So wie man fragen kann: "Ist Ästhetik die Theologie der Gegenwart?" (Lehnerer) darf man auch vermuten, dass Kunst zur Religion der Moderne geworden ist. Nicht zufällig zieht mit dem Verlust der Religion in der westlichen Kultur das Erhabene, das Auratische, das Heilige, das Mystische in den Bann und
findet im Kunstobjekt einen Ersatz, auf der Theaterbühne und in der Literatur einen Rückzugsort, in…mehrSo wie man fragen kann: "Ist Ästhetik die Theologie der Gegenwart?" (Lehnerer) darf man auch vermuten, dass Kunst zur Religion der Moderne geworden ist. Nicht zufällig zieht mit dem Verlust der Religion in der westlichen Kultur das Erhabene, das Auratische, das Heilige, das Mystische in den Bann und findet im Kunstobjekt einen Ersatz, auf der Theaterbühne und in der Literatur einen Rückzugsort, in der künstlerischen Performance ein Substitut für religiöse Praxis. Die Kunstaktionen von Abramovic mit ihrer erstaunlichen Publikumsresonanz werden von vielen Beobachtern, so auch von der Autorin, als ein Symptom des Wunsches nach außergewöhnlichen transzendentalen Erlebnissen interpretiert. Wie der vormoderne sucht auch der Mensch des 21. Jh. nach Schwellenerlebnissen und möchte sich in seinem Dasein intensiver erfahren. Ästhetische soll dabei den Verlust religiöser Erfahrung kompensieren.
Die Autorin identifiziert dann »Kunstreligiöses«, wenn im Kunstschaffen oder in der Reflexion über Kunst wesentliche strukturelle oder funktionale Ähnlichkeiten mit Religion oder theologischem Denken zu erkennen sind. Ihr Konzept profitiert von der Anlehnung an die »Ästhetik des Performativen«, welche Kunst als funktionalen Ersatz für Religion in modernen säkularen Gesellschaften interpretiert und sich so von "mystifizierenden Ästhetiken" abgrenzt. In zwei Hautteilen zu Handke und Schlingensief kann sie überzeugend ihre Thesen exemplifizieren und im dritten Teil ihrer Arbeit die aktuellen theoretischen Überlegungen zur Kunstreligion und deren Vorläufer in der Frühromantik darstellen.
Welche Last aber hat die Kunst zu tragen und bürdet sie sich auf, wenn sie die Leerstelle der Religion besetzt oder ausfüllen will und welche Gefahren sind mit dieser Usurpation verbunden? Diese sozialphilosophischen Probleme werden in der Arbeit allenfalls andeutungsweise verhandelt, wenn die Autorin bei Handke die Gefahr erkennt, subjektive ästhetische Werte über allgemeine ethische Prinzipien zu stellen; während Schlingensief sich immerhin auch durch Parodie an seiner eigenen Tendenz zur Mystifizierung abgearbeitet habe. Insgesamt ist diese aus einer Dissertation hervorgegangene Arbeit ein informative und empfehlenswerte Studie für alle, die aktuelle Kunst und ihre Verknüpfungen mit gesellschaftlichen Entwicklungen und dem Verschwinden klassischer religiöser Erfahrung verstehen möchten.