Ellisons Erzählungen beschreiben die imaginären Stationen einer afro-amerikanischen Biographie, von Kindheit über Jugend bis hin zum Erwachsenendasein, und sind Ellisons Erkundungen seiner lebenslangen Faszination von Schicksalen und den phantastischen Absurditäten des Lebens. Der Bogen reicht von den Geschichten zweier kleiner Jungen, Buster und Riley, und ihrer Streiche bis zu "Flying Home", der Geschichte eines schwarzen Ikarus, der von Kindesbeinen an vom Fliegen träumt und der Sonne gefährlich nahe zu kommen droht. Die Geschichten erzählen vom stets wachen Bewußtsein der Schwarzen, welches für ein Überleben in einer weißen Welt unerläßlich ist.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.03.1999An der Leine fliegen
Ralph Ellisons Geschichten / Von Ingeborg Harms
Bisher war der 1994 verstorbene amerikanische Autor Ralph Ellison vor allem durch sein Meisterwerk "Der unsichtbare Mann" bekannt. Nach dem Erscheinen des Romans zu Beginn der fünfziger Jahre publizierte er nur noch zwei Essaybände und vereinzelte Erzählungen. Mit der schrittweisen Herausgabe des Ellison-Nachlasses erfährt das Bild vom Schriftsteller, der im Alter über die Literatur hinauswuchs, eine Revision. Für den Juni kündigt Random House den unvollendeten Roman "Juneteenth" an, in der "New Republic" ist kürzlich ein Konvolut von glänzend geschriebenen Briefen aus allen Lebensepochen des Künstlers veröffentlicht worden, und John F. Callahan hat unter dem Titel "Flying Home und andere Geschichten" nun dreizehn Erzählungen ans Licht gebracht, die in einem Karton unter dem Eßzimmertisch der Ellisons geschlummert hatten. Vier von ihnen erscheinen hier zum erstenmal.
Der unsichtbare Mann des frühen Hauptwerks ist ein intelligenter junger Farbiger, den das Schicksal nach New York verschlagen hat, wo er als Sprecher der Harlemer Linken seinen Weg macht. Eine Kette von Selbstentwürfen und Desillusionierungen läßt jedoch die Erkenntnis in ihm reifen, daß die Geschichts- und Gesellschaftstheorie seiner weißen Genossen über die mannigfaltige und komplex organisierte Alltagswelt seines schwarzen Stadtteils blindlings hinweggeht. Von der übersehenen Geschichte des farbigen Amerika berichtet auch die Sammlung "Flying Home". Die meisten der Erzählungen sind vor dem "Unsichtbaren Mann" entstanden und spielen im Süden, wo Ellison seine Jugend verbrachte.
Der Herausgeber läßt das Buch mit dem provokanten Prosastück "Ein Feuerwerk in der Stadt" anfangen. Mit dem grellen Realismus unabgestumpfter Augen schildert ein weißer Junge den Lynchmord an einem dunkelhäutigen Mann. Doch der einsame Todeskampf des Opfers und die Häme der Zuschauer sind nicht die ganze Geschichte. Ellison führt als überraschendes Element ein tief über den Marktplatz gleitendes Flugzeug ein, dessen Pilot den Scheiterhaufen für eine Landemarkierung hält. Die Maschine zerreißt eine Hochspannungsleitung, bevor sie sich wieder fängt. Von den herunterhängenden Drähten wird eine Frau auf der Stelle geröstet. Die Assoziation des archaischen Lynchspektakels mit der Verwüstung, die das technisch avancierte Fluggerät anrichtet, führt gleichsam das Umschlagen der Aufklärung vor: Der unüberwundene Rassenhaß gefährdet die Errungenschaften des Fortschritts und verwandelt sie in krude Tötungsinstrumente. Allerdings läßt Ellisons Erzählung noch eine andere Deutung zu, und sie ist vielleicht der Grund, warum der Autor die Geschichte zu Lebzeiten nicht herausgab: Das mit erhabener Präzision auf die Stätte und Stunde des menschlich erzeugten Grauens zuschwebende Flugzeug ist von Implikationen göttlicher Nemesis begleitet. Der Autor führt einen Deus ex machina ein, der sich blitzschnell ein Gegenopfer aus dem Kreis der Täter aussucht. Nur wird der himmlische Zeigefinger von der selbstgerechten Lynchjustiz zwangsläufig ignoriert, und das Feuer brennt weiter.
Ellison wollte nicht als Tendenzschriftsteller mißverstanden werden. Sein erzählerisches Verstummen hatte viel mit seiner Unzufriedenheit über den Erfolg der schwarzen Protestliteratur zu tun. So ist es kein Zufall, daß sich zum "Feuerwerk in der Stadt" unter dem Titel "Da soll noch einer mitkommen" eine andere Geschichte gesellt, die den krassen Realismus der Anklageprosa parodiert: Zwei Reisende machen an einem kalten Winterabend in einer Bar Station. Dort beobachten sie einen Afroamerikaner in Gesellschaft einer attraktiven Mulattin. Als eine Gruppe weißer Mafiosi das Lokal betritt, sehen sie einen Konflikt voraus und ziehen sich in eine Pension zurück. Bald hören sie Schüsse und glauben vom Fenster aus eine Treibjagd auf den Schwarzen wahrzunehmen. Wie sich jedoch herausstellt, ist das Blut bloßer Ketchup und die Flucht durch den Schnee Resultat einer Wette, die der Läufer gegen den Mafiaboß, einen guten Bekannten, gewinnt.
Daß nicht alles ist, wie es scheint, trifft Ellisons Überzeugung nach besonders auf Amerikas farbige Bewohner zu. Für Rousseaus Entwurf des Guten Wilden hatte er wenig übrig. In der Sanftmut seiner Brüder und Schwestern gewahrte er kein Relikt einer pflanzenhaften Ursprünglichkeit, sondern die eiserne Selbstkontrolle eines von der Lehrmeisterin Geschichte schwer in die Zucht genommenen Volkes.
Verstellung erweist sich als Ultima ratio für Ellisons unsichtbaren Mann. Die Prosastücke in "Flying Home" umkreisen dasselbe Thema. Sie geben Einblick in eine zugleich hochentwickelte und unterdrückte Minoritätenkultur. Ihr Aufblitzen ist ein kathartischer Moment für farbige Jugendliche, die sich um Assimilation an die weiße angelsächsische Lebenswelt bemühen. Die Titelerzählung berichtet von einem solchen Wendepunkt. Ein dunkelhäutiger Kampfpilot stürzt über einem Kornfeld ab und wird von dem schwarzen Landarbeiter Jefferson und dessen Sohn gefunden. Mehr als der gebrochene Knöchel schmerzt den Soldaten das Geplauder des Alten. Zutraulich umkreist Jefferson die prekäre Rolle der Schwarzen in der Truppe, ihren Nichteinsatz im Weltkrieg, den ungewöhnlichen Anblick eines Farbigen im Cockpit, die Schwierigkeiten eines Aufstiegs über die Rassenschranken hinweg und das Entsetzen beim Absturz. So kommt zur Sprache, was der ehrgeizige Offizier verdrängt hat. Jefferson ist unfähig, den rechten Ton zu finden. Vergeblich versucht er, den Verletzten mit einer Münchhausen-Geschichte über sein früheres Leben als Engel abzulenken, in dem er Petrus durch Flugkünste verstimmte: "Wir Schwarzen dürfen nur an der Leine fliegen . . ." Der Pilot bemerkt den Bezug auf sein eigenes Geschick. Doch dem Erzähler scheint die Verbindung zu entgehen: "Todd fiel die Art auf, wie der Alte sich von allem distanzierte. Es war, als hielte er seine Worte auf Armeslänge, damit er von ihrer zerstörerischen Kraft verschont blieb." Als Todd dem alten Mann aus Angst vor Spott das Wort abschneidet, ist dessen Gesicht "ernst, müde und alt". Unter der Maske des Landarbeiters wird die Anstrengung sichtbar, die ihm das Heiterkeitstheater abverlangt.
Um das chamäleonhafte Wesen einer Afroamerikanerin geht es auch in "Zwei skalpierte Indianer". Ein farbiger Knabe flüchtet kopflos vor einem Hund und findet sich am Fenster eines abgelegenen Hauses wieder. Fasziniert beobachtet er eine dunkelhäutige Nackte, die sich allein im Tanze wiegt. Erst als sie sich umdreht, erkennt er über dem schönen Körper das Gesicht der alten Mackie, vor deren Hexenkünsten er sich schon lange in acht nimmt. Die Identität der schwarzen Bevölkerung Amerikas ist nach der Sklavenbefreiung in lebensweises Greisentum und jugendlichen Aufbruchswillen zerfallen. Ellisons Geschichten gehen dieser Schizophrenie durch die Konfrontation von Kindern und alten Leuten nach. Ellison zeigt nicht nur die Male der Knechtschaft, sondern auch den Tanz hinter verschlossenen Türen, den Gesang und das Gelächter, durch die sich der schwarze Mann, der für den Part des frommen Engels zu begabt war, seiner Opferrolle entwindet.
Ralph Ellison: "Flying Home und andere Geschichten". Herausgegeben von John F. Callahan. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié. Ammann Verlag, Zürich 1999. 220 S., geb., 39,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ralph Ellisons Geschichten / Von Ingeborg Harms
Bisher war der 1994 verstorbene amerikanische Autor Ralph Ellison vor allem durch sein Meisterwerk "Der unsichtbare Mann" bekannt. Nach dem Erscheinen des Romans zu Beginn der fünfziger Jahre publizierte er nur noch zwei Essaybände und vereinzelte Erzählungen. Mit der schrittweisen Herausgabe des Ellison-Nachlasses erfährt das Bild vom Schriftsteller, der im Alter über die Literatur hinauswuchs, eine Revision. Für den Juni kündigt Random House den unvollendeten Roman "Juneteenth" an, in der "New Republic" ist kürzlich ein Konvolut von glänzend geschriebenen Briefen aus allen Lebensepochen des Künstlers veröffentlicht worden, und John F. Callahan hat unter dem Titel "Flying Home und andere Geschichten" nun dreizehn Erzählungen ans Licht gebracht, die in einem Karton unter dem Eßzimmertisch der Ellisons geschlummert hatten. Vier von ihnen erscheinen hier zum erstenmal.
Der unsichtbare Mann des frühen Hauptwerks ist ein intelligenter junger Farbiger, den das Schicksal nach New York verschlagen hat, wo er als Sprecher der Harlemer Linken seinen Weg macht. Eine Kette von Selbstentwürfen und Desillusionierungen läßt jedoch die Erkenntnis in ihm reifen, daß die Geschichts- und Gesellschaftstheorie seiner weißen Genossen über die mannigfaltige und komplex organisierte Alltagswelt seines schwarzen Stadtteils blindlings hinweggeht. Von der übersehenen Geschichte des farbigen Amerika berichtet auch die Sammlung "Flying Home". Die meisten der Erzählungen sind vor dem "Unsichtbaren Mann" entstanden und spielen im Süden, wo Ellison seine Jugend verbrachte.
Der Herausgeber läßt das Buch mit dem provokanten Prosastück "Ein Feuerwerk in der Stadt" anfangen. Mit dem grellen Realismus unabgestumpfter Augen schildert ein weißer Junge den Lynchmord an einem dunkelhäutigen Mann. Doch der einsame Todeskampf des Opfers und die Häme der Zuschauer sind nicht die ganze Geschichte. Ellison führt als überraschendes Element ein tief über den Marktplatz gleitendes Flugzeug ein, dessen Pilot den Scheiterhaufen für eine Landemarkierung hält. Die Maschine zerreißt eine Hochspannungsleitung, bevor sie sich wieder fängt. Von den herunterhängenden Drähten wird eine Frau auf der Stelle geröstet. Die Assoziation des archaischen Lynchspektakels mit der Verwüstung, die das technisch avancierte Fluggerät anrichtet, führt gleichsam das Umschlagen der Aufklärung vor: Der unüberwundene Rassenhaß gefährdet die Errungenschaften des Fortschritts und verwandelt sie in krude Tötungsinstrumente. Allerdings läßt Ellisons Erzählung noch eine andere Deutung zu, und sie ist vielleicht der Grund, warum der Autor die Geschichte zu Lebzeiten nicht herausgab: Das mit erhabener Präzision auf die Stätte und Stunde des menschlich erzeugten Grauens zuschwebende Flugzeug ist von Implikationen göttlicher Nemesis begleitet. Der Autor führt einen Deus ex machina ein, der sich blitzschnell ein Gegenopfer aus dem Kreis der Täter aussucht. Nur wird der himmlische Zeigefinger von der selbstgerechten Lynchjustiz zwangsläufig ignoriert, und das Feuer brennt weiter.
Ellison wollte nicht als Tendenzschriftsteller mißverstanden werden. Sein erzählerisches Verstummen hatte viel mit seiner Unzufriedenheit über den Erfolg der schwarzen Protestliteratur zu tun. So ist es kein Zufall, daß sich zum "Feuerwerk in der Stadt" unter dem Titel "Da soll noch einer mitkommen" eine andere Geschichte gesellt, die den krassen Realismus der Anklageprosa parodiert: Zwei Reisende machen an einem kalten Winterabend in einer Bar Station. Dort beobachten sie einen Afroamerikaner in Gesellschaft einer attraktiven Mulattin. Als eine Gruppe weißer Mafiosi das Lokal betritt, sehen sie einen Konflikt voraus und ziehen sich in eine Pension zurück. Bald hören sie Schüsse und glauben vom Fenster aus eine Treibjagd auf den Schwarzen wahrzunehmen. Wie sich jedoch herausstellt, ist das Blut bloßer Ketchup und die Flucht durch den Schnee Resultat einer Wette, die der Läufer gegen den Mafiaboß, einen guten Bekannten, gewinnt.
Daß nicht alles ist, wie es scheint, trifft Ellisons Überzeugung nach besonders auf Amerikas farbige Bewohner zu. Für Rousseaus Entwurf des Guten Wilden hatte er wenig übrig. In der Sanftmut seiner Brüder und Schwestern gewahrte er kein Relikt einer pflanzenhaften Ursprünglichkeit, sondern die eiserne Selbstkontrolle eines von der Lehrmeisterin Geschichte schwer in die Zucht genommenen Volkes.
Verstellung erweist sich als Ultima ratio für Ellisons unsichtbaren Mann. Die Prosastücke in "Flying Home" umkreisen dasselbe Thema. Sie geben Einblick in eine zugleich hochentwickelte und unterdrückte Minoritätenkultur. Ihr Aufblitzen ist ein kathartischer Moment für farbige Jugendliche, die sich um Assimilation an die weiße angelsächsische Lebenswelt bemühen. Die Titelerzählung berichtet von einem solchen Wendepunkt. Ein dunkelhäutiger Kampfpilot stürzt über einem Kornfeld ab und wird von dem schwarzen Landarbeiter Jefferson und dessen Sohn gefunden. Mehr als der gebrochene Knöchel schmerzt den Soldaten das Geplauder des Alten. Zutraulich umkreist Jefferson die prekäre Rolle der Schwarzen in der Truppe, ihren Nichteinsatz im Weltkrieg, den ungewöhnlichen Anblick eines Farbigen im Cockpit, die Schwierigkeiten eines Aufstiegs über die Rassenschranken hinweg und das Entsetzen beim Absturz. So kommt zur Sprache, was der ehrgeizige Offizier verdrängt hat. Jefferson ist unfähig, den rechten Ton zu finden. Vergeblich versucht er, den Verletzten mit einer Münchhausen-Geschichte über sein früheres Leben als Engel abzulenken, in dem er Petrus durch Flugkünste verstimmte: "Wir Schwarzen dürfen nur an der Leine fliegen . . ." Der Pilot bemerkt den Bezug auf sein eigenes Geschick. Doch dem Erzähler scheint die Verbindung zu entgehen: "Todd fiel die Art auf, wie der Alte sich von allem distanzierte. Es war, als hielte er seine Worte auf Armeslänge, damit er von ihrer zerstörerischen Kraft verschont blieb." Als Todd dem alten Mann aus Angst vor Spott das Wort abschneidet, ist dessen Gesicht "ernst, müde und alt". Unter der Maske des Landarbeiters wird die Anstrengung sichtbar, die ihm das Heiterkeitstheater abverlangt.
Um das chamäleonhafte Wesen einer Afroamerikanerin geht es auch in "Zwei skalpierte Indianer". Ein farbiger Knabe flüchtet kopflos vor einem Hund und findet sich am Fenster eines abgelegenen Hauses wieder. Fasziniert beobachtet er eine dunkelhäutige Nackte, die sich allein im Tanze wiegt. Erst als sie sich umdreht, erkennt er über dem schönen Körper das Gesicht der alten Mackie, vor deren Hexenkünsten er sich schon lange in acht nimmt. Die Identität der schwarzen Bevölkerung Amerikas ist nach der Sklavenbefreiung in lebensweises Greisentum und jugendlichen Aufbruchswillen zerfallen. Ellisons Geschichten gehen dieser Schizophrenie durch die Konfrontation von Kindern und alten Leuten nach. Ellison zeigt nicht nur die Male der Knechtschaft, sondern auch den Tanz hinter verschlossenen Türen, den Gesang und das Gelächter, durch die sich der schwarze Mann, der für den Part des frommen Engels zu begabt war, seiner Opferrolle entwindet.
Ralph Ellison: "Flying Home und andere Geschichten". Herausgegeben von John F. Callahan. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié. Ammann Verlag, Zürich 1999. 220 S., geb., 39,80 DM.
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