Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.11.2008Nein, meinen Hotdog ess' ich nicht
Kein Saft am Sabbat: Shalom Auslander über eine jüdische Jugend im Schlaraffenland Amerika.
Von Thomas David
Als Shalom zum ersten Mal in seinem Leben ein nacktes jüdisches Mädchen sieht, ist er elf Jahre alt. Er hat bereits seinen ersten Samenerguss gehabt; der Vibrator, den er im Schlafzimmer seiner Eltern entdeckt hatte, lag in einer kleinen rosa Schachtel unter dem Bett. Shalom kann den Sabbat nicht leiden, obwohl Rabbi Blowfeld sagt, dass Freitagabends zwei von Gott entsandte Engel durchs Fenster sehen. Er kann den Rabbi und die ganzen Engel nicht leiden und würde statt seiner Kippa viel lieber eine Baseballmütze tragen, bis er irgendwann feststellt, dass er mit der Kippa in den Einkaufszentren der Gegend unbemerkt Musikcassetten und Comics stehlen kann. Shaloms Familie lebt in Monsey, einer überwiegend von orthodoxen amerikanischen Juden bewohnten Ortschaft in Rockland County im Staat New York.
Shalom ist der Ich-Erzähler von "Eine Vorhaut klagt an", dem zweiten Buch des 1970 geborenen Schriftstellers Shalom Auslander, der mit dem autobiographischen Roman seiner Kindheit und Jugend die Erinnerungen preisgibt, die bereits seinem vor ein paar Jahren erschienenen Erzählungsband "Vorsicht, bissiger Gott" den Nimbus des Unglaublichen verliehen. Auslander erzählte in den mit lockerer Hand hingeworfenen, als "fiese Storys" apostrophierten Skizzen seines Debüts vom Terror einer religiösen Erziehung, den Daumenschrauben des schlechten Gewissens, von Schuld und Strafe und dem peinigenden Verlangen nach nichtkoscherem Fleisch, von der aberwitzigen Existenz des zehn Meter großen glücklichen Huhns, das als Herr Holocaust auch in Auslanders neuem Buch jede noch so kleine Verfehlung persönlich zu nehmen droht. "Eine Vorhaut klagt an" ist ein ketzerisches, ein politisch wahrscheinlich irgendwie unkorrektes Buch, das dank Eike Schönfelds Übersetzung auch im Deutschen nichts vom Feuer seiner von Zorn und Entrüstung entfachten Prosa verliert. "Herr Holocaust" ist nur einer von Auslanders zahllosen Namen für den jüdischen Gott, der ihm als Antiheld seines Lebens auf ziemlich unchristliche Weise beinahe jeden Spaß verdirbt.
Auslander erinnert sich an den Wettbewerb, den er in der dritten Klasse der Yeshiva verlor, weil er nicht wusste, welchen Segen man für Eiscreme in der Tüte spricht. Er erzählt, wie er als Neunjähriger in einem Schwimmbad zum ersten Mal fast einen Hotdog kauft und seiner quälenden Leidenschaft für Schweinefleisch und alles andere nachgibt, das nach Fett und Gelatine schmeckt, wie er sich schuldbewusst im Wald hinter dem Haus in einem Baum versteckt und heimlich verbotene Süßigkeiten isst. "Lieber Gott", den Mund voller gestohlener Chuckles und Jelly Bellys, "was stimmt mit mir nicht?" Er kann die Synagoge nicht leiden, er kann die ganze jüdische Tradition nicht leiden und das unverrückbare Gebot, am Sabbat niemals gefrorenen Orangensaft aufzutauen.
Lieber Gott, was stimmt nicht mit mir?
"Ich war krank", so Auslander in einer jener ins Absurde überzogenen Suaden der Selbstbezichtigung, die dieses Buch zu einem schamlosen, wenn auch stellenweise etwas ungestümen Vergnügen machen, das freilich ein wenig durch die Erinnerungen an die Lektüre von Philip Roths Klassiker "Portnoys Beschwerden" verdunkelt wird, aus dessen Schatten Auslander sich ebenso wenig zu lösen vermag wie aus seinem verzweifelten Glauben an Gott: "Ich war infiziert. Ich war ein Verbrecher. Ich war ein Sodomer, ein Amoriter, ein Hethiter, ein Siniter, ein Giviter. Ich war Kain. Ich war Esau. Ich war Lots Frau. Ich fragte mich, warum Gott so lange brauchte, mich zu bestrafen." Die Pornohefte, die Shalom eines Sonntagnachmittags hinter einem Stein im Wald entdeckt, gehören seinem Vater.
Auslander begehrt die in kurzen Laufshorts und engem Tanktop vorbeisprintende Tochter einer der wenigen nichtjüdischen Familien der Nachbarschaft, er begehrt die kraushaarige Deena, die schließlich dieselbe High School in New York City besucht, und vervollkommnet sich zum einsamen Meister der Masturbation. Der Bildungsroman seines Lebens, in dem ihm scheinbar immer neue Prüfungen auferlegt werden, die er nicht besteht, führt Auslander durch zahlreiche Episoden seiner unentrinnbaren Gottesfurcht und mündet eines Tages in die Begegnung mit der aus Großbritannien stammenden Jüdin Orli, deren fortschreitende Schwangerschaft er in einem separaten Erzählstrang schildert, der die Erinnerungen an seine Kindheit und Jugend immer wieder kreuzt. Er glaubt nach wie vor an die Hinterlist seines streitsüchtigen, auf Rache sinnenden Gottes, er hadert mit den respektlosen Geschichten, die er als Mittdreißiger über Ihn zu schreiben versucht.
Als er erfährt, dass Orli einen Sohn zur Welt bringen wird, hält er das für Gottes bislang miesesten Trick. "Vor Tausenden von Jahren", so Auslander, "verstümmelte ein panischer, halb verrückter alter Mann seinen Sohn genital, um damit bei dem Wesen, das, wie er hoffte, den Laden schmiss, Punkte zu machen." Abgeschnitten von der Vergangenheit, mit den Eltern zerstritten und der Zukunft nicht sicher, "blutend, geschlagen, weggeschmissen", kommt sich Auslander schließlich "selbst ein bisschen wie eine Vorhaut vor": Das Wunder dieses bemerkenswerten, um keinen Frevel verlegenen Buchs ist, dass sich die Anklage - Auslanders Klage, wie man in Anlehnung an den Originaltitel "Foreskin's Lament" eigentlich sagen müsste - am Ende als das überraschende, von Liebe und Menschlichkeit bestrittene Plädoyer für das unversehrte Leben seines Sohnes erweist. Shalom heißt Frieden.
Shalom Auslander: "Eine Vorhaut klagt an". Erinnerungen. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Eike Schönfeld. Berlin Verlag, Berlin 2008. 301 S., geb., 19,90 [Euro].
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Kein Saft am Sabbat: Shalom Auslander über eine jüdische Jugend im Schlaraffenland Amerika.
Von Thomas David
Als Shalom zum ersten Mal in seinem Leben ein nacktes jüdisches Mädchen sieht, ist er elf Jahre alt. Er hat bereits seinen ersten Samenerguss gehabt; der Vibrator, den er im Schlafzimmer seiner Eltern entdeckt hatte, lag in einer kleinen rosa Schachtel unter dem Bett. Shalom kann den Sabbat nicht leiden, obwohl Rabbi Blowfeld sagt, dass Freitagabends zwei von Gott entsandte Engel durchs Fenster sehen. Er kann den Rabbi und die ganzen Engel nicht leiden und würde statt seiner Kippa viel lieber eine Baseballmütze tragen, bis er irgendwann feststellt, dass er mit der Kippa in den Einkaufszentren der Gegend unbemerkt Musikcassetten und Comics stehlen kann. Shaloms Familie lebt in Monsey, einer überwiegend von orthodoxen amerikanischen Juden bewohnten Ortschaft in Rockland County im Staat New York.
Shalom ist der Ich-Erzähler von "Eine Vorhaut klagt an", dem zweiten Buch des 1970 geborenen Schriftstellers Shalom Auslander, der mit dem autobiographischen Roman seiner Kindheit und Jugend die Erinnerungen preisgibt, die bereits seinem vor ein paar Jahren erschienenen Erzählungsband "Vorsicht, bissiger Gott" den Nimbus des Unglaublichen verliehen. Auslander erzählte in den mit lockerer Hand hingeworfenen, als "fiese Storys" apostrophierten Skizzen seines Debüts vom Terror einer religiösen Erziehung, den Daumenschrauben des schlechten Gewissens, von Schuld und Strafe und dem peinigenden Verlangen nach nichtkoscherem Fleisch, von der aberwitzigen Existenz des zehn Meter großen glücklichen Huhns, das als Herr Holocaust auch in Auslanders neuem Buch jede noch so kleine Verfehlung persönlich zu nehmen droht. "Eine Vorhaut klagt an" ist ein ketzerisches, ein politisch wahrscheinlich irgendwie unkorrektes Buch, das dank Eike Schönfelds Übersetzung auch im Deutschen nichts vom Feuer seiner von Zorn und Entrüstung entfachten Prosa verliert. "Herr Holocaust" ist nur einer von Auslanders zahllosen Namen für den jüdischen Gott, der ihm als Antiheld seines Lebens auf ziemlich unchristliche Weise beinahe jeden Spaß verdirbt.
Auslander erinnert sich an den Wettbewerb, den er in der dritten Klasse der Yeshiva verlor, weil er nicht wusste, welchen Segen man für Eiscreme in der Tüte spricht. Er erzählt, wie er als Neunjähriger in einem Schwimmbad zum ersten Mal fast einen Hotdog kauft und seiner quälenden Leidenschaft für Schweinefleisch und alles andere nachgibt, das nach Fett und Gelatine schmeckt, wie er sich schuldbewusst im Wald hinter dem Haus in einem Baum versteckt und heimlich verbotene Süßigkeiten isst. "Lieber Gott", den Mund voller gestohlener Chuckles und Jelly Bellys, "was stimmt mit mir nicht?" Er kann die Synagoge nicht leiden, er kann die ganze jüdische Tradition nicht leiden und das unverrückbare Gebot, am Sabbat niemals gefrorenen Orangensaft aufzutauen.
Lieber Gott, was stimmt nicht mit mir?
"Ich war krank", so Auslander in einer jener ins Absurde überzogenen Suaden der Selbstbezichtigung, die dieses Buch zu einem schamlosen, wenn auch stellenweise etwas ungestümen Vergnügen machen, das freilich ein wenig durch die Erinnerungen an die Lektüre von Philip Roths Klassiker "Portnoys Beschwerden" verdunkelt wird, aus dessen Schatten Auslander sich ebenso wenig zu lösen vermag wie aus seinem verzweifelten Glauben an Gott: "Ich war infiziert. Ich war ein Verbrecher. Ich war ein Sodomer, ein Amoriter, ein Hethiter, ein Siniter, ein Giviter. Ich war Kain. Ich war Esau. Ich war Lots Frau. Ich fragte mich, warum Gott so lange brauchte, mich zu bestrafen." Die Pornohefte, die Shalom eines Sonntagnachmittags hinter einem Stein im Wald entdeckt, gehören seinem Vater.
Auslander begehrt die in kurzen Laufshorts und engem Tanktop vorbeisprintende Tochter einer der wenigen nichtjüdischen Familien der Nachbarschaft, er begehrt die kraushaarige Deena, die schließlich dieselbe High School in New York City besucht, und vervollkommnet sich zum einsamen Meister der Masturbation. Der Bildungsroman seines Lebens, in dem ihm scheinbar immer neue Prüfungen auferlegt werden, die er nicht besteht, führt Auslander durch zahlreiche Episoden seiner unentrinnbaren Gottesfurcht und mündet eines Tages in die Begegnung mit der aus Großbritannien stammenden Jüdin Orli, deren fortschreitende Schwangerschaft er in einem separaten Erzählstrang schildert, der die Erinnerungen an seine Kindheit und Jugend immer wieder kreuzt. Er glaubt nach wie vor an die Hinterlist seines streitsüchtigen, auf Rache sinnenden Gottes, er hadert mit den respektlosen Geschichten, die er als Mittdreißiger über Ihn zu schreiben versucht.
Als er erfährt, dass Orli einen Sohn zur Welt bringen wird, hält er das für Gottes bislang miesesten Trick. "Vor Tausenden von Jahren", so Auslander, "verstümmelte ein panischer, halb verrückter alter Mann seinen Sohn genital, um damit bei dem Wesen, das, wie er hoffte, den Laden schmiss, Punkte zu machen." Abgeschnitten von der Vergangenheit, mit den Eltern zerstritten und der Zukunft nicht sicher, "blutend, geschlagen, weggeschmissen", kommt sich Auslander schließlich "selbst ein bisschen wie eine Vorhaut vor": Das Wunder dieses bemerkenswerten, um keinen Frevel verlegenen Buchs ist, dass sich die Anklage - Auslanders Klage, wie man in Anlehnung an den Originaltitel "Foreskin's Lament" eigentlich sagen müsste - am Ende als das überraschende, von Liebe und Menschlichkeit bestrittene Plädoyer für das unversehrte Leben seines Sohnes erweist. Shalom heißt Frieden.
Shalom Auslander: "Eine Vorhaut klagt an". Erinnerungen. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Eike Schönfeld. Berlin Verlag, Berlin 2008. 301 S., geb., 19,90 [Euro].
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An ultra-funny memoir about an ultra-unfunny Orthodox upbringing Richard Godwin The Times