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Von 1945 bis 1957 lebten im bayerischen Wolfratshausen im Ortsteil Föhrenwald zeitweise mehr als 5000 Juden, Überlebende des Holocaust - mit Synagogen, Religionsschulen und einer eigenen Universität für Rabbiner. Föhrenwald hatte eine jüdische Selbstverwaltung, eine jiddische Zeitung und eine jüdische Polizei. 1957 wurde Föhrenwald aufgelöst, die Bewohner auf deutsche Großstädte verteilt. Föhrenwald wurde umbenannt und aus dem kollektiven Gedächtnis gelöscht. Der Ort steht exemplarisch für einen weitgehend unbekannten Teil der deutschen Geschichte. Der Autor ist dort aufgewachsen, er hat das…mehr

Produktbeschreibung
Von 1945 bis 1957 lebten im bayerischen Wolfratshausen im Ortsteil Föhrenwald zeitweise mehr als 5000 Juden, Überlebende des Holocaust - mit Synagogen, Religionsschulen und einer eigenen Universität für Rabbiner. Föhrenwald hatte eine jüdische Selbstverwaltung, eine jiddische Zeitung und eine jüdische Polizei. 1957 wurde Föhrenwald aufgelöst, die Bewohner auf deutsche Großstädte verteilt. Föhrenwald wurde umbenannt und aus dem kollektiven Gedächtnis gelöscht. Der Ort steht exemplarisch für einen weitgehend unbekannten Teil der deutschen Geschichte. Der Autor ist dort aufgewachsen, er hat das Schweigen erlebt. Er verwebt die Spurensuche in seiner Heimat mit den Geschichten der Überlebenden - denen, die nach Israel gingen, und denen, die aus dem Land der Täter nicht wegkonnten.

»Ich habe meine gesamte Jugend in einer Art Theaterkulisse verbracht, einer sehr schönen, fast kitschigen Theaterkulisse mit verschneiten Bergen am Horizont, glasklaren Seen, mit malerischen Bauerndörfern und barocken Kirchen. Natürlich war das alles real, aber die Bilder im Kopf bekamen zerschlissene Ränder und fadenscheinige Stellen, als ich herausfand, dass mitten in dieser friedlichen Landschaft ein blinder Fleck war, eine sehr große undurchsichtige Leerstelle, über die nie geredet worden war.«

Alois Berger
Autorenporträt
Alois Berger, Jahrgang 1957, studierte Philosophie und Politik. Er war viele Jahre  EU-Korrespondent der taz in Brüssel sowie Radio- und Fernsehreporter für DLF, WDR und Dokumentarfilmer für ARTE. Er lebt als freier Journalist in Berlin.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Rezensentin Felicitas Amler liest bei Alois Berger interessiert und entrüstet von der Geschichte des jüdischen Stetls "Föhrenwald", in dem in der Nachkriegszeit Tausende jüdische Holocaustüberlebende wohnten - bis es von der katholischen Kirche zwangsgeräumt wurde. Kaum zu fassen, wie ein ganzes Dorf aus dem "kollektiven Gedächtnis" verschwinden kann, so die Rezensentin. Berger hat diese skandalöse Begebenheit "gründlich recherchiert" und ein Buch darüber veröffentlicht, das außerdem zum rechten Zeitpunkt kommt, wie Amler anmerkt: Gerade hat ein Museum eröffnet, das die Geschichte des Stetls aufarbeitet. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde aus einer Siedlung, die die Nazis für Zwangsarbeiter im Wolfratshausener Forst in Bayern errichtet hatten, ein Camp für Displaced Persons, erklärt Amler nach Berger. Das Camp entwickelte sich zu einem Rückzugsort für Juden und Jüdinnen und besaß als Stetl unter anderem bald Synagogen, Kultur-und Sportstätten, Geschäfte und sogar eine eigene Polizei. Viele hätten bleiben wollen, doch der "schwer NS-belastete" Theodor Oberländer übergab als Staatssekretär für Flüchtlingsfragen das Gebiet der katholischen Kirche, die dort deutsche Heimatvertriebenen ansiedelte - 1957 wurden die letzen jüdischen Bewohner des Stetls "zwangsweise auslogiert", liest Amler bei Berger.


© Perlentaucher Medien GmbH…mehr

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.05.2023

Woher kommt dieser blinde Fleck in der eigenen Geschichte?
Schikaniert von der Polizei, bedroht von Seuchen und Hunger: Alois Berger rekapituliert die Geschichte des Lagers Föhrenwald

Man kann es mit Umbenennung versuchen. Manchmal klappt das eine Weile, aber irgendwann kommt jemand und will es genauer wissen. So auch in Waldram, einem Stadtteil von Wolfratshausen. Während des Zweiten Weltkriegs entstand hier eine Wohnsiedlung für die Arbeiter der Rüstungsindustrie. Später kamen Zwangsarbeiterinnen hinzu, von den Einheimischen "Kanarienvögel" genannt, weil das Hantieren mit Giftstoffen ihre Haut und Haare gelb gesprenkelt hatte. Juden tauchen in dieser Geschichte erst auf, als die Nationalsozialisten die letzten KZ-Insassen aus Dachau auf den Todesmärschen in Richtung Gebirge trieben.

Die Alliierten hatten schon während des Krieges für verschleppte und gestrandete Zivilisten, die nicht in ihre Heimat zurückkehren konnten, den Begriff "Displaced Persons" (DP) gewählt. Viele Osteuropäer wollten nicht zurück, ihr Hass auf Deutschland besiegte nicht die Angst vor Stalin, der sie mit dem Generalverdacht, sie seien Kollaborateure gewesen, bedrohte. Auf Betreiben der amerikanischen Besatzungsmacht wurden in Bayern Juden in eigenen DP-Lagern untergebracht. So kam es, dass aus der nationalsozialistischen Mustersiedlung das Lager Föhrenwald wurde, das größte Schtetl Europas, in dem mehrere Tausend Juden lebten. Nie zuvor, schreibt Alois Berger in seiner Recherche, habe es so viele Juden in Bayern gegeben wie 1947 - "zwei Jahre nach dem Ende der Judenvernichtung".

Föhrenwald war das am längsten existierende Lager. 1957 wurde das Areal an die katholische Kirche verkauft, die dort ausschließlich katholische Familien mit möglichst vielen Kindern ansiedelte. Die Juden wurden verdrängt, zur Übersiedlung nach München, Frankfurt und Düsseldorf gezwungen; die Straßen des "Judenlagers" wurden umbenannt, der Ortsname geändert. Waldram, das war der Name des ersten Abts von Kloster Benediktbeuern. Dann begann das kollektive Beschweigen.

Indem er diese Geschichte aufschrieb, verlieh der 1957 in Wolfratshausen geborene Journalist Alois Berger - er arbeitete viele Jahre als Korrespondent für verschiedene Medien in Brüssel - seiner "Fassungslosigkeit" Ausdruck. Selbst streng katholisch erzogen, treibt ihn die Frage um: Woher kommt dieser blinde Fleck in der eigenen Geschichte? Denn anders als am Ort des Geschehens ist die Geschichte Föhrenwalds in der internationalen Forschungsliteratur gut dokumentiert. Und anders als die Deutschen, die dieses Kapitel verdrängten, haben alle, die je in Föhrenwald lebten, ihre Zeit dort nie vergessen, auch wenn sich in ihren Erzählungen unterschiedliche Wahrnehmungen zeigen.

Berger hat fünfzig Interviews mit Zeitzeugen in Israel und Deutschland geführt. Er gibt ihren Erinnerungen Raum, auch wenn sich diese gelegentlich in den Befunden wiederholen. Zunächst war Föhrenwald ein Sammelbecken für das Ostjudentum, das dort endlich wieder ungehindert seinen Glauben inklusive aller religiösen Riten leben konnte - mithilfe von "Shabbes-Gojim", deutschen Mädchen, die am Schabbat in den Rabbiner-Wohnungen Feuer machten und dafür sorgten, dass es nicht ausging.

Diese patriarchale Kultur des Schtetls kam unter Druck, als der Zionismus immer mehr Anhänger gewann. Föhrenwald wurde, zumal von 1948 an, dem Jahr der Staatsgründung Israels, zum "Wartesaal" für Auswanderer. Dabei prallten im Lager die Anhänger des chassidischen "Rebbe von Klausenburg", Yekusiel Yehuda Halberstam, dessen Frau und zehn seiner elf Kinder die Nazis ermordet hatten, mit den Parteigängern des liberalen Gedalyahu "Gustav" Lachman aufeinander, der im Zionismus die Zukunft sah. Sein Ziel war es, möglichst viele (junge) Juden nach Israel zu bringen.

Der Autor unternimmt Exkurse in die an grausamen Widersprüchen kaum zu überbietende Geschichte des jüdischen Neuanfangs, berichtet von einem Trainingscamp der paramilitärischen Untergrundorganisation Haganah im benachbarten Königsdorf. Er berichtet über den Besuch Ben Gurions, der vorschlug, die Gegend rund um Starnberger See und Ammersee in ein neues Israel zu verwandeln. Er zeigt den Slalomkurs deutscher Politiker und Behörden im Umgang mit der Besatzungsmacht, verfolgt braune Kontinuitäten, wie sie sich etwa in der Person des bayerischen Innen-Staatssekretärs und späteren Bundesministers für die Angelegenheiten der Vertriebenen, Theodor Oberländer, kristallisierten.

Berger erinnert stets daran, wie prekär die Lage der Föhrenwalder war, schikaniert von der Polizei, bedroht von Seuchen und Hunger. Anhand von Einzelschicksalen evoziert er die Atmosphäre im Lager, so etwa in der Person des ehemaligen F.A.Z.-Redakteurs Anton Jakob Weinberger, der schildert, wie die Juden gegen die Sudetendeutschen ausgespielt wurden. Nach dem Krieg sei den vertriebenen Schlesiern, Ostpreußen und Sudeten die eigene Opferrolle wichtiger gewesen. Es sei zu einer regelrechten "Opferrivalität" gekommen - wenn Juden das ehemalige Lager Föhrenwald besuchten, sei ihnen häufig die Tür gewiesen worden. Derweil verschanzten sich die Einheimischen hinter der Behauptung, Hitlers größtes Verbrechen sei die Verfolgung der katholischen Kirche gewesen und dass er den Krieg vom Zaun gebrochen hat.

Der Rest war Schweigen, komprimiert in der Formel "Das war halt so". Bis vor fünf Jahren ein Verein geschichtsbewusster Bürger den Erinnerungsort Badehaus in Waldram einrichtete, ein Museum in einem Gebäude, das einst als Mikwe diente. Alois Berger flankiert die Arbeit vor Ort, indem er Lokal- mit Weltgeschichte verknüpft und so dazu beiträgt, den blinden Fleck im Loisachtal auszuleuchten. HANNES HINTERMEIER

Alois Berger: "Föhrenwald, das vergessene Schtetl". Ein verdrängtes Kapitel deutsch-jüdischer Nachkriegsgeschichte.

Piper Verlag, München 2023. 240 S., Abb., geb.,

24,- Euro.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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»Alois Berger flankiert die Arbeit vor Ort, indem er Lokal- mit Weltgeschichte verknüpft und so dazu beiträgt, den blinden Fleck im Loisachtal auszuleuchten.« Frankfurter Allgemeine Zeitung 20230512