Günter Kunert, einer der wichtigsten und produktivsten Lyriker des 20. Jahrhunderts, feiert seinen fünfundachtzigsten Geburtstag auf die einzig angemessene Weise: Mit einem neuen Gedichtband, der seine charakteristischsten Gedichte aus dem 21. Jahrhundert versammelt. Mit ihm resümiert Kunert, was aus den kleinen und großen Untergängen der Weltgeschichte übrig bleibt. "Kunerts Gedichte formulieren die Fragen eines skeptischen Zeitgenossen", schrieb Marcel Reich-Ranicki.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Pünktlich zum 85. Geburtstag des Dichters erscheint dieser neue Gedichtband von Günter Kunert. Wulf Segebrecht begegnet darin zwar nicht mehr dem alten Warner und Bekenner Kunert, dafür aber einem, der die Heillosigkeit der Welt für eine ausgemachte Sache hält und davon kritisch berichtet. Ohne Selbstmitleid und Zorn, wie Segebrecht bewundernd schreibt. Der Rezensent liest Autobiografisches und Historisches in schöner Ausgewogenheit, chronologisch geordnet von 2005 bis 2013, wie gewohnt vertrackt, übermütig und vieldeutig variiert getönt, meisterlich zugespitzt und laut Segebrecht von stupendem Einfalls- und Kombinationsreichtum zeugend, etwa: "Der Chronist krankt an der Zeit / und zwar chronisch". Am Ende erkennt der Rezensent doch mehr als einen Funken Zuversicht. Er steckt in der Zukunft der Poesie.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.03.2014Unter der Haut brennt noch immer seine Geschichte
Heillos aufgeklärt: Günter Kunert, der kühne Zyniker unter Deutschlands Dichtern, legt zu seinem 85. Geburtstag einen neuen Gedichtband vor
Es lässt sich nicht verschweigen: Der Dichter Günter Kunert ist ein Vielschreiber." Das klingt nicht gerade liebevoll. Marcel Reich-Ranicki eröffnete 1979 mit diesem provozierenden Satz eine längere Studie über Kunerts Gedichte - voller Bewunderung für den obsessiven Aufklärer. Dennoch blieb der "Vielschreiber"-Stachel haften: "Sie halten mich für eine Fabrik, in der im Fließband-System Gedichte und Geschichten produziert werden", replizierte Kunert noch Jahre später in einem Brief, mit dem er Reich-Ranicki gleichwohl umgehend ein neues Gedicht zum Druck in dieser Zeitung offerierte, wo es auch alsbald erschien. Und den Vorwurf der Vielschreiberei reichte er als Sottise gleich an einen anderen Lyriker weiter: "Aber da verwechseln Sie mich, zumindest was die Gedichte angeht, mit der Firma E. Fried."
Beide, der Dichter und sein Rezensent, trieben ihr intellektuelles Frotzelspiel aus freundschaftlichem Spott und lustiger Provokation miteinander, ein Spiel, das ihre gegenseitige Wertschätzung ironisch eher offenbarte als verbarg. Sie wussten: Es gibt nicht zu viele Gedichte, sondern zu viele schlechte. Den Grund für ein solches Zuviel bedenkt Kunert in dem Gedicht "Olympiadeure" in seinem jüngsten Gedichtband, der gerade rechtzeitig zu Kunerts heutigem 85. Geburtstag erschienen ist: "Zu viele Dichter bedichten / zu viele eigene Leiden", heißt es dort.
Das mag manchem Lyrik-Liebhaber und manchem Kunert-Enthusiasten überraschend und befremdlich erscheinen. War es denn nicht seit jeher, hört man sie sagen, sehr frei nach Tasso, die Aufgabe der Lyrik, "zu sagen, wie ich leide"? Und sind es nicht die eigenen Leiderfahrungen Günter Kunerts in der Nazi- und DDR-Zeit, die ihm, wie seine Interpreten behaupten, immer wieder die Feder führten? Gegen solche kurzschlüssigen Aufgabenzuweisungen an die Lyrik und biographischen Herleitungen geht Kunert vehement an: "Was die Alphabetisten / beichten, gequält / vom eigenen Ich, verdient / keine Absolution". In dieser rigorosen Abweisung der lyrischen Leidbeichtiger geben sich indirekt Kunerts eigenes Verständnis und seine Praxis der Lyrik zu erkennen: Seine Gedichte begnügen sich nicht mit der öffentlichen Kundgabe des persönlichen eigenen Gefühlslebens.
"Mit Herzblut schreibt man keine Gedichte", hat er kürzlich in einem Interview erklärt, und auch nicht mit Schaum vorm Mund, könnte man hinzufügen. Kunert lässt sich weder von Selbstmitleid noch von Zorn leiten. Seine Gedichte könnte man eher als kritische Befunde bezeichnen, denn Kunert ist ein gnadenloser Diagnostiker. Er sieht, was ist; und was ist, das ist vergänglich. Er sieht, wohin er sieht, nur Vergänglichkeit auf Erden: Aussichtslosigkeiten, Katastrophen, Niederlagen, Untergänge, die er unerbittlich registriert. Mit gutem Grund verweist Hubert Witt im Nachwort auf die hier nachwirkende Tradition der Vanitas-Gedichte des Barockzeitalters, deren Gegenwelt auch bei Kunert das "Carpe diem" sei, die Daseinsfreude.
Doch von einer Aufmunterung zum Vergnügen ist nicht viel zu sehen. Ein Aufklärer ist Kunert zwar geblieben, aber längst hat er alle belehrenden Impulse der aufklärerischen Gedichte seiner Frühzeit hinter sich gelassen: Appelle, Bekenntnisse, Warnungen, Botschaften und Tröstungen gibt es nicht mehr bei ihm, wenn man es nicht als tröstlich und heilsam betrachten mag, über die Heillosigkeit der Welt aufgeklärt zu werden.
Wer die Welt als heil und gesund betrachtet, leidet, Kunert zufolge, an einer mangelhaften Wahrnehmungsfähigkeit. Und das nicht erst heute. In dem Gedicht "Allerdings Dresden" hält Kunert dem romantischen Naturphilosophen Gotthilf Heinrich Schubert (der Kleist und E. T. A. Hoffmann nachhaltig beeinflusst hat) gleich viermal vor, er habe "1808 / in seiner Vorlesung ,Über Hellsehen und Träume'" Entscheidendes verschwiegen, nämlich "den versteinerten Engel / über dem Ruinenfeld", "lodernde Leichenhaufen", "die todbringende wie die todgeweihte / Unschuld", mithin das ganze Inferno der Bombenangriffe auf Dresden im Februar 1945. Es ist ein polemischer Anachronismus: Eine Philosophie, die vom Menschen behauptet, "daß die innigste Harmonie seines Wesens mit der ganzen äußern Natur der ursprüngliche Zustand desselben war" und dass nach dem Verlust dieser Einheit der "Baum des Paradieses, wie ihn die Dichter nannten, jene unsterbliche Gabe einer höheren Welt, zuletzt immer frölicher und allgemeiner gedeihen" werde - eine solche Prognose war schon 1808 ignorant, und sie wird es vollends angesichts der Unheilserfahrungen der jüngeren Geschichte. Der Diarist Kunert hat seine neuen Gedichte, die überwiegend aus den Jahren 2005 bis 2013 stammen, chronologisch angeordnet und mit präzisen Angaben der Entstehungsdaten versehen. Er ist stets Autobiograph und Geschichtsschreiber zugleich. Einige Gedichte gelten historischen Daten der Zeitgeschichte, die für Kunerts Leben einschneidend bedeutungsvoll waren ("Neunzehnhundertfünfundvierzig", "Neunzehnhundertneunundachtzig"), und beispielsweise dem Holocaust-Gedenktag des Jahres 2011. Andere Gedichte gehen noch weiter in die Zeit der Kindheit Kunerts zurück; so spricht das Gedicht "Stallschreiberstraße, Berlin" von "einer Straße, die / es nicht mehr gibt. In einer Stadt / die auch nicht mehr existiert. / ... in jener Welt, / die es demnächst auch nicht mehr geben wird".
Erinnerung, Vergegenwärtigung und Prognose, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft greifen ineinander: "Der Chronist krankt an der Zeit / und zwar chronisch", heißt es an anderer Stelle und: "unter der Haut brennt / noch immer meine Geschichte, unheilbares Leiden". Es ist die Geschichte dessen, der als Kind in der Nazi-Zeit als sogenannter "Halbjude" (seine Mutter war Jüdin) kein Gymnasium besuchen durfte und auch später, in der DDR, als nicht zugehörig betrachtet und behandelt wurde: ein Dissident lebenslang, in Berlin beheimatet, in Kaisborstel bei Itzehoe zu Hause und nur "Ein einziges Mal / war ich in Jerusalem und werde / in keinem der nächsten Jahre dort sein". So steht es in dem Gedicht "Zu Gast".
"Jüdische Geschichte ist ein Fortsetzungsroman / ohne Ende. Ich bin zwangsweise / darauf abonniert, doch / auf die Fortsetzungen nicht neugierig", heißt es hier und: "Vor einer Buchhandlung schaute ich / auf die Druckerzeugnisse / von ein paar Meschuggenen, denen die Schrift / so heilig ist wie mir". Diese Formulierung ist auf kunerttypische Art vertrackt und mehrdeutig: Sie lässt offen, von welcher heiligen Schrift hier eigentlich die Rede ist, vom "Buch der Bücher" der Juden oder dem der Christen; oder nur von den hebräischen Schriftzeichen, die für den "Gast" schwer zu entziffern sind?
Auf solche halb übermütig-witzigen, halb abgründigen Kapriolen muss gefasst sein, wer sich auf Kunerts Kunst einlässt. Es herrscht in diesem poetischen Journal zwar keine Vielfalt der Gedichtformen (es gibt nur drei gereimte strophische Gedichte), dafür aber die höchste Varietät der Töne, und Kunert erweist sich dabei abermals als Meister zugespitzter Formulierungen. Der Mensch: "zum Unkraut geboren, zum Humus bestellt" - das ist sicherlich nicht von jedermann leicht zu goutieren. Was hilft's! Kunert ist in seinem Einfalls- und Kombinationsreichtum eben auch ein Spieler, und der spielt mit hohem Einsatz, gelegentlich aber auch mit kleiner Münze.
Einige, ganz wenige Gedichte fallen völlig aus dem Rahmen. Sie erörtern weder diagnostische Befunde über den verheerenden Zustand der Welt, noch betreiben sie spielerische Experimente mit Formen und Einfällen. Sie gelten dem Gedicht selbst, das eine absolute Ausnahmeexistenz unter allen zum Untergang bestimmten Phänomenen zu führen scheint:
Das Gedicht
wartet lange
auf seine Stunde, eine glückliche
oder unglückliche. Wartet
einen Tag, ein Jahr,
ein Leben lang, ehe
es selber zu leben beginnt.
Wiedererstandener Phönix
aus der abgründigen Schwärze
fliegt oder flüchtet
durch Mauern und Wände, vorbei
an Bajonetten und grellen Fassaden.
Immer aufs Neue verjagt und
vermißt, verachtet und aufs Neue
willkommen geheißen:
das Gedicht.
Zuversichtlicher lässt sich über die Zukunft der Poesie kaum reden. Kunerts "Quintessenz poetologisch" geht noch weiter: "Die schönsten Gedichte / sind die ungeschriebenen. / Leichter als Luft, / von einem Atemhauch schon / verweht. Sie hinterlassen / auf den Lippen den bitterlichen / Geschmack von Ewigkeit." Darf man ihm unter solchen wunderbaren Umständen überhaupt wünschen, solche Gedichte aufzuschreiben? Am Samstag schreibt er an dieser Stelle über die Verse eines Kollegen: Dann interpretiert Kunert ein Gedicht von Heinz Czechowski für die "Frankfurter Anthologie".
WULF SEGEBRECHT
Günter Kunert: "Fortgesetztes Vermächtnis". Gedichte. Auswahl und Nachwort von Hubert Witt. Carl Hanser Verlag, München 2014. 176 S., geb., 14,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Heillos aufgeklärt: Günter Kunert, der kühne Zyniker unter Deutschlands Dichtern, legt zu seinem 85. Geburtstag einen neuen Gedichtband vor
Es lässt sich nicht verschweigen: Der Dichter Günter Kunert ist ein Vielschreiber." Das klingt nicht gerade liebevoll. Marcel Reich-Ranicki eröffnete 1979 mit diesem provozierenden Satz eine längere Studie über Kunerts Gedichte - voller Bewunderung für den obsessiven Aufklärer. Dennoch blieb der "Vielschreiber"-Stachel haften: "Sie halten mich für eine Fabrik, in der im Fließband-System Gedichte und Geschichten produziert werden", replizierte Kunert noch Jahre später in einem Brief, mit dem er Reich-Ranicki gleichwohl umgehend ein neues Gedicht zum Druck in dieser Zeitung offerierte, wo es auch alsbald erschien. Und den Vorwurf der Vielschreiberei reichte er als Sottise gleich an einen anderen Lyriker weiter: "Aber da verwechseln Sie mich, zumindest was die Gedichte angeht, mit der Firma E. Fried."
Beide, der Dichter und sein Rezensent, trieben ihr intellektuelles Frotzelspiel aus freundschaftlichem Spott und lustiger Provokation miteinander, ein Spiel, das ihre gegenseitige Wertschätzung ironisch eher offenbarte als verbarg. Sie wussten: Es gibt nicht zu viele Gedichte, sondern zu viele schlechte. Den Grund für ein solches Zuviel bedenkt Kunert in dem Gedicht "Olympiadeure" in seinem jüngsten Gedichtband, der gerade rechtzeitig zu Kunerts heutigem 85. Geburtstag erschienen ist: "Zu viele Dichter bedichten / zu viele eigene Leiden", heißt es dort.
Das mag manchem Lyrik-Liebhaber und manchem Kunert-Enthusiasten überraschend und befremdlich erscheinen. War es denn nicht seit jeher, hört man sie sagen, sehr frei nach Tasso, die Aufgabe der Lyrik, "zu sagen, wie ich leide"? Und sind es nicht die eigenen Leiderfahrungen Günter Kunerts in der Nazi- und DDR-Zeit, die ihm, wie seine Interpreten behaupten, immer wieder die Feder führten? Gegen solche kurzschlüssigen Aufgabenzuweisungen an die Lyrik und biographischen Herleitungen geht Kunert vehement an: "Was die Alphabetisten / beichten, gequält / vom eigenen Ich, verdient / keine Absolution". In dieser rigorosen Abweisung der lyrischen Leidbeichtiger geben sich indirekt Kunerts eigenes Verständnis und seine Praxis der Lyrik zu erkennen: Seine Gedichte begnügen sich nicht mit der öffentlichen Kundgabe des persönlichen eigenen Gefühlslebens.
"Mit Herzblut schreibt man keine Gedichte", hat er kürzlich in einem Interview erklärt, und auch nicht mit Schaum vorm Mund, könnte man hinzufügen. Kunert lässt sich weder von Selbstmitleid noch von Zorn leiten. Seine Gedichte könnte man eher als kritische Befunde bezeichnen, denn Kunert ist ein gnadenloser Diagnostiker. Er sieht, was ist; und was ist, das ist vergänglich. Er sieht, wohin er sieht, nur Vergänglichkeit auf Erden: Aussichtslosigkeiten, Katastrophen, Niederlagen, Untergänge, die er unerbittlich registriert. Mit gutem Grund verweist Hubert Witt im Nachwort auf die hier nachwirkende Tradition der Vanitas-Gedichte des Barockzeitalters, deren Gegenwelt auch bei Kunert das "Carpe diem" sei, die Daseinsfreude.
Doch von einer Aufmunterung zum Vergnügen ist nicht viel zu sehen. Ein Aufklärer ist Kunert zwar geblieben, aber längst hat er alle belehrenden Impulse der aufklärerischen Gedichte seiner Frühzeit hinter sich gelassen: Appelle, Bekenntnisse, Warnungen, Botschaften und Tröstungen gibt es nicht mehr bei ihm, wenn man es nicht als tröstlich und heilsam betrachten mag, über die Heillosigkeit der Welt aufgeklärt zu werden.
Wer die Welt als heil und gesund betrachtet, leidet, Kunert zufolge, an einer mangelhaften Wahrnehmungsfähigkeit. Und das nicht erst heute. In dem Gedicht "Allerdings Dresden" hält Kunert dem romantischen Naturphilosophen Gotthilf Heinrich Schubert (der Kleist und E. T. A. Hoffmann nachhaltig beeinflusst hat) gleich viermal vor, er habe "1808 / in seiner Vorlesung ,Über Hellsehen und Träume'" Entscheidendes verschwiegen, nämlich "den versteinerten Engel / über dem Ruinenfeld", "lodernde Leichenhaufen", "die todbringende wie die todgeweihte / Unschuld", mithin das ganze Inferno der Bombenangriffe auf Dresden im Februar 1945. Es ist ein polemischer Anachronismus: Eine Philosophie, die vom Menschen behauptet, "daß die innigste Harmonie seines Wesens mit der ganzen äußern Natur der ursprüngliche Zustand desselben war" und dass nach dem Verlust dieser Einheit der "Baum des Paradieses, wie ihn die Dichter nannten, jene unsterbliche Gabe einer höheren Welt, zuletzt immer frölicher und allgemeiner gedeihen" werde - eine solche Prognose war schon 1808 ignorant, und sie wird es vollends angesichts der Unheilserfahrungen der jüngeren Geschichte. Der Diarist Kunert hat seine neuen Gedichte, die überwiegend aus den Jahren 2005 bis 2013 stammen, chronologisch angeordnet und mit präzisen Angaben der Entstehungsdaten versehen. Er ist stets Autobiograph und Geschichtsschreiber zugleich. Einige Gedichte gelten historischen Daten der Zeitgeschichte, die für Kunerts Leben einschneidend bedeutungsvoll waren ("Neunzehnhundertfünfundvierzig", "Neunzehnhundertneunundachtzig"), und beispielsweise dem Holocaust-Gedenktag des Jahres 2011. Andere Gedichte gehen noch weiter in die Zeit der Kindheit Kunerts zurück; so spricht das Gedicht "Stallschreiberstraße, Berlin" von "einer Straße, die / es nicht mehr gibt. In einer Stadt / die auch nicht mehr existiert. / ... in jener Welt, / die es demnächst auch nicht mehr geben wird".
Erinnerung, Vergegenwärtigung und Prognose, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft greifen ineinander: "Der Chronist krankt an der Zeit / und zwar chronisch", heißt es an anderer Stelle und: "unter der Haut brennt / noch immer meine Geschichte, unheilbares Leiden". Es ist die Geschichte dessen, der als Kind in der Nazi-Zeit als sogenannter "Halbjude" (seine Mutter war Jüdin) kein Gymnasium besuchen durfte und auch später, in der DDR, als nicht zugehörig betrachtet und behandelt wurde: ein Dissident lebenslang, in Berlin beheimatet, in Kaisborstel bei Itzehoe zu Hause und nur "Ein einziges Mal / war ich in Jerusalem und werde / in keinem der nächsten Jahre dort sein". So steht es in dem Gedicht "Zu Gast".
"Jüdische Geschichte ist ein Fortsetzungsroman / ohne Ende. Ich bin zwangsweise / darauf abonniert, doch / auf die Fortsetzungen nicht neugierig", heißt es hier und: "Vor einer Buchhandlung schaute ich / auf die Druckerzeugnisse / von ein paar Meschuggenen, denen die Schrift / so heilig ist wie mir". Diese Formulierung ist auf kunerttypische Art vertrackt und mehrdeutig: Sie lässt offen, von welcher heiligen Schrift hier eigentlich die Rede ist, vom "Buch der Bücher" der Juden oder dem der Christen; oder nur von den hebräischen Schriftzeichen, die für den "Gast" schwer zu entziffern sind?
Auf solche halb übermütig-witzigen, halb abgründigen Kapriolen muss gefasst sein, wer sich auf Kunerts Kunst einlässt. Es herrscht in diesem poetischen Journal zwar keine Vielfalt der Gedichtformen (es gibt nur drei gereimte strophische Gedichte), dafür aber die höchste Varietät der Töne, und Kunert erweist sich dabei abermals als Meister zugespitzter Formulierungen. Der Mensch: "zum Unkraut geboren, zum Humus bestellt" - das ist sicherlich nicht von jedermann leicht zu goutieren. Was hilft's! Kunert ist in seinem Einfalls- und Kombinationsreichtum eben auch ein Spieler, und der spielt mit hohem Einsatz, gelegentlich aber auch mit kleiner Münze.
Einige, ganz wenige Gedichte fallen völlig aus dem Rahmen. Sie erörtern weder diagnostische Befunde über den verheerenden Zustand der Welt, noch betreiben sie spielerische Experimente mit Formen und Einfällen. Sie gelten dem Gedicht selbst, das eine absolute Ausnahmeexistenz unter allen zum Untergang bestimmten Phänomenen zu führen scheint:
Das Gedicht
wartet lange
auf seine Stunde, eine glückliche
oder unglückliche. Wartet
einen Tag, ein Jahr,
ein Leben lang, ehe
es selber zu leben beginnt.
Wiedererstandener Phönix
aus der abgründigen Schwärze
fliegt oder flüchtet
durch Mauern und Wände, vorbei
an Bajonetten und grellen Fassaden.
Immer aufs Neue verjagt und
vermißt, verachtet und aufs Neue
willkommen geheißen:
das Gedicht.
Zuversichtlicher lässt sich über die Zukunft der Poesie kaum reden. Kunerts "Quintessenz poetologisch" geht noch weiter: "Die schönsten Gedichte / sind die ungeschriebenen. / Leichter als Luft, / von einem Atemhauch schon / verweht. Sie hinterlassen / auf den Lippen den bitterlichen / Geschmack von Ewigkeit." Darf man ihm unter solchen wunderbaren Umständen überhaupt wünschen, solche Gedichte aufzuschreiben? Am Samstag schreibt er an dieser Stelle über die Verse eines Kollegen: Dann interpretiert Kunert ein Gedicht von Heinz Czechowski für die "Frankfurter Anthologie".
WULF SEGEBRECHT
Günter Kunert: "Fortgesetztes Vermächtnis". Gedichte. Auswahl und Nachwort von Hubert Witt. Carl Hanser Verlag, München 2014. 176 S., geb., 14,90 [Euro].
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