Sie hat uns überzeugend erklärt, warum es so kompliziert ist, eine Frau zu sein. Nun legt Katja Kullmann die faszinierende Geschichte einer jungen Frau vor, die ein ganz anderes Leben will.
Ein großartiger Neuanfang soll es sein: Simone kommt aus demDorf in die Stadt, mit kleinem Gepäck, großen Hoffnungen und ein paar Erinnerungen, die sie dringend loswerden will. Bloß keine Schinkenbrote mehr essen und nicht mehr "Fräulein" genannt werden. Die bunte Illustriertenwelt ist die Vorlage für ihren Traum. Sie hat sich ihren Dialekt abtrainiert, kennt sich aus mit Glitzerkleidern und weiß genau, was Schönheit kostet. Aber Simone landet in den Katakomben der Stadt, im Studio de la Beaute. Der Arbeitskittel kratzt, die Kolleginnen bleiben ihr fremd, alles riecht nach künstlicher Vanille. Und nach einer großen Enttäuschung. Dann erscheint ein neuer Kunde. Jung, gebildet und gewandt, umschmeichelt er sie mit verführerischen Wortspielen, und je länger sie ihm zuhört, desto mehr wird er ihr
Ein großartiger Neuanfang soll es sein: Simone kommt aus demDorf in die Stadt, mit kleinem Gepäck, großen Hoffnungen und ein paar Erinnerungen, die sie dringend loswerden will. Bloß keine Schinkenbrote mehr essen und nicht mehr "Fräulein" genannt werden. Die bunte Illustriertenwelt ist die Vorlage für ihren Traum. Sie hat sich ihren Dialekt abtrainiert, kennt sich aus mit Glitzerkleidern und weiß genau, was Schönheit kostet. Aber Simone landet in den Katakomben der Stadt, im Studio de la Beaute. Der Arbeitskittel kratzt, die Kolleginnen bleiben ihr fremd, alles riecht nach künstlicher Vanille. Und nach einer großen Enttäuschung. Dann erscheint ein neuer Kunde. Jung, gebildet und gewandt, umschmeichelt er sie mit verführerischen Wortspielen, und je länger sie ihm zuhört, desto mehr wird er ihr
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.10.2004Erniedrigte und Beförderte
Endlich bekennt sich die Literatur zum Anzugträger: Warum es gut ist, daß deutschsprachige Autoren den Angestellten entdeckt haben
Eine kurze Musterung des Personals literarischer Spitzentitel dieses Herbstes fördert folgende Figuren zutage: Großunternehmer und Psychiater, Fotografen und Komponistinnen, Schlagzeuger, Sängerinnen, Schauspieler und immer wieder Dichter, Schriftsteller, Künstler also. Der kleine Mann von der Straße, der derzeit ständig auf die Straße geht, und die kleine Miss, die schließlich ebenfalls diese Bücher kaufen und lesen soll, sind unterbesetzt, oder fehlen ganz.
Es ist kein Geheimnis, daß manche deutschsprachige Autoren sich vor richtigen Berufen in ihren Büchern scheuen. Und daß sich Schriftsteller selbst am liebsten ein zweites Mal auf Papier erfinden, ist zudem kein rein deutsches Phänomen - gerade ist etwa mit Philip Roth schon wieder jemand nicht Nobelpreisträger geworden, der seit Jahr und Tag sich selbst beschreibt. Dennoch tauchen vor allem seit Beginn der Rezession in der deutschen Literatur auffällig viele Gestalten auf, die in dieser Prominenz bislang eigentlich nur bei Spezialisten wie Hans Fallada, Dorothy Parker oder Alan Sillitoe zu finden waren: Angestellte. Lohnempfänger. Entfremdete.
Ist das gut so? Brauchen wir wieder eine Literatur der Arbeitswelt, wie sie vor mehr als dreißig Jahren Max von der Grün, Günter Wallraff oder Erika Runge schrieben? Brauchen wir eine Neuauflage der "Bottroper Protokolle", nur daß jetzt nicht mehr Bergarbeiter aus dem Ruhrpott in der edition suhrkamp ihr Leid klagen, sondern gescheiterte Start-up-Verlierer aus Berlin-Mitte? Mit den "Minusvisionen" des Autors Ingo Niermann sind ebensolche "Protokolle von Unternehmern ohne Geld" übrigens im vorigen Herbst in ebendieser Verlagsreihe erschienen. Und nicht nur die Lektüre der "Minusvisionen" zeigte: Doch, wir brauchen diese Literatur sehr. Wir haben die Angestelltenliteratur vielleicht sogar bitter nötig.
Die Krise als Chance
Nicht nur, weil die Mitschriften der Realität aufrichten und Trost spenden, Trost, daß es immer noch schlimmer geht als in den eigenen vier Wänden. Nein, wir brauchen diese Alltagsliteratur auch, weil uns sonst ein einzigartiger Stoff verlorenginge. Voller Konflikte, Triumphe und Tragödien, Blut, Schweiß und Tränen, Langeweile, Verdruß und Trott, abgebildet in Einliegerwohnungen, Bungalows und Fußgängerzonen, fast wie im richtigen Leben: Das Einerlei und die Krise als Chance für die Literatur.
Der Münsteraner Schriftsteller Burkhard Spinnen hat diese Chance längst ergriffen. Seit Jahr und Tag feilt er an einer Phänomenologie des altbundesrepublikanischen Alltags, und auch sein neuer Erzählungsband "Der Reservetorwart" versucht sich abermals an nichts anderem. Spinnen schreibt wie mit angespitztem Bleistift, bleigrau und sparsam, über das Mittelmaß und die Angst, darüber hinauszuwachsen - vom Ersatzspieler auf der Auswechselbank zur Nummer eins zwischen den Pfosten zu werden, vom entlassenen Finanzvorstand zum Unternehmensberater, vom treuen Gatten zum Ehebrecher. Und wie es sich für die Welt, die er beschreibt, gehört, hat sich bei Spinnen eine stilistische Routine eingeschlichen, die aber seinem Projekt nicht schadet, ihm sogar erst recht auf die Sprünge hilft: Man betritt seine Erzählwelt wie das eigene Büro. Es riecht vertraut, die Kollegen grüßen, schon ist der Kaffee aufgesetzt und läuft durch den Filter, Bürotassen klacken leise aneinander, und dann schlägt das Grauen zu.
Vielleicht ist es gerade der spezielle Schrecken unserer stoßgedämpften Arbeitswelt, dieser "Komfortgemeinschaft", wie Peter Sloterdijk sie kürzlich nannte, daß wir glauben sollen, daß der Lohnerwerb nicht mehr weh tut, daß Arbeit enthierarchisiert wird und die Entscheidungen in die Breite verlagert oder breitgetreten werden, daß Unternehmen wie Großfamilien sind. In den Bürolofts der Berliner Republik wird mittags zusammen gekocht, sogar Sojamilch steht zum Aufschäumen für den Caffé Latte im Kühlschrank neben den probiotischen Joghurts bereit, und nach gemeinsamer Mahlzeit rollen die Kollegen auf ergonomischen Stühlen an ihre Schreibtische zurück. Es ist gemütlich, heimelig, stickig: Arbeitest du noch, oder klebst du schon an diesen Stühlen fest? Und ist es nicht weniger ein Schicksalsschlag als vielmehr ein Befreiungsschlag, wenn man zwischen diese Stühle gefallen ist? In Corinne Maiers "Bonjour Paresse" ist das (siehe gegenüberliegende Seite) schön nachzulesen.
Daß inzwischen mehr und mehr Schreibtische verwaist sind, darüber hat der Schweizer Autor Rolf Dobelli jetzt seinen zweiten Roman geschrieben. Vorigen Herbst schwamm er, der sich als CEO verschiedener Unternehmen offenbar ein Gespür für Konjunktur angeeignet hat, ganz oben auf einer Welle von Neuerscheinungen über das Leben und Leiden der "Thirtysomethings". Seine Hauptfigur Gehrer, den er in "Fünfunddreißig" noch in eine Lebenskrise stürzte, wird in "Und was machen Sie beruflich?" vor die Tür gesetzt, entlassen, eingespart.
Gehirnwäsche im Büro
Jetzt ist er nicht mehr Marketingchef, sondern arbeitslos, und nun driftet er ab. Doch was Sven Regeners Frank Lehmann in "Neue Vahr Süd" gelingt, nämlich der Nichtsnutzigkeit die höchstmögliche Betriebstemperatur abzuringen, das schafft Gehrer nicht. Er sackt ab, verwahrlost, erfriert am Ende.
Dobellis Roman ermüdet schon bald, bewegt sich in Kolumnen, kurzen Absätzen voran, die wie Aphorismen klingen sollen, doch meist prätentiös sind: "Manchmal läßt sich die Gegenwart nicht durch Denken aufhalten!" Oder unlesbar: "Draußen manifestiert sich heimatliche Destination." Für das eine grandiose Kapitel aber, das all den newspeak heutiger Bewerbungsgespräche aneinanderreiht, was die Gehirnwäsche einer ganzheitlichen Unternehmenskultur ("Das Thema ,Emotional Leadership' ist ganz top. Also: Weinen Sie mal! Los!") in ihrem ganzen Terror aufscheinen läßt, vergißt man Dobellis neunmalkluge Passagen gern.
"Die Boutiquen-Mädchen, die Ämter-Fräuleins, Handwerker und Büro-Ritter, kurz: die Dinosaurier der Fünfunddreißigstundenwochenkultur sind inzwischen nicht nur eine vom Aussterben bedrohte Minderheit, sie sind auch die Bewahrer einer ehemals hart umkämpften Errungenschaft: Erst seit dem Kaiserreich kennen wir das freie Wochenende als Exerzierplatz der Innerlichkeit." Das ist Feuilleton. Oder besser: Rollenprosa, die Katja Kullmann einem Kulturjournalisten in den Mund gelegt hat. Der ist ein aufgeblasener Schwätzer, ein Klugscheißer, und doch verliebt sich Mona in ihn, die aus dem Sauerland in die Stadt gekommen ist und ihm nun einmal die Woche im "Studio de la Beauté" den Rücken massiert.
"Fortschreitende Herzschmerzen bei milden 18 Grad" heißt die kleine Erzählung der Kölner Autorin, die vor zwei Jahren mit ihrem Ratgeber "Generation Ally" einigen Erfolg hatte. Das neue Buch ist ein Musterfall des aktuellen Angestelltenromans, aus präziser Beobachtung geschöpft, was wohl auch daran liegt, daß Katja Kullmann für ihr erstes Buch sehr genau studiert hatte, wen sie da im zweiten beschreibt: Frauen im Postfordismus, so hätte es wohl der Feuilletonist aus ihrer Erzählung betitelt.
Was "Fortschreitende Herzschmerzen bei milden 18 Grad" zur wirklich mustergültigen Angestelltenliteratur macht, ist das Mißverhältnis zwischen diesem Feuilletonisten und Mona, das herablassende Befremden des Bessergebildeten, der eine Frau, die er Woche für Woche für ihre Dienstleistung bezahlt, allenfalls erotisch attraktiv finden kann. Je tiefer sich Mona aus Liebe auf die Zeitungslektüre stürzt, um sich daran fortzubilden (spätestens hier ist aus der Erzählung eine neue Version von "Educating Rita" geworden), desto mehr wendet er sich von ihr ab. Vielleicht nervt ihn einfach nur sein eigenes Geschwätz, das er nun aus ihrem Mund hören muß. Jedenfalls kommt er irgendwann nicht mehr in den Salon, und aus seinem Blatt erfährt Mona, daß gespart werden muß: die Medienkrise. "Von zuviel Papier kriege ich immer Herzschmerzen", sagt Mona zuletzt - und das ist wohl der eigenartigste und schönste Satz, der bisher über das Zeitungssterben gefallen ist. Auch wenn er eigentlich einen Liebestod beschreibt.
Medienkrise, schrumpfende Autostädte, schrumpfende Karstädte - die ebenfalls geschrumpften Zeitungen sind derzeit voller Konflikte, die für dicke Romane reichen müßten. Und doch sind all diese Bücher, Spinnens wie Kullmanns Erzählungen und Dobellis Roman, äußerst knapp gehalten, sozusagen ökonomisch angelegt, wie es ihrem Gegenstand entspricht. Auch das stilistisch sicherste all dieser Werke aus der Angestelltenwelt ist keine 150 Seiten lang: "Kaufen!" von der Schweizer Autorin Nicole Müller. "Ein Warenhausroman", nennt sie ihr Buch im Untertitel, und es ist wohl ein höherer Zufall, daß es gerade in dem Augenblick erscheint, als eine Warenhauskette in die Schlagzeilen gerät.
Schreibtischtäter
Die Moral von "Kaufen!" ist altbekannt und lautet: "It's the economy, stupid!" Weswegen Simone, die im Warenlager eines Kaufhauses zu jobben beginnt und dann nach und nach bis zur Werbetexterin aufsteigt, am Ende hinschmeißt, weil der Kaufhausbesitzer ihre langatmigen, aber tiefempfundenen Inserate über alpinen Blütenhonig, ledergeflochtene Wäschekörbe und italienische Marmorputten nicht mehr lesen mag, oder vielmehr will die Gattin vom Chef sie nicht mehr sehen, und rechnen tun sie sich ohnehin längst nicht mehr. "Ich arbeite nicht für Leute wie Sie", sagt Simone zum Abschied, aller Illusionen beraubt, daß ein Warenhaus tatsächlich eine Großfamilie sein könnte. Und verläßt die Welt der Arbeit, geht hinaus zwischen "die toten Beete, das stumpfe Laub, die Haselstauden", hinein in den Winter des Mißvergnügens.
"Er fand sich, dies wurde ihm Tag für Tag klarer, durch die weiterhin unablässige Verschlechterung der Verhältnisse in seiner Entscheidung, nichts zu unternehmen, vollkommen bestätigt." Sagt Albrecht, Burkhard Spinnens stärkste Figur, Bürohengst bei Tag und ein Attentäter zu Hause, der nur auf den richtigen Moment wartet, loszuschlagen. Es sind alles Schläfer, diese Angestellten. Schreibtischtäter. Figuren wie Michael Douglas in "Falling Down": mit Krawatte, Aktenkoffer und Panzerfaust. Was wird nur passieren, wenn wir Schläfer erwachen.
TOBIAS RÜTHER
Burkhard Spinnen: Der Reservetorwart, Verlag Schöffling & Co, 18,90 Euro.
Rolf Dobelli: Und was machen Sie beruflich? Diogenes Verlag, 18,90 Euro.
Katja Kullmann: Fortschreitende Herzschmerzen bei milden 18 Grad, Verlag Kiepenheuer und Witsch, 14,90 Euro.
Nicole Müller: Kaufen! Verlag Nagel und Kimche, 14,90 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Endlich bekennt sich die Literatur zum Anzugträger: Warum es gut ist, daß deutschsprachige Autoren den Angestellten entdeckt haben
Eine kurze Musterung des Personals literarischer Spitzentitel dieses Herbstes fördert folgende Figuren zutage: Großunternehmer und Psychiater, Fotografen und Komponistinnen, Schlagzeuger, Sängerinnen, Schauspieler und immer wieder Dichter, Schriftsteller, Künstler also. Der kleine Mann von der Straße, der derzeit ständig auf die Straße geht, und die kleine Miss, die schließlich ebenfalls diese Bücher kaufen und lesen soll, sind unterbesetzt, oder fehlen ganz.
Es ist kein Geheimnis, daß manche deutschsprachige Autoren sich vor richtigen Berufen in ihren Büchern scheuen. Und daß sich Schriftsteller selbst am liebsten ein zweites Mal auf Papier erfinden, ist zudem kein rein deutsches Phänomen - gerade ist etwa mit Philip Roth schon wieder jemand nicht Nobelpreisträger geworden, der seit Jahr und Tag sich selbst beschreibt. Dennoch tauchen vor allem seit Beginn der Rezession in der deutschen Literatur auffällig viele Gestalten auf, die in dieser Prominenz bislang eigentlich nur bei Spezialisten wie Hans Fallada, Dorothy Parker oder Alan Sillitoe zu finden waren: Angestellte. Lohnempfänger. Entfremdete.
Ist das gut so? Brauchen wir wieder eine Literatur der Arbeitswelt, wie sie vor mehr als dreißig Jahren Max von der Grün, Günter Wallraff oder Erika Runge schrieben? Brauchen wir eine Neuauflage der "Bottroper Protokolle", nur daß jetzt nicht mehr Bergarbeiter aus dem Ruhrpott in der edition suhrkamp ihr Leid klagen, sondern gescheiterte Start-up-Verlierer aus Berlin-Mitte? Mit den "Minusvisionen" des Autors Ingo Niermann sind ebensolche "Protokolle von Unternehmern ohne Geld" übrigens im vorigen Herbst in ebendieser Verlagsreihe erschienen. Und nicht nur die Lektüre der "Minusvisionen" zeigte: Doch, wir brauchen diese Literatur sehr. Wir haben die Angestelltenliteratur vielleicht sogar bitter nötig.
Die Krise als Chance
Nicht nur, weil die Mitschriften der Realität aufrichten und Trost spenden, Trost, daß es immer noch schlimmer geht als in den eigenen vier Wänden. Nein, wir brauchen diese Alltagsliteratur auch, weil uns sonst ein einzigartiger Stoff verlorenginge. Voller Konflikte, Triumphe und Tragödien, Blut, Schweiß und Tränen, Langeweile, Verdruß und Trott, abgebildet in Einliegerwohnungen, Bungalows und Fußgängerzonen, fast wie im richtigen Leben: Das Einerlei und die Krise als Chance für die Literatur.
Der Münsteraner Schriftsteller Burkhard Spinnen hat diese Chance längst ergriffen. Seit Jahr und Tag feilt er an einer Phänomenologie des altbundesrepublikanischen Alltags, und auch sein neuer Erzählungsband "Der Reservetorwart" versucht sich abermals an nichts anderem. Spinnen schreibt wie mit angespitztem Bleistift, bleigrau und sparsam, über das Mittelmaß und die Angst, darüber hinauszuwachsen - vom Ersatzspieler auf der Auswechselbank zur Nummer eins zwischen den Pfosten zu werden, vom entlassenen Finanzvorstand zum Unternehmensberater, vom treuen Gatten zum Ehebrecher. Und wie es sich für die Welt, die er beschreibt, gehört, hat sich bei Spinnen eine stilistische Routine eingeschlichen, die aber seinem Projekt nicht schadet, ihm sogar erst recht auf die Sprünge hilft: Man betritt seine Erzählwelt wie das eigene Büro. Es riecht vertraut, die Kollegen grüßen, schon ist der Kaffee aufgesetzt und läuft durch den Filter, Bürotassen klacken leise aneinander, und dann schlägt das Grauen zu.
Vielleicht ist es gerade der spezielle Schrecken unserer stoßgedämpften Arbeitswelt, dieser "Komfortgemeinschaft", wie Peter Sloterdijk sie kürzlich nannte, daß wir glauben sollen, daß der Lohnerwerb nicht mehr weh tut, daß Arbeit enthierarchisiert wird und die Entscheidungen in die Breite verlagert oder breitgetreten werden, daß Unternehmen wie Großfamilien sind. In den Bürolofts der Berliner Republik wird mittags zusammen gekocht, sogar Sojamilch steht zum Aufschäumen für den Caffé Latte im Kühlschrank neben den probiotischen Joghurts bereit, und nach gemeinsamer Mahlzeit rollen die Kollegen auf ergonomischen Stühlen an ihre Schreibtische zurück. Es ist gemütlich, heimelig, stickig: Arbeitest du noch, oder klebst du schon an diesen Stühlen fest? Und ist es nicht weniger ein Schicksalsschlag als vielmehr ein Befreiungsschlag, wenn man zwischen diese Stühle gefallen ist? In Corinne Maiers "Bonjour Paresse" ist das (siehe gegenüberliegende Seite) schön nachzulesen.
Daß inzwischen mehr und mehr Schreibtische verwaist sind, darüber hat der Schweizer Autor Rolf Dobelli jetzt seinen zweiten Roman geschrieben. Vorigen Herbst schwamm er, der sich als CEO verschiedener Unternehmen offenbar ein Gespür für Konjunktur angeeignet hat, ganz oben auf einer Welle von Neuerscheinungen über das Leben und Leiden der "Thirtysomethings". Seine Hauptfigur Gehrer, den er in "Fünfunddreißig" noch in eine Lebenskrise stürzte, wird in "Und was machen Sie beruflich?" vor die Tür gesetzt, entlassen, eingespart.
Gehirnwäsche im Büro
Jetzt ist er nicht mehr Marketingchef, sondern arbeitslos, und nun driftet er ab. Doch was Sven Regeners Frank Lehmann in "Neue Vahr Süd" gelingt, nämlich der Nichtsnutzigkeit die höchstmögliche Betriebstemperatur abzuringen, das schafft Gehrer nicht. Er sackt ab, verwahrlost, erfriert am Ende.
Dobellis Roman ermüdet schon bald, bewegt sich in Kolumnen, kurzen Absätzen voran, die wie Aphorismen klingen sollen, doch meist prätentiös sind: "Manchmal läßt sich die Gegenwart nicht durch Denken aufhalten!" Oder unlesbar: "Draußen manifestiert sich heimatliche Destination." Für das eine grandiose Kapitel aber, das all den newspeak heutiger Bewerbungsgespräche aneinanderreiht, was die Gehirnwäsche einer ganzheitlichen Unternehmenskultur ("Das Thema ,Emotional Leadership' ist ganz top. Also: Weinen Sie mal! Los!") in ihrem ganzen Terror aufscheinen läßt, vergißt man Dobellis neunmalkluge Passagen gern.
"Die Boutiquen-Mädchen, die Ämter-Fräuleins, Handwerker und Büro-Ritter, kurz: die Dinosaurier der Fünfunddreißigstundenwochenkultur sind inzwischen nicht nur eine vom Aussterben bedrohte Minderheit, sie sind auch die Bewahrer einer ehemals hart umkämpften Errungenschaft: Erst seit dem Kaiserreich kennen wir das freie Wochenende als Exerzierplatz der Innerlichkeit." Das ist Feuilleton. Oder besser: Rollenprosa, die Katja Kullmann einem Kulturjournalisten in den Mund gelegt hat. Der ist ein aufgeblasener Schwätzer, ein Klugscheißer, und doch verliebt sich Mona in ihn, die aus dem Sauerland in die Stadt gekommen ist und ihm nun einmal die Woche im "Studio de la Beauté" den Rücken massiert.
"Fortschreitende Herzschmerzen bei milden 18 Grad" heißt die kleine Erzählung der Kölner Autorin, die vor zwei Jahren mit ihrem Ratgeber "Generation Ally" einigen Erfolg hatte. Das neue Buch ist ein Musterfall des aktuellen Angestelltenromans, aus präziser Beobachtung geschöpft, was wohl auch daran liegt, daß Katja Kullmann für ihr erstes Buch sehr genau studiert hatte, wen sie da im zweiten beschreibt: Frauen im Postfordismus, so hätte es wohl der Feuilletonist aus ihrer Erzählung betitelt.
Was "Fortschreitende Herzschmerzen bei milden 18 Grad" zur wirklich mustergültigen Angestelltenliteratur macht, ist das Mißverhältnis zwischen diesem Feuilletonisten und Mona, das herablassende Befremden des Bessergebildeten, der eine Frau, die er Woche für Woche für ihre Dienstleistung bezahlt, allenfalls erotisch attraktiv finden kann. Je tiefer sich Mona aus Liebe auf die Zeitungslektüre stürzt, um sich daran fortzubilden (spätestens hier ist aus der Erzählung eine neue Version von "Educating Rita" geworden), desto mehr wendet er sich von ihr ab. Vielleicht nervt ihn einfach nur sein eigenes Geschwätz, das er nun aus ihrem Mund hören muß. Jedenfalls kommt er irgendwann nicht mehr in den Salon, und aus seinem Blatt erfährt Mona, daß gespart werden muß: die Medienkrise. "Von zuviel Papier kriege ich immer Herzschmerzen", sagt Mona zuletzt - und das ist wohl der eigenartigste und schönste Satz, der bisher über das Zeitungssterben gefallen ist. Auch wenn er eigentlich einen Liebestod beschreibt.
Medienkrise, schrumpfende Autostädte, schrumpfende Karstädte - die ebenfalls geschrumpften Zeitungen sind derzeit voller Konflikte, die für dicke Romane reichen müßten. Und doch sind all diese Bücher, Spinnens wie Kullmanns Erzählungen und Dobellis Roman, äußerst knapp gehalten, sozusagen ökonomisch angelegt, wie es ihrem Gegenstand entspricht. Auch das stilistisch sicherste all dieser Werke aus der Angestelltenwelt ist keine 150 Seiten lang: "Kaufen!" von der Schweizer Autorin Nicole Müller. "Ein Warenhausroman", nennt sie ihr Buch im Untertitel, und es ist wohl ein höherer Zufall, daß es gerade in dem Augenblick erscheint, als eine Warenhauskette in die Schlagzeilen gerät.
Schreibtischtäter
Die Moral von "Kaufen!" ist altbekannt und lautet: "It's the economy, stupid!" Weswegen Simone, die im Warenlager eines Kaufhauses zu jobben beginnt und dann nach und nach bis zur Werbetexterin aufsteigt, am Ende hinschmeißt, weil der Kaufhausbesitzer ihre langatmigen, aber tiefempfundenen Inserate über alpinen Blütenhonig, ledergeflochtene Wäschekörbe und italienische Marmorputten nicht mehr lesen mag, oder vielmehr will die Gattin vom Chef sie nicht mehr sehen, und rechnen tun sie sich ohnehin längst nicht mehr. "Ich arbeite nicht für Leute wie Sie", sagt Simone zum Abschied, aller Illusionen beraubt, daß ein Warenhaus tatsächlich eine Großfamilie sein könnte. Und verläßt die Welt der Arbeit, geht hinaus zwischen "die toten Beete, das stumpfe Laub, die Haselstauden", hinein in den Winter des Mißvergnügens.
"Er fand sich, dies wurde ihm Tag für Tag klarer, durch die weiterhin unablässige Verschlechterung der Verhältnisse in seiner Entscheidung, nichts zu unternehmen, vollkommen bestätigt." Sagt Albrecht, Burkhard Spinnens stärkste Figur, Bürohengst bei Tag und ein Attentäter zu Hause, der nur auf den richtigen Moment wartet, loszuschlagen. Es sind alles Schläfer, diese Angestellten. Schreibtischtäter. Figuren wie Michael Douglas in "Falling Down": mit Krawatte, Aktenkoffer und Panzerfaust. Was wird nur passieren, wenn wir Schläfer erwachen.
TOBIAS RÜTHER
Burkhard Spinnen: Der Reservetorwart, Verlag Schöffling & Co, 18,90 Euro.
Rolf Dobelli: Und was machen Sie beruflich? Diogenes Verlag, 18,90 Euro.
Katja Kullmann: Fortschreitende Herzschmerzen bei milden 18 Grad, Verlag Kiepenheuer und Witsch, 14,90 Euro.
Nicole Müller: Kaufen! Verlag Nagel und Kimche, 14,90 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Harte Worte findet der Rezensent Martin Krumbholz für dieses Buch, obwohl er sich - zumindest "solange die Geschichte in der Schwebe ist" - recht gut unterhalten fühlt, denn die Autorin Katja Kullmann "kann schreiben, flott, gescheit und witzig". Doch unterm Strich ist das Buch für ihn "Triumph eines profanen Realitätsprinzips", die Geschichte nimmt ihren "voraussehbaren nüchternen Verlauf". Krumbholz stört sich daran, dass sich die Autorin auf die Seite des "Stärkeren" schlägt, des jungen, selbstverliebten Feuilletonredakteurs, der mit der naive Verliebtheit seiner Kosmetikerin wenig anfangen kann. Damit untergräbt die Autorin seiner Meinung nach "das utopische Potenzial ihres Textes."
© Perlentaucher Medien GmbH
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