Produktdetails
- Verlag: Goldmann Verlag
- ISBN-13: 9783442760718
- ISBN-10: 3442760712
- Artikelnr.: 22210176
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.04.1995Patschnaß ist dies Händchen
Ihre Woge, ihr Brecher: Jane Urquhart erzählt vom Wassermann
Einst saßen die weisen Alten am Herdfeuer und erzählten ihren Nachkommen vom Leben und Sterben der Familie. Die Geschichten erklärten die Welt und hießen alle, die andächtig lauschten, Platz zu nehmen in der großen Schiffschaukel des Daseins. Es tröpfelten die Worte und plätscherten die Sätze, bis die Sinnbilder reingewaschen waren, die fortan die Sprößlinge auf ihren Wegen durch Glück und Unglück geleiten sollten. Wenn die Welt auch nicht im Lot war, so erfüllte sich doch mit jedem Schritt die dunkle Ordnung geheimer Mächte.
Längst sind die Herdfeuer verloschen. Draußen dunkelt die Nacht, von den heimeligen Geschichten hängt kein Ton mehr in der Luft, irgendwo lärmen Maschinen. In dieser unwirtlichen Zeit sitzt die Oma alleine, enkellos. Sie heißt Esther und ist über achtzig. Sie kennt ihre Geschichte, und sie erzählt sie noch einmal, für sich selbst. Sie handelt von Frauen in der tauben Welt der Maschinen, Männer und dumpfen Mächte. Jane Urquhart hat sie aufgeschrieben und daraus ein Vermächtnis gemacht für alle, denen das Hören und Fühlen noch nicht vergangen ist. So salbengleich kann Literatur sein, wenn der Dichter es spürt, das Ziehen der Mächte im Kreuz des Daseins.
Die Geschichte beginnt, wie alles Leben, im Wasser. Inmitten einer Schiffsladung von Kohlköpfen und Teekannen, die auf den Wellenkämmen torkelten, lag eines Vormittags im Jahr 1842 ein Matrose hingestreckt auf zwei Whiskeyfässern. Eine junge Frau mit rotem Haar und dem Namen Mary zog den Mann ans Ufer der irischen Insel Rathlin und weiter in ihre Arme. Liebe auf den ersten Blick war es in ihren Augen. Gebettet an seine nackte Brust, übergab sie sich ihren Träumereien, während das hübsche Strandgut sein junges Leben aushauchte. Mary vergaß ihn nicht und stürzte sich seitdem einmal in der Woche kopfüber ins Meer, den Mann zu spüren und mit ihm eins zu sein. "An einem Mittwoch war er in ihre Arme gespült worden, und so würde er über sie hereinbrechen, das wußte sie, jeden Mittwoch bis in alle Ewigkeit. Ihre Woge. Ihr Brecher."
Doch das Leben auf dem Trockenen ging weiter. Mary heiratete einen Schulmeister und wanderte mit ihm nach Kanada aus. Dort bauten sie ein Haus und lebten mit ihren beiden Kindern dahin, wie man eben in der Wildnis der Neuen Welt dahinlebte. Der schöne Wassermann war auf den Grund des Vergessens gesunken, nur manchmal in einsamen Nächten tauchte er auf, und "ihre Fäuste schlossen sich um dunkle, nasse Locken". Oder es geschah, daß sie mit dem Flüßchen vor der Tür liebäugelte, da alles rauschende Wasser wie Liebesgeflüster aus fernen Tagen sie betörte.
Dann aber brach der Damm, und Mary folgte schnurstracks ihrem Verlangen, ging in den tiefen Wald hinein und ließ sich an einem See nieder. Man hätte nichts mehr von ihr gesehen noch gehört, wenn nicht ein Indianer des Weges gekommen wäre, der in der Frau eine seiner Schwestern im Geiste Manitous erblickte, sich um sie sorgte und sie, als sie gestorben war, mit seinen Kumpanen, wie weiland die sieben Zwerge das Schneewittchen, zurück zu Herd und Heim, Schulmeister und Kindern trug, die natürlich über diesen Auftritt mächtig staunten.
Die Tochter Eileen aber hatte es längst geahnt, daß aus dem Wald ein Indianer auftauchen würde, die Mutter auf der Schulter. So machte die Tochter der Mutter keine Schande, sie hatte ihr Erbe angetreten, zu hören und zu sehen, was andere nicht hörten und sahen. Der Vater starb wenig später auch noch, worauf die beiden Kinder sich an den Händen faßten und in die Welt hinauszogen, ihr Glück zu machen. Eines Tages trat in das Leben der rothaarigen Eileen ein Mann, ein Ire, den das Schicksal seines Volkes tief bewegte. Er sagte kein Wort, schwang nur die Beine und schlug damit Eileen in den Bann seiner Leidenschaft. "Kopf, Arme, Hüften, Beine, Füße, Finger und Gesichtsmuskeln bildeten da einen Sturm aus präzisen Bewegungen . . ." Aidan war der Name des Dielenorkans. Sie liebten sich im Heu. Er aber zog weiter, und sie blieb zurück, ganz Verlangen, in einem Zimmer mit Aussicht auf einen See.
Erneut brach ein Damm des Verlangens. Sie also ihm hinterher, doch die leidige Politik um Irlands Sache trennte sie schicksalsheftig und endgültig. Worauf sie Kehrtum machte, nach Haus lief, dort ein Kind gebar, das sie der Frau ihres Bruders in die Obhut gab. Esther hieß die Kleine, und auch sie wurde groß und eine Frau und lebte schließlich an einem See, an dessen Ufer eines Nachts ein Boot anlegte. Heraus sprang ein Mann. "Als sie die Tür öffnete, sah sie unüberrascht auf seine dunklen Locken, die blasse Hand und die hellen grünen Augen." Der Mann kam, der Mann ging, und schließlich blieb der Mann fort, im normalen Sinne. Esther wurde mit ihrer Geschichte alt, während draußen die Natur der Arbeit zum Opfer fiel. "Die Männer im Steinbruch, zornig über etwas, das sie selbst nicht verstanden, schieben das Kinn vor und legen mit grimmiger Entschlossenheit die Gänge ihrer Maschinen ein." Sie scheinen das letzte Wort zu haben.
Das Ende ist nahe, Oma Esther wird sterben, doch ihr Geist wird über den Wassern schweben und in den Ohren all derer klingen, die rothaarig am Ufer weilen, in ungestillter Sehnsucht und glimmender Leidenschaft. Immergrün strahlen die Augen des Geliebten in die Träume hinein. Die Reise zu den Herzen der Frauen, die das Salz noch schmecken, hat längst begonnen. Jane Urquhart sitzt mit im Boot und wedelt mit Bildern. Sie flattern bunt in Fahrtrichtung. EBERHARD RATHGEB
Jane Urquhart: "Fort". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Werner Richter. Berlin Verlag, Berlin 1995. 430 S., geb., 48,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ihre Woge, ihr Brecher: Jane Urquhart erzählt vom Wassermann
Einst saßen die weisen Alten am Herdfeuer und erzählten ihren Nachkommen vom Leben und Sterben der Familie. Die Geschichten erklärten die Welt und hießen alle, die andächtig lauschten, Platz zu nehmen in der großen Schiffschaukel des Daseins. Es tröpfelten die Worte und plätscherten die Sätze, bis die Sinnbilder reingewaschen waren, die fortan die Sprößlinge auf ihren Wegen durch Glück und Unglück geleiten sollten. Wenn die Welt auch nicht im Lot war, so erfüllte sich doch mit jedem Schritt die dunkle Ordnung geheimer Mächte.
Längst sind die Herdfeuer verloschen. Draußen dunkelt die Nacht, von den heimeligen Geschichten hängt kein Ton mehr in der Luft, irgendwo lärmen Maschinen. In dieser unwirtlichen Zeit sitzt die Oma alleine, enkellos. Sie heißt Esther und ist über achtzig. Sie kennt ihre Geschichte, und sie erzählt sie noch einmal, für sich selbst. Sie handelt von Frauen in der tauben Welt der Maschinen, Männer und dumpfen Mächte. Jane Urquhart hat sie aufgeschrieben und daraus ein Vermächtnis gemacht für alle, denen das Hören und Fühlen noch nicht vergangen ist. So salbengleich kann Literatur sein, wenn der Dichter es spürt, das Ziehen der Mächte im Kreuz des Daseins.
Die Geschichte beginnt, wie alles Leben, im Wasser. Inmitten einer Schiffsladung von Kohlköpfen und Teekannen, die auf den Wellenkämmen torkelten, lag eines Vormittags im Jahr 1842 ein Matrose hingestreckt auf zwei Whiskeyfässern. Eine junge Frau mit rotem Haar und dem Namen Mary zog den Mann ans Ufer der irischen Insel Rathlin und weiter in ihre Arme. Liebe auf den ersten Blick war es in ihren Augen. Gebettet an seine nackte Brust, übergab sie sich ihren Träumereien, während das hübsche Strandgut sein junges Leben aushauchte. Mary vergaß ihn nicht und stürzte sich seitdem einmal in der Woche kopfüber ins Meer, den Mann zu spüren und mit ihm eins zu sein. "An einem Mittwoch war er in ihre Arme gespült worden, und so würde er über sie hereinbrechen, das wußte sie, jeden Mittwoch bis in alle Ewigkeit. Ihre Woge. Ihr Brecher."
Doch das Leben auf dem Trockenen ging weiter. Mary heiratete einen Schulmeister und wanderte mit ihm nach Kanada aus. Dort bauten sie ein Haus und lebten mit ihren beiden Kindern dahin, wie man eben in der Wildnis der Neuen Welt dahinlebte. Der schöne Wassermann war auf den Grund des Vergessens gesunken, nur manchmal in einsamen Nächten tauchte er auf, und "ihre Fäuste schlossen sich um dunkle, nasse Locken". Oder es geschah, daß sie mit dem Flüßchen vor der Tür liebäugelte, da alles rauschende Wasser wie Liebesgeflüster aus fernen Tagen sie betörte.
Dann aber brach der Damm, und Mary folgte schnurstracks ihrem Verlangen, ging in den tiefen Wald hinein und ließ sich an einem See nieder. Man hätte nichts mehr von ihr gesehen noch gehört, wenn nicht ein Indianer des Weges gekommen wäre, der in der Frau eine seiner Schwestern im Geiste Manitous erblickte, sich um sie sorgte und sie, als sie gestorben war, mit seinen Kumpanen, wie weiland die sieben Zwerge das Schneewittchen, zurück zu Herd und Heim, Schulmeister und Kindern trug, die natürlich über diesen Auftritt mächtig staunten.
Die Tochter Eileen aber hatte es längst geahnt, daß aus dem Wald ein Indianer auftauchen würde, die Mutter auf der Schulter. So machte die Tochter der Mutter keine Schande, sie hatte ihr Erbe angetreten, zu hören und zu sehen, was andere nicht hörten und sahen. Der Vater starb wenig später auch noch, worauf die beiden Kinder sich an den Händen faßten und in die Welt hinauszogen, ihr Glück zu machen. Eines Tages trat in das Leben der rothaarigen Eileen ein Mann, ein Ire, den das Schicksal seines Volkes tief bewegte. Er sagte kein Wort, schwang nur die Beine und schlug damit Eileen in den Bann seiner Leidenschaft. "Kopf, Arme, Hüften, Beine, Füße, Finger und Gesichtsmuskeln bildeten da einen Sturm aus präzisen Bewegungen . . ." Aidan war der Name des Dielenorkans. Sie liebten sich im Heu. Er aber zog weiter, und sie blieb zurück, ganz Verlangen, in einem Zimmer mit Aussicht auf einen See.
Erneut brach ein Damm des Verlangens. Sie also ihm hinterher, doch die leidige Politik um Irlands Sache trennte sie schicksalsheftig und endgültig. Worauf sie Kehrtum machte, nach Haus lief, dort ein Kind gebar, das sie der Frau ihres Bruders in die Obhut gab. Esther hieß die Kleine, und auch sie wurde groß und eine Frau und lebte schließlich an einem See, an dessen Ufer eines Nachts ein Boot anlegte. Heraus sprang ein Mann. "Als sie die Tür öffnete, sah sie unüberrascht auf seine dunklen Locken, die blasse Hand und die hellen grünen Augen." Der Mann kam, der Mann ging, und schließlich blieb der Mann fort, im normalen Sinne. Esther wurde mit ihrer Geschichte alt, während draußen die Natur der Arbeit zum Opfer fiel. "Die Männer im Steinbruch, zornig über etwas, das sie selbst nicht verstanden, schieben das Kinn vor und legen mit grimmiger Entschlossenheit die Gänge ihrer Maschinen ein." Sie scheinen das letzte Wort zu haben.
Das Ende ist nahe, Oma Esther wird sterben, doch ihr Geist wird über den Wassern schweben und in den Ohren all derer klingen, die rothaarig am Ufer weilen, in ungestillter Sehnsucht und glimmender Leidenschaft. Immergrün strahlen die Augen des Geliebten in die Träume hinein. Die Reise zu den Herzen der Frauen, die das Salz noch schmecken, hat längst begonnen. Jane Urquhart sitzt mit im Boot und wedelt mit Bildern. Sie flattern bunt in Fahrtrichtung. EBERHARD RATHGEB
Jane Urquhart: "Fort". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Werner Richter. Berlin Verlag, Berlin 1995. 430 S., geb., 48,- DM.
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