Produktdetails
- Verlag: Princeton University Press
- Seitenzahl: 248
- Erscheinungstermin: 28. September 2009
- Englisch
- Abmessung: 241mm x 162mm
- Gewicht: 470g
- ISBN-13: 9780691135687
- ISBN-10: 0691135681
- Artikelnr.: 25690578
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.08.2009Im Raum der Formen
Alessandro Minellis Blick auf die Evolutionsbiologie
Die Evolutionsbiologie im Darwin-Jahr ist nicht mehr das, was sie vor zwanzig oder dreißig Jahren noch war. Damals schien es, als sei auf einer konzeptuellen und theoretischen Ebene der Großteil der Arbeit schon geleistet. Evolution war auf Vorgänge auf genetischer Ebene eingeschränkt und erwartet wurde, dass die aufstrebende Molekularbiologie empirische Bestätigungen nachliefern werde.
Die weitere Entwicklung sah aber anders aus. Die Molekularbiologie entwickelte rasch eigene Ambitionen für die Vereinheitlichung des Forschungsfelds, die häufig nicht mit denen der Evolutionsbiologie vereinbar waren. Dann tauchte auch noch die sogenannte evolutionäre Entwicklungsbiologie, oder Evo-Devo, auf und machte auf eine eklatante - und von führenden Evolutionsbiologen bewusst akzeptierte - Lücke im Gefüge der modernen Evolutionslehre aufmerksam: die vollständige Ausklammerung der Individualentwicklung bei Erklärungen des Evolutionsgeschehens.
Die Vertreter der sich neu formierenden Disziplin bemängelten, dass die Evolutionsbiologie sich nur auf die Änderung von Genhäufigkeiten konzentrierte. Doch darüber, wie morphologische Neuerungen in der Geschichte des Lebens entstanden sind, hatte sie nichts Substantielles zu sagen. Evo-Devo nahm sich genau dieser Frage an und identifizierte in der Folge die molekulare "Werkzeugkiste" der Individualentwicklung. Fragestellungen, die von der etablierten Evolutionsbiologie als bloße Spekulationen abgefertigt worden waren, wurden auf diese Weise wieder zu traktierbaren Problemen. Zum Beispiel jene, ob Gliedertiere wie Insekten und Krebse tatsächlich auf den Rücken gedrehte Würmer waren, wie man schon am Anfang des 19. Jahrhunderts vermutet hatte.
Alessandro Minelli, Zoologieprofessor an der Universität Padua, bietet in seinem Buch eine kompakte, dennoch umfassende und zugängliche Darstellung der Grundideen von Evo-Devo und ihrer Geschichte. Die Darstellung beginnt mit einem kurzen Abriss der Herausbildung von vergleichender Morphologie und Stammesgeschichte und fährt dann fort mit einem grundlegenden Problem, das Evo-Devo beschäftigt: die Verteilung tatsächlicher tierischer Baupläne im hypothetischen vieldimensionalen Raum möglicher Formen ("morphospace").
Die im Verlauf der Evolution verwirklichten Formen sind nicht gleichmäßig in diesem Raum verteilt, sondern häufen sich an wenigen Stellen. So haben Hundertfüßler der Gattung Scolopendra nahezu immer 21 Beinpaare - einige wenige Individuen aber 23 Stück. Verwandte Arten anderer Gattungen haben 27 bis zu 191 Beinpaare. Bei aller Variabilität kommen jedoch nie Tiere mit einer geraden Zahl von Paaren vor. Wie soll solch ein Muster mit dem Wirken der natürlichen Auslese einsichtig gemacht werden?
Es lasse sich durch ihr Wirken nicht erklären, lautet kurz und bündig Minellis Bescheid. Es gibt einfach keinen Grund anzunehmen, ein Individuum mit 22 Beinpaaren müsse "unfitter" sein als eines mit 23 Paaren. Außerdem spiegele in diesem wie in vielen anderen Fällen die genetische Variabilität weder morphologische Variabilität noch Gleichförmigkeit wider. Nur eine Mitbetrachtung der Mechanismen der Individualentwicklung könne daher Erklärungen für Muster und ihre Abwandlungen erwarten lassen. Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet Minelli kritisch die Rolle von Genen im Entwicklungsgeschehen.
Innerhalb der evolutionären Entwicklungsbiologie existieren zwei Richtungen, die Genen unterschiedlich wichtige Rollen zuschreiben. Eine Richtung betont eine Kontrollhierarchie, an deren Spitze "master control genes" stehen. Die Individualentwicklung entspricht dann der Ausführung eines in der Sprache der DNA geschriebenen Programmes. Bleibende Neuerungen sind nur möglich, wenn sie in diesem Programm kodiert werden.
Minelli gehört hingegen einer Richtung an, die Gene zwar als selbstverständlich notwendig, aber keineswegs als hinreichend betrachtet. Die Kontrolle der Individualentwicklung wird entsprechend als höchst vernetzte und kontextabhängige Angelegenheit vor Augen geführt. Die Beziehung zwischen Genen und Gestalt ist demnach weder einfach noch verlaufe sie nur in eine Richtung. Um die Entstehung neuer Strukturen und Formen zu erklären, müssen der gesamte Entwicklungsprozess und alle beteiligten ursächlichen Faktoren betrachtet werden. Der Blick auf die Gene zeigt nur einen unvollständigen Ausschnitt.
In kaum einem anderen Bereich der Biologie wird ein so tiefes und weitreichendes Interesse an der Geschichte der Biologie demonstriert wie in der evolutionären Entwicklungsbiologie. Minellis geschichtlicher Abriss wird Wissenschaftshistoriker zwar vermutlich kaum zufriedenstellen. Aber sehr zu begrüßen ist, dass dieser Autor im Vergleich zu vielen anderen Darstellungen der Herausbildung der Evolutionsbiologie eine andere als die geläufige Geschichte erzählt.
Charles Darwins Name fällt nur an zwei Stellen, während heute fast vergessene Gestalten wie Etienne Geoffroy St. Hilaire, Georges Cuvier oder Richard Owen prominente Plätze erhalten. Das bedeutet keineswegs, dass Minelli Darwins Bedeutung anzweifelt. Aber die Betonung bisher peripherer Gestalten und lange ausgeblendeter Fragen ermöglicht einen freieren Blick auf die Evolutionsbiologie: auf ihre eigene (Vor-)Geschichte genauso wie auf die Blickverengungen eines genzentrierten Fundamentalismus.
THOMAS WEBER
Alessandro Minelli: "Forms of Becoming". The Evolutionary Biology of Development. Princeton University Press, Princeton 2009. 228 S., 17 Abb., geb., 27,95 $.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Alessandro Minellis Blick auf die Evolutionsbiologie
Die Evolutionsbiologie im Darwin-Jahr ist nicht mehr das, was sie vor zwanzig oder dreißig Jahren noch war. Damals schien es, als sei auf einer konzeptuellen und theoretischen Ebene der Großteil der Arbeit schon geleistet. Evolution war auf Vorgänge auf genetischer Ebene eingeschränkt und erwartet wurde, dass die aufstrebende Molekularbiologie empirische Bestätigungen nachliefern werde.
Die weitere Entwicklung sah aber anders aus. Die Molekularbiologie entwickelte rasch eigene Ambitionen für die Vereinheitlichung des Forschungsfelds, die häufig nicht mit denen der Evolutionsbiologie vereinbar waren. Dann tauchte auch noch die sogenannte evolutionäre Entwicklungsbiologie, oder Evo-Devo, auf und machte auf eine eklatante - und von führenden Evolutionsbiologen bewusst akzeptierte - Lücke im Gefüge der modernen Evolutionslehre aufmerksam: die vollständige Ausklammerung der Individualentwicklung bei Erklärungen des Evolutionsgeschehens.
Die Vertreter der sich neu formierenden Disziplin bemängelten, dass die Evolutionsbiologie sich nur auf die Änderung von Genhäufigkeiten konzentrierte. Doch darüber, wie morphologische Neuerungen in der Geschichte des Lebens entstanden sind, hatte sie nichts Substantielles zu sagen. Evo-Devo nahm sich genau dieser Frage an und identifizierte in der Folge die molekulare "Werkzeugkiste" der Individualentwicklung. Fragestellungen, die von der etablierten Evolutionsbiologie als bloße Spekulationen abgefertigt worden waren, wurden auf diese Weise wieder zu traktierbaren Problemen. Zum Beispiel jene, ob Gliedertiere wie Insekten und Krebse tatsächlich auf den Rücken gedrehte Würmer waren, wie man schon am Anfang des 19. Jahrhunderts vermutet hatte.
Alessandro Minelli, Zoologieprofessor an der Universität Padua, bietet in seinem Buch eine kompakte, dennoch umfassende und zugängliche Darstellung der Grundideen von Evo-Devo und ihrer Geschichte. Die Darstellung beginnt mit einem kurzen Abriss der Herausbildung von vergleichender Morphologie und Stammesgeschichte und fährt dann fort mit einem grundlegenden Problem, das Evo-Devo beschäftigt: die Verteilung tatsächlicher tierischer Baupläne im hypothetischen vieldimensionalen Raum möglicher Formen ("morphospace").
Die im Verlauf der Evolution verwirklichten Formen sind nicht gleichmäßig in diesem Raum verteilt, sondern häufen sich an wenigen Stellen. So haben Hundertfüßler der Gattung Scolopendra nahezu immer 21 Beinpaare - einige wenige Individuen aber 23 Stück. Verwandte Arten anderer Gattungen haben 27 bis zu 191 Beinpaare. Bei aller Variabilität kommen jedoch nie Tiere mit einer geraden Zahl von Paaren vor. Wie soll solch ein Muster mit dem Wirken der natürlichen Auslese einsichtig gemacht werden?
Es lasse sich durch ihr Wirken nicht erklären, lautet kurz und bündig Minellis Bescheid. Es gibt einfach keinen Grund anzunehmen, ein Individuum mit 22 Beinpaaren müsse "unfitter" sein als eines mit 23 Paaren. Außerdem spiegele in diesem wie in vielen anderen Fällen die genetische Variabilität weder morphologische Variabilität noch Gleichförmigkeit wider. Nur eine Mitbetrachtung der Mechanismen der Individualentwicklung könne daher Erklärungen für Muster und ihre Abwandlungen erwarten lassen. Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet Minelli kritisch die Rolle von Genen im Entwicklungsgeschehen.
Innerhalb der evolutionären Entwicklungsbiologie existieren zwei Richtungen, die Genen unterschiedlich wichtige Rollen zuschreiben. Eine Richtung betont eine Kontrollhierarchie, an deren Spitze "master control genes" stehen. Die Individualentwicklung entspricht dann der Ausführung eines in der Sprache der DNA geschriebenen Programmes. Bleibende Neuerungen sind nur möglich, wenn sie in diesem Programm kodiert werden.
Minelli gehört hingegen einer Richtung an, die Gene zwar als selbstverständlich notwendig, aber keineswegs als hinreichend betrachtet. Die Kontrolle der Individualentwicklung wird entsprechend als höchst vernetzte und kontextabhängige Angelegenheit vor Augen geführt. Die Beziehung zwischen Genen und Gestalt ist demnach weder einfach noch verlaufe sie nur in eine Richtung. Um die Entstehung neuer Strukturen und Formen zu erklären, müssen der gesamte Entwicklungsprozess und alle beteiligten ursächlichen Faktoren betrachtet werden. Der Blick auf die Gene zeigt nur einen unvollständigen Ausschnitt.
In kaum einem anderen Bereich der Biologie wird ein so tiefes und weitreichendes Interesse an der Geschichte der Biologie demonstriert wie in der evolutionären Entwicklungsbiologie. Minellis geschichtlicher Abriss wird Wissenschaftshistoriker zwar vermutlich kaum zufriedenstellen. Aber sehr zu begrüßen ist, dass dieser Autor im Vergleich zu vielen anderen Darstellungen der Herausbildung der Evolutionsbiologie eine andere als die geläufige Geschichte erzählt.
Charles Darwins Name fällt nur an zwei Stellen, während heute fast vergessene Gestalten wie Etienne Geoffroy St. Hilaire, Georges Cuvier oder Richard Owen prominente Plätze erhalten. Das bedeutet keineswegs, dass Minelli Darwins Bedeutung anzweifelt. Aber die Betonung bisher peripherer Gestalten und lange ausgeblendeter Fragen ermöglicht einen freieren Blick auf die Evolutionsbiologie: auf ihre eigene (Vor-)Geschichte genauso wie auf die Blickverengungen eines genzentrierten Fundamentalismus.
THOMAS WEBER
Alessandro Minelli: "Forms of Becoming". The Evolutionary Biology of Development. Princeton University Press, Princeton 2009. 228 S., 17 Abb., geb., 27,95 $.
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