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Vergessen als Filter, als Waffe und als Voraussetzung für die Schaffung des Neuen.Angesichts der gegenwärtigen Dominanz der Auseinandersetzung mit Erinnerung haben wir das Vergessen anscheinend vergessen. Tatsächlich ist aber nicht das Erinnern, sondern das Vergessen der Grundmodus menschlichen und gesellschaftlichen Lebens. Für das Erinnern bedarf es einer aktiven Anstrengung, Vergessen hingegen geschieht lautlos und scheinbar unspektakulär.Dass Vergessen aber auch ein aktiver Prozess sein kann, zeigt Aleida Assmann in ihrer zweigeteilten Untersuchung. Im ersten Teil beschreibt sie neben…mehr

Produktbeschreibung
Vergessen als Filter, als Waffe und als Voraussetzung für die Schaffung des Neuen.Angesichts der gegenwärtigen Dominanz der Auseinandersetzung mit Erinnerung haben wir das Vergessen anscheinend vergessen. Tatsächlich ist aber nicht das Erinnern, sondern das Vergessen der Grundmodus menschlichen und gesellschaftlichen Lebens. Für das Erinnern bedarf es einer aktiven Anstrengung, Vergessen hingegen geschieht lautlos und scheinbar unspektakulär.Dass Vergessen aber auch ein aktiver Prozess sein kann, zeigt Aleida Assmann in ihrer zweigeteilten Untersuchung. Im ersten Teil beschreibt sie neben sieben konkreten Techniken für das Vergessen dessen verschiedene Ausprägungen: vom selektiven Vergessen zur Fokussierung auf bestimmte Erinnerungen, über defensives Vergessen etwa als Selbstschutz der Täter, bis hin zum konstruktiven Vergessen als umfassendem Neubeginn. Im zweiten Teil liefert Assmann sieben Beispiele zu den zuvor beschriebenen Formen des Vergessens. Dabei geht sie unter anderemauf die Unsichtbarkeit von Denkmälern (deren eigentliche Aufgabe das Erinnern sein sollte), das Vergessen von Menschenrechtsverbrechen »im Schatten des Holocaust« (wie dem Genozid an den Herero) oder die (Un-)Möglichkeit des Vergessens im Internet ein.
Autorenporträt
Aleida Assmann, geb. 1947, ist emeritierte Anglistin und Kulturwissenschaftlerin. Sie lehrte Anglistik und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Konstanz und nahm Fellowships am Wissenschaftskolleg zu Berlin und am Aby-Warburg-Haus Hamburg wahr. Gastprofessuren führten sie an die Universitäten Rice, Princeton, Yale, Chicago und Wien. Veröffentlichungen u. a.: Im Dickicht der Zeichen (2015); Der lange Schatten der Vergangenheit (2014); Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur (2013); Ist die Zeit aus den Fugen? Aufstieg und Niedergang des Zeitregimes der Moderne (2013); Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses (2011)
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Knud von Harbou liest diese Texte aus den Frankfurter Vorlesungen der Literaturwissenschaftlerin Aleida Assmann mit Gewinn. Die Autorin bleibt in ihnen ihrem Lebensthema treu, den Variationen zwischen Erinnerung und Vergessen, das sie hier nicht unbedingt weiterführt, sondern auffächert, indem sie weitere kulturgeschichtlichen Erscheinungen des Vergessens hinzufügt. Mit sieben Fallgeschichten erhält Harbou viele Denkanstöße zu weiteren Komplexen, zum Stellenwert des Vergessens im Internet etwa oder zum Erhalt des Wissens um die NS-Geschichte. Das Schlagwort- oder Handbuchartige des Bandes, das laut Rezensent ohne Assmanns deskriptive Ethnografie des Vergessens auskommt, scheint ihm aber jedenfalls erwähnenswert.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.11.2016

Speichern ist noch keine Form des Erinnerns
Das Gedächtnis als Kampfplatz: Aleida Assmann verhandelt in sieben Fallstudien Formen des Vergessens

Haben wir das Vergessen vergessen? Nach Jahren des Booms der Erforschung und Gestaltung von Erinnerungskultur gewinnt die Beschäftigung mit dem komplementären Vorgang an Fahrt. Ob diese genauso rasant wie die Erinnerungsralley verlaufen wird, darf in einer Kultur, in der jeder Provinzpolitiker zumindest rhetorisch etwas "gegen das Vergessen" unternehmen will, allerdings bezweifelt werden. Eine friedensstiftende Kraft des Vergessens, die seit der Antike immer wieder beschworen, gelegentlich, wie nach dem Dreißigjährigen Krieg oder dem englischen Bürgerkrieg, sogar verordnet wurde, scheint da schwer begreiflich zu machen.

Das Vergessen ist auch jenseits der Psychologie und Medizin kein neues Sujet. Von Friedrich Nietzsche über Friedrich Georg Jünger bis Christian Meier reicht die Spannweite kluger Reflexionen. Aleida Assmann versucht nun, die Ergebnisse und Befunde ihrer Studien zur Erinnerungskultur auf das Vergessen zu übertragen, bleibt dabei aber in einem normativen erinnerungskulturellen Paradigma gefangen. Einen Satz nachdem sie Jan Philipp Reemtsmas Aussage, Erinnern und Vergessen seien weder gut noch schlecht, zitiert hat, beginnt sie schon, die sieben von ihr identifizierten Formen des Vergessens - ihren Buchtitel hat sie vom französischen Ethnologen Marc Augé geborgt - moralisch zu klassifizieren.

Das mündet in eine Tabelle, in der destruktives und defensives Vergessen als negativ, konstruktives und therapeutisches Vergessen als positiv und automatisches Vergessen, "Verwahrensvergessen" (Friedrich Georg Jünger) sowie das selektive Vergessen als neutral eingruppiert werden. Dabei ist es nicht nachvollziehbar, dass Assmann allein das destruktive und defensive Vergessen als Waffe verstehen will, das konstruktive und therapeutische Vergessen dagegen als "Ermöglichung von Zukunft". Die Erinnerungspolitik immer neuer Opfergruppen und ihrer Anwälte, die hier einzuordnen wäre, ist doch eine Waffe im Kampf um finanzielle, politische und moralische Ressourcen, welche mitnichten eine befriedende Wirkung zeitigt. Hat es nicht einmal so etwas wie Ideologiekritik gegeben?

In den sieben Fallstudien, die sich an die systematischen Überlegungen anschließen, will Assmann dem Vergessen, letztlich aber vor allem dem Auftauchen aus dem (nicht ganz) Vergessenen konkret auf die Spur kommen. Dabei zeigt sie sich nicht immer historisch sattelfest. Es beginnt schon damit, dass Assmann meint, Christian Meier führe für die befriedende Wirkung des Vergessens den "Peloponnesischen Bürgerkrieg in der Athenischen Polis an". Meier handelte tatsächlich von der Amnestie nach der Herrschaft der dreißig in Athen 404/403 vor Christus.

Viel zu pauschal ist es dann, den gesamten Kolonialkrieg 1904 bis 1908 gegen die Herero und Nama als Genozid zu etikettieren. Zur Untermauerung ein Positionspapier der Grünen heranzuziehen ist wissenschaftlich doch etwas kurz gesprungen. Oft genug ist nun schon gezeigt worden, dass der von Aleida Assmann erwähnte berüchtigte Vernichtungsbefehl General von Trothas zur Stützung dieser Generalthese nicht herhalten kann. Und wie jüngst Jonas Kreienbaum gezeigt hat (F.A.Z. vom 18. August 2015), wurden auch die Lager in Deutsch-Südwest gerade nicht in genozidaler Absicht errichtet.

Es ist schade, dass Assmann sich nur den Fällen nähert, die dem Vergessen nun entrissen sind. Aufschlussreicher wäre es gewesen, sich auch den Geschehen zu widmen, die derzeit gerade ins Vergessen zu sinken drohen. Wer erinnert sich noch der 200 000 Opfer, welche die blutige Niederschlagung des Aufstands in Zentralasien durch russische Truppen im Sommer 1916 forderte? Auch die Deportation und Versklavung der Russlanddeutschen unter Stalin, durch welche Hundertausende zu Tode kamen, droht nach dem Aussterben der Erlebnisgeneration tatsächlich in Vergessenheit zu geraten.

Verhält sich die Autorin zur gegenwärtigen Erinnerungskultur zumeist affirmativ und findet nicht zu einer wissenschaftlichen Distanz, so ist an anderer Stelle doch ihr Unbehagen zu spüren. Es geht dabei um den Konstanzer Germanisten Hans Robert Jauß, den Ministerpräsident Kretschmann bei seiner Jubiläumsrede an der Universität Konstanz offenkundig bewusst nicht erwähnte. Angesichts der Bedeutung von Jauß für die "Konstanzer Schule" und die Gruppe "Poetik und Hermeneutik" ist solche Damnatio memoriae des ehemaligen Waffen-SS-Manns von ähnlicher Grobheit wie die jüngst vielkritisierte Erinnerungspolitik der Freiburger Kommission zu Überprüfungen von Straßennamen (F.A.Z. vom 7. Oktober) Die Tätigkeit Winston Smiths in Orwells "1984" ist eine sich aufdrängende düstere Analogie.

Ist das absichtsvolle oder unbeabsichtigte Vergessen im Zeitalter der digitalen Speicherung und des Internets aber überhaupt noch eine Option? Assmann ist gegenüber den Visionen eines Verschwindens des Vergessens zu Recht skeptisch. Die Speichermedien sind nicht identisch mit dem Gedächtnis. Man muss eine Ahnung von dem haben, was man vergessen hat, um danach suchen zu können. In den Passagen zur Zukunft des Vergessens ist Aleida Assmann überzeugender als in ihren historischen Ausführungen.

PETER HOERES

Aleida Assmann: "Formen des Vergessens".

Wallstein Verlag,

Göttingen 2016.

224 S., Abb., br., 14,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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»informativ, kenntnisreich geschrieben und gut zu lesen« (Michael Opitz, Deutschlandradio Kultur, 27.10.2016) »Assmanns viele kulturgeschichtliche Beispiele lesen sich jedenfalls unter dem schillernden Aspekt Vergessen/Erinnern mit großem Gewinn« (Knud von Harbou, Süddeutsche Zeitung, 31.10.2016) »hat (...) das Zeug zum Standardwerk« (Marc Reichwein, www.welt.de, 12.12.2016) »ein neues Buch (...), das brisante Fragen nicht nur aufwirft, sondern auch weitgehend beantwortet« (Hendrik Werner, Weser-Kurier, 02.03.2017) »sie schreibt verständlich, nachvollziehbar, plausibel« (Manfred Prisching, Sociologia Internationalis, 1-2017)