschende Thema ist jedoch die Frage, wie Familien mit ihren „Leichen im Keller“ umgehen, und das ist durchaus wörtlich zu verstehen. Es ist die Frage: „Wenn unsere Vorfahren uns neben dem üblichen Genmaterial auch ihre Verletzungen und Traumata vererben: Was bedeutet das für unsere Leben? Unsere Träume?“
Diese Frage stellt sich die Berliner Studentin Lucy, Tochter der Bildhauerin Vera. Sie hat gerade einen Artikel über Epigenetik gelesen: „Kann ein Kind sich an das erinnern, was die Eltern vergessen haben?“ Das ist eine Frage, die sie tief bewegt, denn Lucy versucht herauszufinden, warum ihr älterer Bruder Simon spurlos verschwunden ist; warum dieser Bruder schon als Kind von schlimmen Träumen heimgesucht wurde; und warum etwas in ihrer Familie schon immer irgendwie anders war: „Es war etwas zwischen den Erwachsenen, etwas Ungreifbares.“
Birgit Müller-Wieland ist fasziniert von den noch recht neuen Forschungsergebnissen der Epigenetik. Können sich Traumata im Erbgut wiederfinden lassen? „Das betrifft so vieles, was mich umtreibt, wofür ich aber keinen Begriff hatte.“ Geahnt hatte sie zwar schon, dass Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern auch mit Ereignissen in früheren Generationen zu tun haben können; sie fühlte sich darin auch von einem Roman wie „Kallocain“ aus dem Jahr 1940 bestätigt; verfasst hat ihn die schwedische Schriftstellerin Karin Boye, und auch er kommt in Müller-Wielands Roman mehrfach vor (wie übrigens auch bei Peter Weiss, dies nur der Vollständigkeit halber).
In „Flugschnee“ jedenfalls wird deutlich, dass die Verstrickungen der Vergangenheit auch Auswirkungen auf die Gegenwart haben. Bereits der Titel deutet es an: Flugschnee ist laut Wikipedia sehr feiner Schnee, der durch das Dach in ein Haus gelangen kann. Im Roman ist denn auch die Rede von etwas Nassem, das ins Familienhaus einsickert, „eine Art feuchte Wut“. Was da vor sich hin schimmelt, wird im Verlauf der spannenden Lektüre erst allmählich sichtbar. Denn die Protagonisten können oder wollen sich nicht erinnern an einen Weihnachtstag vor vielen Jahren, an dem ganz kurz ein Geheimnis gelüftet wurde, das mit Schuld zu tun hat, mit Scham: Die Studentin Lucy war damals noch zu klein, um etwas abzuspeichern. Ihre Großmutter wiederum kann die Vergangenheit nur bruchstückhaft hervorholen: „Jede Erinnerung, die ihr zuflog aus dem Nebel, in das sich ihr Denken zuweilen verirrte, war wertvoll und musste ausgekostet werden.“
Zumindest ihre Enkelin wird sich am Ende des Buches aus dem Nebel herausarbeiten. „Es geht darum, sich dem zu stellen, was die Vergangenheit bedeutet“, sagt Müller-Wieland; womöglich sei das ein ur-therapeutischer Ansatz. Dabei will sie, obwohl sie neben der Germanistik auch Psychologie studiert hat, gar nicht so viel an theoretischem Wissen einbringen. Sie will sich im Gegenteil im Schreiben „freischaufeln von allem, um ganz nah bei der Figur zu sein, bei ihrer Wahrheit“. Trotz vieler Perspektiv- und Zeitsprünge hat sie den Roman ohne festen Plan geschrieben, eng an den Menschen entlang. Das macht deren Handlungen psychologisch sehr stimmig. Doch „diese Art des Schreibens ist etwas mühsam, weil man überrascht wird“. Die Figuren verhalten sich anders als von der Erfinderin erwartet, und das erfordert ein „ständiges Umschreiben, Nachschreiben, Hinterherschreiben“.
Wer so arbeitet, der lässt sich überraschen von dem, was ihm passiert; von dem, was aus tieferen Schichten nach oben drängen mag. Der ist bereit, sich nicht nur durchs Lesen, sondern auch im Schreiben verändern zu lassen, von Grund auf.
Dass jedes Buch einen eigenen
„Widerstandsfunken“ hat,
hat sie bei Peter Weiss gelernt
„Es geht darum,
sich dem zu stellen, was die
Vergangenheit bedeutet“
Flugschnee ist so fein, dass er in Häuser eindringen kann; bei Birgit Müller-Wieland steht er für eine Art „feuchte Wut“.
Foto: Stephan Rumpf
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