Es war Fontanes gefährlichste Reise. Der Schriftsteller und Journalist wurde im Herbst 1870 bei seiner Recherche über den Deutsch-Französischen Krieg als preußischer Spion verhaftet und musste fürchten, von einem Kriegsgericht zum Tode verurteilt zu werden. Dass er letztlich freikam, verdankte er dem diplomatischen Ränkespiel, in das auch Bismarck verwickelt war.Gabriele Radecke und Robert Rauh erzählen den spektakulären Fall aus zwei Perspektiven: Fontanes dramatische Odyssee durch Frankreichs Festungen und die verzweifelten Rettungsbemühungen seiner Freunde in Berlin. Dabei nehmen sie den Leser nicht nur mit zu den Originalschauplätzen, sondern decken anhand unbekannter Notizen, Briefe und Dokumente auf, was Fontane in seinem autobiografischen Buch »Kriegsgefangen« verschweigt.»Die Fontane-Experten Gabriele Radecke und Robert Rauh schöpfen aus dem Vollen. Und erwecken in ihren Büchern Fontane zu neuem Leben.«der tagesspiegel
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Rezensent Harry Nutt erfährt aus Gabriele Radeckes und Robert Rauhs Buch, das Fontanes Bericht über seine Erlebnisse im Deutsch-Französischen Krieg mit den Realitäten abgleicht, einiges über Fontane spielerischen Umgang mit den Fakten, aber auch über den Krieg und die Diplomatie der Zeit. Wie Fontane möglicherweise auf Betreiben Bismarcks seiner Erschießung entging, rekonstruieren die Autoren laut Nutt mittels "detektivischer Recherche".
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 25.11.2020Mit unbegreiflichem Leichtsinn
1870 wurde Theodor Fontane als Spion in Frankreich verhaftet. Wie er dort dem Tod entging
Das hätte schiefgehen können. Theodor Fontane, prominenter Feuilletonist, Reiseschriftsteller und Kriegsberichterstatter war seit den ersten Oktobertagen 1870 in Frankreich unterwegs, um sich persönliche Anschauung von den Schauplätzen des laufenden Kriegs zu verschaffen. Denn auch der letzte der erst später sogenannten preußisch-deutschen Einigungskriege sollte so aktuell wie möglich eine Darstellung bekommen – der Buchvertrag war schon geschlossen.
Außerdem hatte er sich in den Kopf gesetzt, in Domrémy das Geburtshaus der Johanna von Orléans, der berühmten Jeanne d’Arc, zu besuchen. Schließlich war er soeben auch zum hauptamtlichen Theaterkritiker der Berliner Vossischen Zeitung ernannt worden, Schiller-Verse lagen einem da immer auf den Lippen.
Ein kleines Problem bestand darin, dass Domrémy noch nicht im besetzten Bereich der deutschen Truppen lag, dass Fontane also hinter die Linien musste. Zu seiner Sicherheit führte er eine Handfeuerwaffe bei sich. Der Leichtsinn wirkt so charmant wie unbegreiflich: Mit Notizblock streift ein preußischer Schriftsteller durch eine französische Stadt, erkundigt sich über die Sehenswürdigkeiten, möchte in einem Gasthof etwas zu sich nehmen, während wenige Kilometer entfernt die Front verläuft. Wenig überraschend ist also, dass der verdächtige Fremde, dessen Waffe bald entdeckt wurde, verhaftet und damit vor gefährlichem Volkszorn bewahrt wurde.
So stellen es Gabriele Radecke und Robert Rauh in einer minutiösen und unterhaltsamen Studie dar, die sich als fortlaufender Kommentar zu Fontanes Bericht „Kriegsgefangen“ lesen lässt, den sie dabei immer wieder sacht korrigieren. Fontane selbst nämlich kaschierte seine Hauptdummheit, den Besuch des Gasthofs, wo er einer aufgebrachten Bevölkerung erst richtig auffallen konnte. Vermutlich haben die ihn abführenden „Franctireurs“, jene Freischärler, die nach dem Zusammenbruch der kaiserlichen Armee in Frankreich einen dezentralen Volkskrieg einleiteten, Fontane vor Schlimmerem bewahrt. Denn oft wurde mit vermeintlichen „Spionen“ auch kurzer Prozess gemacht.
Für Fontane begann nun eine fast zweimonatige Gefangenschaft mit einer Odyssee durch mehrere Gefängnisse und Festungen unter zuweilen mehr als unkomfortablen Umständen: Ratten, Massenunterkünfte, Todesangst. Allmählich dämmerte dem naiven Glückskind, dass sein Leben ganz regulär auf dem Spiel stand, nämlich wenn die kriegsgerichtliche Überprüfung seine Unschuld nicht erweisen, er also vom Vorwurf der Spionage nicht freigesprochen werden würde. Dafür gab es zwar keinen Lynchmord (so wie ihn Émile Zola in seinem Roman „Der Zusammenbruch“ mit kaum erträglicher Grausamkeit ausmalt), aber doch Erschießung. Der Unterschied zwischen einem Spion und einem verträumten Reporter mit historischen Interessen ist in einer solchen Situation nur mit bewaffnetem Auge erkennbar.
Insofern ist der Untertitel des Büchleins „Wie der Dichter in Frankreich dem Tod entging“ zutreffend. Dies entschied sich allerdings schon nach anderthalb Wochen, als Fontane in Besançon, wohin er unterdes über mehrere Zwischenaufenthalte verfrachtet worden war, in einem regulären Prozess vom Vorwurf der Spionage freigesprochen wurde. Leider fehlen die Akten dieses Verfahrens, und auch Radecke und Rauh, die sonst allerlei bisher unbekanntes Zusatzmaterial aus den Archiven auftreiben konnten, fanden sie nicht.
Dafür haben sie alle Lokalitäten bereist und konnten, wo noch vorhanden, sogar die von Fontane bewohnten Räumlichkeiten eruieren und betreten. Nur an dem Ort seines längsten Aufenthalts, auf der Insel Oléron im Atlantik, geht das nicht, denn die dortige Festung fiel dem Zweiten Weltkrieg zum Opfer. Dabei zeigt sich bei aller Korrekturfreude der Forscher doch, wie genau der immer mitschreibende und -zeichnende Fontane seine Umgebungen darstellt: Vorbildliche Reporterarbeit ist das. Die Ausmalungen und eher leichten Verformungen, die die Autoren ausmachen, betreffen Fontanes Selbstdarstellung und vor allem den ihm auf Oléron dienenden „Burschen“ Rasumofsky, der wohl in Wirklichkeit Rogerowski hieß, eine farbig charakterisierte Figur in dem Buch „Kriegsgefangen“.
Denn schon in Besançon war Fontane ein Upgrade zum „officier supérieur“ gegönnt worden, was ihm fortan eine fast komfortable Behandlung sicherte. Diese Erleichterung hatte er dem örtlichen Erzbischof Kardinal Césaire Mathieu zu verdanken, eines sogar der deutschen Sprache mächtigen Kirchenfürsten mit direkten und indirekten Verbindungen zu Berliner katholischen Freunden Fontanes.
Der größere Teil der Untersuchung gilt jenen Netzwerken, die von Berlin aus Fontanes Freilassung betrieben. Das liest sich wie ein Parallelbuch zu „Kriegsgefangen“, wie eine veritable zweite Hälfte, die den ganzen Vorgang erst verständlich macht. „Wer hat mich befreit?“, fragte sich Fontane bis ans Lebensende. „Die Katholische Partei, die Judenpartei oder die Regierungspartei?“ Damit sind die drei Stränge benannt, auf denen parallel daran gearbeitet wurde, den zwar vor dem Tod geretteten, aber weiter inhaftierten Schriftsteller nach Berlin zurückzuholen.
Der katholische Strang lief von der Familie von Wangenheim (aus Hohenzollern-Sigmaringen) über eine Schweizer Zwischenstation in den erzbischöflichen Palast von Besançon. Der jüdische – oder israelitische, wie man damals auch sagte – von Moritz Lazarus, einem Freund Fontanes aus der Künstlervereingung „Rütli“ (Vereinsname Fontanes: Nöhl) über den Schweizer Bundespräsidenten bis zum französischen Justizminister Isaac Adolphe Crémieux. Den Regierungsstrang aktivierten sein Verleger, ein weiterer Freund aus dem „Rütli“ und womöglich eine mit Johanna von Bismarck befreundete Bekannte von Fontanes Schwester. Kirche, Verein, Salon, Diplomatie – alles wirkte zusammen, um Fontanes Frau Emilie, die schwer geängstigte „Nöhlin“, zu beruhigen.
Das ist ziemlich verwickelt, und man muss die Macher des Buches sehr dafür loben, dass sie mit einem Personenverzeichnis und einer Infografik den komplexen Vorgang übersichtlich machen. Am Ende hat wohl doch Graf Bismarck durch seine Demarche über den amerikanischen Botschafter in Paris den Fall zur Entscheidung getrieben. Denn auch Justizminister Crémieux vermochte nichts ohne Kriegsminister Léon Gambetta, den neuen starken Mann Frankreichs, den Organisator des Volkskriegs. Gambetta war bereit, Fontane „auf Ehrenwort“, also offiziersmäßig, zu entlassen, wenn er sich verpflichte, in dem laufenden Krieg in Tat und Wort nichts gegen Frankreich zu unternehmen – eine damals übliche Prozedur. Sogar ein von Fontane selbst verfasster Lebenslauf landete dafür auf Gambettas Schreibtisch.
Allerdings erhoffte die französische Regierung sich im Austausch einen gefangenen französischen Offizier gleichen Ranges. Doch hier blieben die Preußen unnachgiebig, trotz Fontanes eigenen Bitten. Im Gegenteil ließ Bismarck in Domrémy drei wohlhabende Bürger als Geiseln verhaften, um der Forderung nach Fontanes Freilassung Nachdruck zu verleihen. Der Hintergrund dafür war auch die Verärgerung über die gleichzeitige Gefangennahme deutscher Handelskapitäne, also von Nicht-Kombattanten, durch die Franzosen.
Und hier ist auch der einzige Einwand, den man gegen die in allen Aspekten so präzise Recherche erheben muss: Die kriegsvölkerrechtlichen Hintergründe werden zu summarisch dargestellt. Kriegsgefangenschaft, lange ein Nebenthema des europäischen Kriegsrechts, wurde im 19. Jahrhundert immer wichtiger. 1870/71 ging es schon um Zehntausende Menschen. Es handelte sich überwiegend um ein Gewohnheitsrecht, das zwar schon kodifiziert, aber noch nicht in internationalen Konventionen anerkannt worden war. Was galt hier? Das sollte man erfahren, um den Sonderfall zu verstehen.
Für diesen Aspekt seines persönlichen Erlebens zeigt Fontane immer wieder ein geschärftes Bewusstsein, so wenn er beim Abschied von Oléron seine zurückbleibenden Mitgefangenen zum Trost an das Schicksal der Franzosen in Deutschland erinnert, denen es gewiss nicht besser gehe. Überhaupt ist das kleine Buch „Kriegsgefangen“ eines der besten Fontanes, wie auch sein zweites, so gut wie unbekanntes Frankreichbuch „Aus den Jahren der Occupation“, das er ein halbes Jahr später über seine nächste, weniger abenteuerliche Erkundungstour schrieb. Frankreich ist halt ein ebenso interessanter Stoff wie Brandenburg, die Kathedrale von Reims womöglich sogar dem Kloster Lehnin überlegen.
Vor allem hat Fontane sich an das Ehrenwort gehalten, nicht Böses über die Feinde zu sagen. Die Fähigkeit, „gut national“ und doch „gute Freunde mitten im Krieg“ zu bleiben, macht diese Bücher so schön. Denn dieses „gute Freunde bleiben“ ist ja mehr wert, wenn das „gut national sein“ noch Gewicht hat. Auf der unbegleiteten Heimreise stand Fontane tagelang Furcht und Zittern vor möglichem Volkszorn aus. Dem Land der Revolution traute er das „à la lanterne“ jeden Augenblick zu – nicht zu Unrecht, wie etliche Novellen Maupassants zeigen. Es war ein freundlicher Franzose in einem Bahnhofswartesaal, der Fontane die entscheidenden Ratschläge gab: keine Aufenthalte, immer erster Klasse. „Sein ceterum censeo aber war: ,schlafen Sie viel, lesen Sie viel, sprechen Sie wenig‘.“
GUSTAV SEIBT
Gabriele Radecke, Robert Rauh: Fontanes Kriegsgefangenschaft. Wie der Dichter in Frankreich dem Tod entging. Be.bra Verlag, Berlin 2020. 192 Seiten, 22 Euro.
Allmählich dämmerte dem naiven
Glückskind, dass sein Leben
ganz regulär auf dem Spiel stand
Ein Lefaucheux M 1858 – mit einem solchen Revolver war Fontane an der Front unterwegs. Das Original ist verschollen.
Foto: Archiv Rauh
Nichts Böses über die Feinde, an dieses Ehrenwort hat sich der Schriftsteller immer gehalten: Theodor Fontane.
Foto: DPA
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1870 wurde Theodor Fontane als Spion in Frankreich verhaftet. Wie er dort dem Tod entging
Das hätte schiefgehen können. Theodor Fontane, prominenter Feuilletonist, Reiseschriftsteller und Kriegsberichterstatter war seit den ersten Oktobertagen 1870 in Frankreich unterwegs, um sich persönliche Anschauung von den Schauplätzen des laufenden Kriegs zu verschaffen. Denn auch der letzte der erst später sogenannten preußisch-deutschen Einigungskriege sollte so aktuell wie möglich eine Darstellung bekommen – der Buchvertrag war schon geschlossen.
Außerdem hatte er sich in den Kopf gesetzt, in Domrémy das Geburtshaus der Johanna von Orléans, der berühmten Jeanne d’Arc, zu besuchen. Schließlich war er soeben auch zum hauptamtlichen Theaterkritiker der Berliner Vossischen Zeitung ernannt worden, Schiller-Verse lagen einem da immer auf den Lippen.
Ein kleines Problem bestand darin, dass Domrémy noch nicht im besetzten Bereich der deutschen Truppen lag, dass Fontane also hinter die Linien musste. Zu seiner Sicherheit führte er eine Handfeuerwaffe bei sich. Der Leichtsinn wirkt so charmant wie unbegreiflich: Mit Notizblock streift ein preußischer Schriftsteller durch eine französische Stadt, erkundigt sich über die Sehenswürdigkeiten, möchte in einem Gasthof etwas zu sich nehmen, während wenige Kilometer entfernt die Front verläuft. Wenig überraschend ist also, dass der verdächtige Fremde, dessen Waffe bald entdeckt wurde, verhaftet und damit vor gefährlichem Volkszorn bewahrt wurde.
So stellen es Gabriele Radecke und Robert Rauh in einer minutiösen und unterhaltsamen Studie dar, die sich als fortlaufender Kommentar zu Fontanes Bericht „Kriegsgefangen“ lesen lässt, den sie dabei immer wieder sacht korrigieren. Fontane selbst nämlich kaschierte seine Hauptdummheit, den Besuch des Gasthofs, wo er einer aufgebrachten Bevölkerung erst richtig auffallen konnte. Vermutlich haben die ihn abführenden „Franctireurs“, jene Freischärler, die nach dem Zusammenbruch der kaiserlichen Armee in Frankreich einen dezentralen Volkskrieg einleiteten, Fontane vor Schlimmerem bewahrt. Denn oft wurde mit vermeintlichen „Spionen“ auch kurzer Prozess gemacht.
Für Fontane begann nun eine fast zweimonatige Gefangenschaft mit einer Odyssee durch mehrere Gefängnisse und Festungen unter zuweilen mehr als unkomfortablen Umständen: Ratten, Massenunterkünfte, Todesangst. Allmählich dämmerte dem naiven Glückskind, dass sein Leben ganz regulär auf dem Spiel stand, nämlich wenn die kriegsgerichtliche Überprüfung seine Unschuld nicht erweisen, er also vom Vorwurf der Spionage nicht freigesprochen werden würde. Dafür gab es zwar keinen Lynchmord (so wie ihn Émile Zola in seinem Roman „Der Zusammenbruch“ mit kaum erträglicher Grausamkeit ausmalt), aber doch Erschießung. Der Unterschied zwischen einem Spion und einem verträumten Reporter mit historischen Interessen ist in einer solchen Situation nur mit bewaffnetem Auge erkennbar.
Insofern ist der Untertitel des Büchleins „Wie der Dichter in Frankreich dem Tod entging“ zutreffend. Dies entschied sich allerdings schon nach anderthalb Wochen, als Fontane in Besançon, wohin er unterdes über mehrere Zwischenaufenthalte verfrachtet worden war, in einem regulären Prozess vom Vorwurf der Spionage freigesprochen wurde. Leider fehlen die Akten dieses Verfahrens, und auch Radecke und Rauh, die sonst allerlei bisher unbekanntes Zusatzmaterial aus den Archiven auftreiben konnten, fanden sie nicht.
Dafür haben sie alle Lokalitäten bereist und konnten, wo noch vorhanden, sogar die von Fontane bewohnten Räumlichkeiten eruieren und betreten. Nur an dem Ort seines längsten Aufenthalts, auf der Insel Oléron im Atlantik, geht das nicht, denn die dortige Festung fiel dem Zweiten Weltkrieg zum Opfer. Dabei zeigt sich bei aller Korrekturfreude der Forscher doch, wie genau der immer mitschreibende und -zeichnende Fontane seine Umgebungen darstellt: Vorbildliche Reporterarbeit ist das. Die Ausmalungen und eher leichten Verformungen, die die Autoren ausmachen, betreffen Fontanes Selbstdarstellung und vor allem den ihm auf Oléron dienenden „Burschen“ Rasumofsky, der wohl in Wirklichkeit Rogerowski hieß, eine farbig charakterisierte Figur in dem Buch „Kriegsgefangen“.
Denn schon in Besançon war Fontane ein Upgrade zum „officier supérieur“ gegönnt worden, was ihm fortan eine fast komfortable Behandlung sicherte. Diese Erleichterung hatte er dem örtlichen Erzbischof Kardinal Césaire Mathieu zu verdanken, eines sogar der deutschen Sprache mächtigen Kirchenfürsten mit direkten und indirekten Verbindungen zu Berliner katholischen Freunden Fontanes.
Der größere Teil der Untersuchung gilt jenen Netzwerken, die von Berlin aus Fontanes Freilassung betrieben. Das liest sich wie ein Parallelbuch zu „Kriegsgefangen“, wie eine veritable zweite Hälfte, die den ganzen Vorgang erst verständlich macht. „Wer hat mich befreit?“, fragte sich Fontane bis ans Lebensende. „Die Katholische Partei, die Judenpartei oder die Regierungspartei?“ Damit sind die drei Stränge benannt, auf denen parallel daran gearbeitet wurde, den zwar vor dem Tod geretteten, aber weiter inhaftierten Schriftsteller nach Berlin zurückzuholen.
Der katholische Strang lief von der Familie von Wangenheim (aus Hohenzollern-Sigmaringen) über eine Schweizer Zwischenstation in den erzbischöflichen Palast von Besançon. Der jüdische – oder israelitische, wie man damals auch sagte – von Moritz Lazarus, einem Freund Fontanes aus der Künstlervereingung „Rütli“ (Vereinsname Fontanes: Nöhl) über den Schweizer Bundespräsidenten bis zum französischen Justizminister Isaac Adolphe Crémieux. Den Regierungsstrang aktivierten sein Verleger, ein weiterer Freund aus dem „Rütli“ und womöglich eine mit Johanna von Bismarck befreundete Bekannte von Fontanes Schwester. Kirche, Verein, Salon, Diplomatie – alles wirkte zusammen, um Fontanes Frau Emilie, die schwer geängstigte „Nöhlin“, zu beruhigen.
Das ist ziemlich verwickelt, und man muss die Macher des Buches sehr dafür loben, dass sie mit einem Personenverzeichnis und einer Infografik den komplexen Vorgang übersichtlich machen. Am Ende hat wohl doch Graf Bismarck durch seine Demarche über den amerikanischen Botschafter in Paris den Fall zur Entscheidung getrieben. Denn auch Justizminister Crémieux vermochte nichts ohne Kriegsminister Léon Gambetta, den neuen starken Mann Frankreichs, den Organisator des Volkskriegs. Gambetta war bereit, Fontane „auf Ehrenwort“, also offiziersmäßig, zu entlassen, wenn er sich verpflichte, in dem laufenden Krieg in Tat und Wort nichts gegen Frankreich zu unternehmen – eine damals übliche Prozedur. Sogar ein von Fontane selbst verfasster Lebenslauf landete dafür auf Gambettas Schreibtisch.
Allerdings erhoffte die französische Regierung sich im Austausch einen gefangenen französischen Offizier gleichen Ranges. Doch hier blieben die Preußen unnachgiebig, trotz Fontanes eigenen Bitten. Im Gegenteil ließ Bismarck in Domrémy drei wohlhabende Bürger als Geiseln verhaften, um der Forderung nach Fontanes Freilassung Nachdruck zu verleihen. Der Hintergrund dafür war auch die Verärgerung über die gleichzeitige Gefangennahme deutscher Handelskapitäne, also von Nicht-Kombattanten, durch die Franzosen.
Und hier ist auch der einzige Einwand, den man gegen die in allen Aspekten so präzise Recherche erheben muss: Die kriegsvölkerrechtlichen Hintergründe werden zu summarisch dargestellt. Kriegsgefangenschaft, lange ein Nebenthema des europäischen Kriegsrechts, wurde im 19. Jahrhundert immer wichtiger. 1870/71 ging es schon um Zehntausende Menschen. Es handelte sich überwiegend um ein Gewohnheitsrecht, das zwar schon kodifiziert, aber noch nicht in internationalen Konventionen anerkannt worden war. Was galt hier? Das sollte man erfahren, um den Sonderfall zu verstehen.
Für diesen Aspekt seines persönlichen Erlebens zeigt Fontane immer wieder ein geschärftes Bewusstsein, so wenn er beim Abschied von Oléron seine zurückbleibenden Mitgefangenen zum Trost an das Schicksal der Franzosen in Deutschland erinnert, denen es gewiss nicht besser gehe. Überhaupt ist das kleine Buch „Kriegsgefangen“ eines der besten Fontanes, wie auch sein zweites, so gut wie unbekanntes Frankreichbuch „Aus den Jahren der Occupation“, das er ein halbes Jahr später über seine nächste, weniger abenteuerliche Erkundungstour schrieb. Frankreich ist halt ein ebenso interessanter Stoff wie Brandenburg, die Kathedrale von Reims womöglich sogar dem Kloster Lehnin überlegen.
Vor allem hat Fontane sich an das Ehrenwort gehalten, nicht Böses über die Feinde zu sagen. Die Fähigkeit, „gut national“ und doch „gute Freunde mitten im Krieg“ zu bleiben, macht diese Bücher so schön. Denn dieses „gute Freunde bleiben“ ist ja mehr wert, wenn das „gut national sein“ noch Gewicht hat. Auf der unbegleiteten Heimreise stand Fontane tagelang Furcht und Zittern vor möglichem Volkszorn aus. Dem Land der Revolution traute er das „à la lanterne“ jeden Augenblick zu – nicht zu Unrecht, wie etliche Novellen Maupassants zeigen. Es war ein freundlicher Franzose in einem Bahnhofswartesaal, der Fontane die entscheidenden Ratschläge gab: keine Aufenthalte, immer erster Klasse. „Sein ceterum censeo aber war: ,schlafen Sie viel, lesen Sie viel, sprechen Sie wenig‘.“
GUSTAV SEIBT
Gabriele Radecke, Robert Rauh: Fontanes Kriegsgefangenschaft. Wie der Dichter in Frankreich dem Tod entging. Be.bra Verlag, Berlin 2020. 192 Seiten, 22 Euro.
Allmählich dämmerte dem naiven
Glückskind, dass sein Leben
ganz regulär auf dem Spiel stand
Ein Lefaucheux M 1858 – mit einem solchen Revolver war Fontane an der Front unterwegs. Das Original ist verschollen.
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Nichts Böses über die Feinde, an dieses Ehrenwort hat sich der Schriftsteller immer gehalten: Theodor Fontane.
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