Die Landung der Alliierten in der Normandie, 6. Juni 1944: Das Schicksal Europas hängt von den richtigen Wetterverhältnissen am Englischen Kanal an einem einzigen Tag ab. Ein Team alliierter Wissenschaftler soll sich auf eine akkurate 5-Tage-Vorhersage einigen - doch ist dies überhaupt technisch möglich? Und welchen Einfluß hat die Turbulenz, eine der letzten großen Mysterien der modernen Physik? Allein Wallace Ryman hat ein intelligentes System dafür erfunden, doch der sture Pazifist gibt sein Geheimnis nicht frei. Da wird das junge Mathe-Genie Henry Meadows nach Schottland gesandt, um Rymans System zu enthüllen. Doch bald geraten die Ereignisse - wie das Wetter - außer Kontrolle ...
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.04.2010Der Mann, der so viel wusste
Unser Alliierter sei das Wetter: Giles Fodens turbulenter Wissenschaftler-Roman "Die Geometrie der Wolken" erzählt vom Versuch, das Unberechenbare der Natur und der Geschichte zu zähmen.
Selten war in der Weltgeschichte eine Wettervorhersage entscheidender als jene für den 6. Juni 1944 im Ärmelkanal. Von ihr hing Wohl und Wehe der alliierten Invasion in der Normandie ab. Die Militärs forderten eine präzise Einschätzung fünf Tage vor dem "D-Day". Dabei hatte jede Waffengattung eigene Vorstellungen von "gutem Wetter". Für die Luftlandetruppen musste die Wolkenbasis mindestens dreitausend Fuß hoch liegen; das Heer wünschte sich einen festen, tragfähigen Untergrund, was Regen vor dem Einsatz verhindern würde; und für die Marine durfte ein auflandiger Wind zwölf Meilen pro Stunde nicht überschreiten. Wie war all das zu prognostizieren?
Britische und amerikanische Meteorologen bildeten eine Gruppe, die in hektischen Telefonkonferenzen fast nie zu übereinstimmenden Ergebnissen kam. Dies lag besonders daran, dass die Amerikaner eine Methode verwendeten, die deren Kollegen ablehnten: Sie betrachteten Daten der vergangenen fünfzig Jahre und leiteten daraus die Zukunft ab. Von der Suche nach einer allgemein akzeptierten Lösung in dieser Lage erzählt Giles Fodens historischer Roman. Den einflussreichen britischen Mathematiker und Wetterforscher Lewis Fry Richardson als Vorbild nehmend, konstruiert sein Landsmann Foden eine Handlung, die eine von der Koryphäe entwickelte Zahl ins Zentrum rückt, mit deren Hilfe die Witterung gut voraussagbar ist. Der im Roman Wallace Ryman genannte Mann, der so viel wusste, ist jedoch Pazifist und will seine Erkenntnisse nicht herausrücken. Mithin sendet die Regierung das junge Mathematikgenie Henry Meadows ins ländliche Schottland, wohin Ryman sich für Studien über Krieg und Frieden zurückgezogen hat.
Foden präsentiert die Fakten und Fiktion geschickt kombinierende Handlung als Memoiren, die Meadows 1980 während der Fahrt auf einem "Eisschiff" mit Hilfe alter Notizen zu Papier bringt. Das in der Antarktis konstruierte Vehikel ist auf dem Weg nach Saudi-Arabien, wo es schmelzen und dadurch Süßwasser in die Wüste bringen soll. Den Abschluss des Buches bildet die angebliche Mitschrift einer Ansprache, die ein deutsch-amerikanischer Professor 1984 zum vierzigsten Jahrestag der Invasion hält. Das Thema: die Rückberechnung des Wetters für den D-Day. Deutlich wird, dass die Vorausbestimmungen der Alliierten im Wesentlichen korrekt waren, während die Deutschen im Dunkeln tappten.
Einmal mehr nimmt der 1967 in Warwickshire geborene Foden in Kauf, dass Leser das Ende verbürgter konfliktreicher Momente kennen. Dies war auch der Fall, als es in Romanform um dubiose Taten Idi Amins ging ("Der letzte König von Schottland", deutsch 2001); als von den Anschlägen der Al Qaida in Daressalam und Nairobi die Rede war ("Sansibar", 2003); und als das Augenmerk dem Burenkrieg galt ("Die letzte Stadt von Afrika", 2006). Schafft es der Autor, diese Vorhersehbarkeit vergessen zu machen?
Leider nicht. Doch zweifellos legt er sich mächtig ins Zeug. Zum Beispiel glückt es, die Turbulenz, das die gelehrten Diskurse dominierende physikalische Phänomen, das dem englischen Original des Buches den Titel verlieh, in inneren Monologen Meadows' weitergehend zu nutzen - als Basis von Überlegungen zur Selbsterkenntnis. Und es überrascht und überzeugt fast immer, wenn der Erzähler alles, was ihn umgibt, aus der Sicht und in der Sprache eines Mathematikers beschreibt. Der Held findet etwa, dass es hypnotisierend sei, wie der Kleiderstoff einer Frau, "einem Graphen ähnlich, einer stetigen Funktion", den Linien von Haut und Knochen folgte.
Nach der Lektüre wünscht man sich indes, Foden hätte bei vielem andere Wege eingeschlagen. Es überwiegen doch die erzählerischen Schwächen - die der Literat zwar seiner Herausgeberfiktion zuschreiben könnte; denn welcher Naturwissenschaftler ist auch ein begnadeter Künstler. Aber letztlich zählt, was der Leser vor sich sieht und was ihn bei der Stange hält. Und da wäre es besser gewesen, angesichts etlicher spannender Tatsachen ein solides Sachbuch vorzufinden; ein solches zu verfassen gelang dem Multitalent Foden schon im Falle des ebenso brillant recherchierten Bandes "Die wahre Geschichte der African Queen" (2006). Freilich wäre in jeder Publikation ein Satz wie Meadows' Bekenntnis "Rückwirkend betrachtet, war ich wohl ziemlich melodramatisch" ein Schnitzer gewesen.
Im angelsächsischen Sprachraum haben Alice Munro, Tom Stoppard, Thomas Pynchon, Robert Harris und David Auburn vorgeführt, dass man exzellente "Faction" über Naturwissenschaftler kreieren kann. Wenn Foden in diese Nachbarschaft will, sollte er neben anderem auf Szenen verzichten, die erkennbar danach lechzen, auf Zelluloid zu erscheinen - der Erfolg des Films "Der letzte König von Schottland" (2006) mag den Autor verleitet haben. Obendrein erinnert es an schlechte Krimis, wenn die Hauptperson mit dem Üblichen um Sympathie buhlt - mit großen Schwächen für Zigaretten und Drinks, dauerndem Misserfolg bei Frauen, heftigem Kampf um die Karriere und unerwarteten Gebrechen. Kurzum: So wenig wie das Wetter ist die Unzufriedenheit des Rezensenten ein Zufall. Und so sehr wie das Wetter kann sich diese ändern, wenn die grundlegenden Faktoren neue sind.
THOMAS LEUCHTENMÜLLER.
Giles Foden: "Die Geometrie der Wolken". Roman. Aus dem Englischen von Hannes Meyer. Aufbau Verlag, Berlin 2010. 392 S., geb., 22,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Unser Alliierter sei das Wetter: Giles Fodens turbulenter Wissenschaftler-Roman "Die Geometrie der Wolken" erzählt vom Versuch, das Unberechenbare der Natur und der Geschichte zu zähmen.
Selten war in der Weltgeschichte eine Wettervorhersage entscheidender als jene für den 6. Juni 1944 im Ärmelkanal. Von ihr hing Wohl und Wehe der alliierten Invasion in der Normandie ab. Die Militärs forderten eine präzise Einschätzung fünf Tage vor dem "D-Day". Dabei hatte jede Waffengattung eigene Vorstellungen von "gutem Wetter". Für die Luftlandetruppen musste die Wolkenbasis mindestens dreitausend Fuß hoch liegen; das Heer wünschte sich einen festen, tragfähigen Untergrund, was Regen vor dem Einsatz verhindern würde; und für die Marine durfte ein auflandiger Wind zwölf Meilen pro Stunde nicht überschreiten. Wie war all das zu prognostizieren?
Britische und amerikanische Meteorologen bildeten eine Gruppe, die in hektischen Telefonkonferenzen fast nie zu übereinstimmenden Ergebnissen kam. Dies lag besonders daran, dass die Amerikaner eine Methode verwendeten, die deren Kollegen ablehnten: Sie betrachteten Daten der vergangenen fünfzig Jahre und leiteten daraus die Zukunft ab. Von der Suche nach einer allgemein akzeptierten Lösung in dieser Lage erzählt Giles Fodens historischer Roman. Den einflussreichen britischen Mathematiker und Wetterforscher Lewis Fry Richardson als Vorbild nehmend, konstruiert sein Landsmann Foden eine Handlung, die eine von der Koryphäe entwickelte Zahl ins Zentrum rückt, mit deren Hilfe die Witterung gut voraussagbar ist. Der im Roman Wallace Ryman genannte Mann, der so viel wusste, ist jedoch Pazifist und will seine Erkenntnisse nicht herausrücken. Mithin sendet die Regierung das junge Mathematikgenie Henry Meadows ins ländliche Schottland, wohin Ryman sich für Studien über Krieg und Frieden zurückgezogen hat.
Foden präsentiert die Fakten und Fiktion geschickt kombinierende Handlung als Memoiren, die Meadows 1980 während der Fahrt auf einem "Eisschiff" mit Hilfe alter Notizen zu Papier bringt. Das in der Antarktis konstruierte Vehikel ist auf dem Weg nach Saudi-Arabien, wo es schmelzen und dadurch Süßwasser in die Wüste bringen soll. Den Abschluss des Buches bildet die angebliche Mitschrift einer Ansprache, die ein deutsch-amerikanischer Professor 1984 zum vierzigsten Jahrestag der Invasion hält. Das Thema: die Rückberechnung des Wetters für den D-Day. Deutlich wird, dass die Vorausbestimmungen der Alliierten im Wesentlichen korrekt waren, während die Deutschen im Dunkeln tappten.
Einmal mehr nimmt der 1967 in Warwickshire geborene Foden in Kauf, dass Leser das Ende verbürgter konfliktreicher Momente kennen. Dies war auch der Fall, als es in Romanform um dubiose Taten Idi Amins ging ("Der letzte König von Schottland", deutsch 2001); als von den Anschlägen der Al Qaida in Daressalam und Nairobi die Rede war ("Sansibar", 2003); und als das Augenmerk dem Burenkrieg galt ("Die letzte Stadt von Afrika", 2006). Schafft es der Autor, diese Vorhersehbarkeit vergessen zu machen?
Leider nicht. Doch zweifellos legt er sich mächtig ins Zeug. Zum Beispiel glückt es, die Turbulenz, das die gelehrten Diskurse dominierende physikalische Phänomen, das dem englischen Original des Buches den Titel verlieh, in inneren Monologen Meadows' weitergehend zu nutzen - als Basis von Überlegungen zur Selbsterkenntnis. Und es überrascht und überzeugt fast immer, wenn der Erzähler alles, was ihn umgibt, aus der Sicht und in der Sprache eines Mathematikers beschreibt. Der Held findet etwa, dass es hypnotisierend sei, wie der Kleiderstoff einer Frau, "einem Graphen ähnlich, einer stetigen Funktion", den Linien von Haut und Knochen folgte.
Nach der Lektüre wünscht man sich indes, Foden hätte bei vielem andere Wege eingeschlagen. Es überwiegen doch die erzählerischen Schwächen - die der Literat zwar seiner Herausgeberfiktion zuschreiben könnte; denn welcher Naturwissenschaftler ist auch ein begnadeter Künstler. Aber letztlich zählt, was der Leser vor sich sieht und was ihn bei der Stange hält. Und da wäre es besser gewesen, angesichts etlicher spannender Tatsachen ein solides Sachbuch vorzufinden; ein solches zu verfassen gelang dem Multitalent Foden schon im Falle des ebenso brillant recherchierten Bandes "Die wahre Geschichte der African Queen" (2006). Freilich wäre in jeder Publikation ein Satz wie Meadows' Bekenntnis "Rückwirkend betrachtet, war ich wohl ziemlich melodramatisch" ein Schnitzer gewesen.
Im angelsächsischen Sprachraum haben Alice Munro, Tom Stoppard, Thomas Pynchon, Robert Harris und David Auburn vorgeführt, dass man exzellente "Faction" über Naturwissenschaftler kreieren kann. Wenn Foden in diese Nachbarschaft will, sollte er neben anderem auf Szenen verzichten, die erkennbar danach lechzen, auf Zelluloid zu erscheinen - der Erfolg des Films "Der letzte König von Schottland" (2006) mag den Autor verleitet haben. Obendrein erinnert es an schlechte Krimis, wenn die Hauptperson mit dem Üblichen um Sympathie buhlt - mit großen Schwächen für Zigaretten und Drinks, dauerndem Misserfolg bei Frauen, heftigem Kampf um die Karriere und unerwarteten Gebrechen. Kurzum: So wenig wie das Wetter ist die Unzufriedenheit des Rezensenten ein Zufall. Und so sehr wie das Wetter kann sich diese ändern, wenn die grundlegenden Faktoren neue sind.
THOMAS LEUCHTENMÜLLER.
Giles Foden: "Die Geometrie der Wolken". Roman. Aus dem Englischen von Hannes Meyer. Aufbau Verlag, Berlin 2010. 392 S., geb., 22,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main