30 Jahre nach dem Fall der Mauer und dem Zusammenbruch des kommunistischen Ostblocks, mit dem sich im Westen große Hoffnungen auf eine gleichermaßen freiheitliche und friedliche Welt verbanden, stellt sich die internationale Staatenwelt in einem Zustand gefährlicher Instabilität und zunehmender Spannungen dar, in dem viele alte Gewissheiten keine Gültigkeit mehr haben. Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass die Außenpolitik wieder zum Gegenstand einer Debatte geworden ist: Wie sollte sie im 21. Jahrhundert aussehen und welche Ziele sollte sie verfolgen? Dieser Essay beansprucht nicht, eine erschöpfende Antwort auf diese Fragen zu geben. Sein Autor, Romanistikprofessor an der Universität Duisburg-Essen, gibt sich aber auch nicht mit der schon von Alt-Bundespräsident Joachim Gauck erhobenen Forderung zufrieden, Deutschland solle sich stärker noch als bisher in der Welt engagieren und mehr Verantwortung übernehmen. Vielmehr wirft der Essay einen kritischen Blick auf die theoretischen Grundlagen eines solchen Engagements und plädiert für einen neuen Realismus in der Außenpolitik.The western world initially greeted the fall of the Berlin Wall and the eventual collapse of the Communist Eastern Bloc with great hopes for an equally liberal and peaceful world. Today, thirty years after the fact, and with many of the old certainties gone, the international world of states finds itself in a state of dangerous instability and increasing tensions. Against this background, it is not surprising that foreign policy has once again become the subject of a debate: what should it look like in the 21st century and what goals should it pursue? This essay does not claim to give an exhaustive answer to these questions. Neither is its author, Professor of Romance Languages at the University of Duisburg-Essen, satisfied with the demand recently made by the Former German Head of State Joachim Gauck, challenging Germany to thoroughly enhance its involvement in the world and assume a higher degree of responsibility that it did in the past. Rather, the essay takes a critical look at the theoretical foundations of such an involvement and argues for a new realism in foreign policy.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.02.2019In die Moderne führt nicht nur der Weg des Westens
Mit Realismus ist Politik immer gut beraten: Volker Steinkamp formuliert Maximen für die Außenpolitik
Dieser Essay ist ein Plädoyer für einen "neuen Realismus" in der Außenpolitik. Er verwirft eine "missionierende" (westliche) Außenpolitik auf der Grundlage des Konzepts universaler Menschenrechte, distanziert sich aber auch von einer Realpolitik, die einzig auf Machtspielen beruht. Das scheint eine vernünftige Position zu sein, denn das berühmte Kalkül, dass die Feinde meines Feindes meine Freunde seien, ist oft widerlegt worden oder hat fatale Folgen gezeitigt: Waffen, die einst einer Kriegspartei geliefert wurden, zielten dann auch schon einmal auf die ehemaligen Lieferanten, man denke nur an die Mudschahedin in Afghanisten, die von Verbündeten der Amerikaner im Kampf gegen die Sowjets zu ihren Gegnern wurden.
Andererseits sind die Versuche, in Afghanistan oder im Irak mittels militärischer Intervention einen "regime change" herbeizuführen und "nation building" zu initiieren, um Frieden zu schaffen oder gar die Welt besser zu machen, gescheitert; Libyen ist dafür ein weiteres Beispiel. Im Falle Syriens haben die Vereinigten Staaten daraus die Konsequenz gezogen, ihre Einmischung in den dortigen Bürgerkrieg auf ein Minimum zu reduzieren, nämlich auf Luftschläge gegen militärische Infrastruktur als Vergeltung für den Einsatz von Giftgas gegen die Zivilbevölkerung durch das Assad-Regime. Hat das die Dinge besser gemacht?
Peter Steinkamp lehnt Interventionen nicht strikt ab. Er sieht sie allerdings als Ausnahmen, "wenn in einem Staat Völkermord, Massaker an der Bevölkerung oder andere schwere Menschenrechtsverletzungen großen Ausmaßes unmittelbar drohen", und will sie in diesem Fall "darauf beschränken, das menschenwürdige Überleben der gefährdeten Menschen zu ermöglichen". Der Fall Syriens zeigt eklatant, dass dies ohne einen Sturz des Assad-Regimes, also eine massive militärische Intervention, offensichtlich nicht möglich war. Allerdings ist es genauso wahrscheinlich, dass es auch ohne Assad bei den Kämpfen zwischen rivalisierenden militärischen Widerstandsgruppen, inklusive des "Islamischen Staates", in Syrien zu schweren Menschenrechtsverletzungen gekommen wäre. Das nennt man ein Dilemma, und auch ein "neuer Realismus" in der Außenpolitik hat dann keine Antwort auf die Frage: Was tun?
Überhaupt baut das Plädoyer gegen einen vom Westen betriebenen missionarischen Universalismus der Menschenrechte in der Außenpolitik im Grund einen Popanz auf. Wer glaubt ernsthaft, dass der Einmarsch der Amerikaner in Afghanistan oder im Irak einzig auf dieser normativen Grundlage beruhte? Das verwechselt die öffentlich deklarierte Begründung von Politik mit ihren realpolitischen Motiven. Die Intervention in Afghanistan ist nur zu erklären aus dem Schock des 11. September 2001. Und bei dem Einmarsch in den Irak ging es um das prekäre strategische Gleichgewicht im Mittleren Osten und die Sicherheit der Ölversorgung am Persischen Golf. So viel Realismus war schon dabei.
Ein Blick auf den schonenden Umgang des Westens mit Saudi-Arabien, einem Staat, der nicht nur Öl exportiert, sondern auch islamischen Fundamentalismus oder sogar Terrorismus, und in dem die Menschenrechte nicht viel gelten, spricht in dieser Hinsicht Bände: Das Land wird als regulierende Instanz für den Ölpreis und als geostrategisches Gegengewicht zu Iran gebraucht und genießt deshalb, vor allem von Seiten der Amerikaner, geradezu eine Vorzugsbehandlung. Welche Antwort lässt sich übrigens aus dem "neuen Realismus" für die Frage ableiten, ob Deutschland den Saudis Waffen liefern sollte oder nicht?
Steinkamp hat recht, wenn er dafür wirbt, moralisch hochgestimmte Begründungen außenpolitischen Handelns im Ton zu dämpfen. Richtig ist auch seine Einschätzung, dass der "westliche Weg", kurz gesagt: Demokratie und Menschenrechte, nicht der einzige ist, der in die Moderne führt, sondern heute durch einen neuen Autoritarismus herausgefordert wird, der wirtschaftlich erfolgreich ist und politisch stabil wirkt - China ist das herausragende Beispiel. Neuer Realismus heißt dann, sich mit solchen Regimen zu arrangieren, was nicht gleich heißen muss, dass "der Westen" seine Werte zur Disposition stellt.
Was helfen solche Überlegungen aber, wenn Länder wie China mit wirtschaftlichen Mitteln in einen unfairen wirtschaftlichen Wettbewerb mit westlichen Handelspartnern treten oder in ihrer Nachbarschaft und darüber hinaus zu expandieren versuchen, womöglich sogar mit militärischen Mitteln? Da helfen keine Schemata, da hilft nur eine kluge Beurteilung der gegebenen Lage und der verfügbaren Optionen: Diplomatie, Sanktionen, Drohungen mit machtpolitischen, auch militärischen Mitteln. All dies würde Steinkamp zweifellos zugeben. Seine essayistische Überzeichnung der Grundlagen westlicher Außenpolitik rückt einige Maßstäbe zurecht, trägt aber auch ziemlich viele Eulen nach Athen.
GÜNTHER NONNENMACHER
Volker Steinkamp: "Foreign Affairs". Kritische Betrachtungen zur Außenpolitik.
Verlag Vittorio Klostermann, Frankfurt 2019. 85 S., br., 12,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Mit Realismus ist Politik immer gut beraten: Volker Steinkamp formuliert Maximen für die Außenpolitik
Dieser Essay ist ein Plädoyer für einen "neuen Realismus" in der Außenpolitik. Er verwirft eine "missionierende" (westliche) Außenpolitik auf der Grundlage des Konzepts universaler Menschenrechte, distanziert sich aber auch von einer Realpolitik, die einzig auf Machtspielen beruht. Das scheint eine vernünftige Position zu sein, denn das berühmte Kalkül, dass die Feinde meines Feindes meine Freunde seien, ist oft widerlegt worden oder hat fatale Folgen gezeitigt: Waffen, die einst einer Kriegspartei geliefert wurden, zielten dann auch schon einmal auf die ehemaligen Lieferanten, man denke nur an die Mudschahedin in Afghanisten, die von Verbündeten der Amerikaner im Kampf gegen die Sowjets zu ihren Gegnern wurden.
Andererseits sind die Versuche, in Afghanistan oder im Irak mittels militärischer Intervention einen "regime change" herbeizuführen und "nation building" zu initiieren, um Frieden zu schaffen oder gar die Welt besser zu machen, gescheitert; Libyen ist dafür ein weiteres Beispiel. Im Falle Syriens haben die Vereinigten Staaten daraus die Konsequenz gezogen, ihre Einmischung in den dortigen Bürgerkrieg auf ein Minimum zu reduzieren, nämlich auf Luftschläge gegen militärische Infrastruktur als Vergeltung für den Einsatz von Giftgas gegen die Zivilbevölkerung durch das Assad-Regime. Hat das die Dinge besser gemacht?
Peter Steinkamp lehnt Interventionen nicht strikt ab. Er sieht sie allerdings als Ausnahmen, "wenn in einem Staat Völkermord, Massaker an der Bevölkerung oder andere schwere Menschenrechtsverletzungen großen Ausmaßes unmittelbar drohen", und will sie in diesem Fall "darauf beschränken, das menschenwürdige Überleben der gefährdeten Menschen zu ermöglichen". Der Fall Syriens zeigt eklatant, dass dies ohne einen Sturz des Assad-Regimes, also eine massive militärische Intervention, offensichtlich nicht möglich war. Allerdings ist es genauso wahrscheinlich, dass es auch ohne Assad bei den Kämpfen zwischen rivalisierenden militärischen Widerstandsgruppen, inklusive des "Islamischen Staates", in Syrien zu schweren Menschenrechtsverletzungen gekommen wäre. Das nennt man ein Dilemma, und auch ein "neuer Realismus" in der Außenpolitik hat dann keine Antwort auf die Frage: Was tun?
Überhaupt baut das Plädoyer gegen einen vom Westen betriebenen missionarischen Universalismus der Menschenrechte in der Außenpolitik im Grund einen Popanz auf. Wer glaubt ernsthaft, dass der Einmarsch der Amerikaner in Afghanistan oder im Irak einzig auf dieser normativen Grundlage beruhte? Das verwechselt die öffentlich deklarierte Begründung von Politik mit ihren realpolitischen Motiven. Die Intervention in Afghanistan ist nur zu erklären aus dem Schock des 11. September 2001. Und bei dem Einmarsch in den Irak ging es um das prekäre strategische Gleichgewicht im Mittleren Osten und die Sicherheit der Ölversorgung am Persischen Golf. So viel Realismus war schon dabei.
Ein Blick auf den schonenden Umgang des Westens mit Saudi-Arabien, einem Staat, der nicht nur Öl exportiert, sondern auch islamischen Fundamentalismus oder sogar Terrorismus, und in dem die Menschenrechte nicht viel gelten, spricht in dieser Hinsicht Bände: Das Land wird als regulierende Instanz für den Ölpreis und als geostrategisches Gegengewicht zu Iran gebraucht und genießt deshalb, vor allem von Seiten der Amerikaner, geradezu eine Vorzugsbehandlung. Welche Antwort lässt sich übrigens aus dem "neuen Realismus" für die Frage ableiten, ob Deutschland den Saudis Waffen liefern sollte oder nicht?
Steinkamp hat recht, wenn er dafür wirbt, moralisch hochgestimmte Begründungen außenpolitischen Handelns im Ton zu dämpfen. Richtig ist auch seine Einschätzung, dass der "westliche Weg", kurz gesagt: Demokratie und Menschenrechte, nicht der einzige ist, der in die Moderne führt, sondern heute durch einen neuen Autoritarismus herausgefordert wird, der wirtschaftlich erfolgreich ist und politisch stabil wirkt - China ist das herausragende Beispiel. Neuer Realismus heißt dann, sich mit solchen Regimen zu arrangieren, was nicht gleich heißen muss, dass "der Westen" seine Werte zur Disposition stellt.
Was helfen solche Überlegungen aber, wenn Länder wie China mit wirtschaftlichen Mitteln in einen unfairen wirtschaftlichen Wettbewerb mit westlichen Handelspartnern treten oder in ihrer Nachbarschaft und darüber hinaus zu expandieren versuchen, womöglich sogar mit militärischen Mitteln? Da helfen keine Schemata, da hilft nur eine kluge Beurteilung der gegebenen Lage und der verfügbaren Optionen: Diplomatie, Sanktionen, Drohungen mit machtpolitischen, auch militärischen Mitteln. All dies würde Steinkamp zweifellos zugeben. Seine essayistische Überzeichnung der Grundlagen westlicher Außenpolitik rückt einige Maßstäbe zurecht, trägt aber auch ziemlich viele Eulen nach Athen.
GÜNTHER NONNENMACHER
Volker Steinkamp: "Foreign Affairs". Kritische Betrachtungen zur Außenpolitik.
Verlag Vittorio Klostermann, Frankfurt 2019. 85 S., br., 12,80 [Euro].
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