Dieses Buch bemüht sich im wesentlichen um eine Rekonstruktion der von Foucault initiierten Debatte über die Geschichte der Beherrschung der Lüste und der moralischen Subjektivierung, die er anhand von philosophischen, medizinischen, ökonomischen und rhetorischen Texten der klassischen Antike nachzuzeichnen sucht. Durch die kritische Rekonstruktion dieser Deutung und ihres Kontextes eröffnet sich in aufschlußreicher Weise ein doppelter Horizont: Einerseits geht es um eine angemessene Interpretation der antiken Texte, andererseits um eine konstruktive Kritik der so eigenwillig wie wirkmächtigen Deutung Foucaults, die paradigmatisch für einen Bereich der modernen Philosophie ist.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.03.1999Liebesperlen in der Suppe
Mit und gegen Foucault: Wolfgang Detel liest antike Diskurse
In Thomas Meineckes kürzlich erschienenem Roman "Tomboy" machen Korinna und die anderen - meist weiblichen - Akteure Ernst mit der alten Forderung nach der Relevanz der Philosophie für das Leben. Sie lieben und paaren und trennen sich nach den Maßgaben poststrukturalistischer Theorien über die Konstruktion der Geschlechter oder das Verhältnis von Leib und Macht. Das Proseminar dringt ins Schlafzimmer ein, der Liebesakt mit einer bisexuellen Bekannten in einem Steinbruch im Odenwald symbolisiert das Spannungsverhältnis zwischen der "natürlichen" und der "kulturellen" Konstruktion von Geschlecht. Doch die im Foucaultschen Sinne selbstkonstituierten sexuellen Subjekte bleiben, das ist die Ironie in "Tomboy", in der Regel ganz unbefriedigt, allen planlosen diskursiven Verknüpfungen zwischen Philosophie, Mode und Popmusik, zwischen Postmoderne und "gender-studies" zum Trotz.
Wolfgang Detel, Professor für Philosophie in Frankfurt, beläßt diese Dinge in den vertrauten Räumen des Oberseminars. Seine von kritischer Sympathie getragene Lektüre vor allem des zweiten Bandes von Foucaults "Sexualität und Wahrheit" möchte er "als einen exemplarischen Vorschlag zu einem vernünftigen Umgang mit dem postmodernen Denken verstanden wissen, der dessen Intuitionen ernst nimmt, ohne auf eine genaue Explikation und kritische Prüfung nach den üblichen Standards philosophischen und wissenschaftlichen Denkens zu verzichten". Zu diesem Zweck skizziert er zunächst die Parameter von Foucaults historischer Ontologie des Selbst, die in der dreifachen Konstituierung des Subjekts im Wissen, in der Einwirkung auf andere und in der moralischen Haltung bestehen. Foucaults Begriffe sind Archäologie, Machtanalytik und Ethik. Erhellende Überlegungen zu Foucaults Sicht des Verhältnisses von Macht und Wissen in bezug auf die Sexualität sowie zum Diskursbegriff schließen sich an. Detel widerlegt stringent die platte Ansicht, daß Macht im Prozeß der Produktion von Wahrheit immer deformierend wirke; es gebe auch eine nichtrepressive und produktive "regulative Macht", die engstens mit wahrheitsproduzierenden Diskursen verschränkt sei. Von diesem Machtbegriff aus wird das Interesse des späten Foucault an ethischen Reflexionen und "Selbsttechniken" der Antike verständlich, denn nicht nur in der epistemischen, sondern auch in der habituellen und ethischen Formierung von Subjekten sind Mechanismen ebendieser (selbst)regulativen Macht wirksam.
Die folgenden Kapitel zeichnen unter den Überschriften "Die ethische Teleologie", "Die wissenschaftliche Diät", "Die asymmetrische Liebesbeziehung" und "Der epistemische Eros" Foucaults Analyse zentraler ethischer, medizinischer und erotischer Diskurse in antiken (gemeint sind immer: klassisch-griechischen) Texten nach. Diese bildet aber lediglich den Ausgangspunkt; in subtiler Argumentation kommt Detel immer wieder dazu, Foucault mangelnde kategoriale Präzision und Ausblendungen des argumentativen Kontextes nachzuweisen, etwa im Falle des aristotelischen Konzepts der Selbstarbeit, die er bei Foucault als bloße Begrenzung des bedrohlichen erotischen Strebens unterbestimmt und nicht ausreichend mit dem Telos des guten Lebens insgesamt verknüpft sieht.
Der griechischen Diätetik, wie sie sich vor allem in den Schriften des Corpus Hippocraticum niedergeschlagen hat, ging es um nicht weniger als die Optimierung der Lebensqualität schlechthin, in Detels schöner Formulierung um "die Maximierung lusterfüllter Fitness in natürlichen Grenzen". Der Autor zeigt das Ringen dieser empiristisch-kasuistischen Disziplin um einen angemessenen wissenschaftstheoretischen Status, das sich auch in einer Auflösung der anfangs engen Verbindung mit der Religion und der Ethik manifestierte.
In einem besonders instruktiven Kapitel untersucht Detel homoerotisch-päderastische Sexualität als moralisches Problem in der Polis. Da Sexualität primär als ein vom Individuum her gedachtes physisches Gewalt- und Machtverhältnis konstruiert war, widersprach ein physisch vollzogenes päderastisches Verhältnis dem Ideal des körperlich unversehrten Bürgers. Auch das Verhältnis von Mann und Frau im Oikos wird treffend auf seine politischen Implikationen untersucht. Die Mehrdeutigkeit des Geschlechterverhältnisses charakterisiert Detel, indem er auf die unterschiedlichen Bilder der Frau im naturwissenschaftlichen Diskurs (als dem Mann unterlegen), im häuslich-politischen Bereich (als unentbehrlich und komplementär) und im Bild der Dichtung (als emotional verletzlich, aber auch potentiell gefährlich) hinweist. Die Begrenztheiten und wechselseitigen Blockaden der unterschiedlichen Eros-Begriffe der griechischen Autoren in klassischer Zeit werden scharf herauspräpariert.
Im längsten Kapitel des Buches, das auch für sich allein mit Gewinn gelesen werden kann, bietet Detel eine in Teilen neue Deutung des platonischen Verständnisses von Eros, wie es sich vor allem im "Symposion" und im "Phaidros" niedergeschlagen hat. Er zeigt, daß auch die fünf Reden der Symposiasten vor der von Diotima/Sokrates zentrale Gesichtspunkte von Platons philosophischer Erotik zur Geltung bringen und daß Platon keineswegs eine simple dichotomische Unterscheidung zwischen einem gewöhnlichen und einem philosophischen, auf Erkenntnis gerichteten Eros vornahm. Auch Detels Rehabilitierung der sinnlichen Wahrnehmung für Platons Erkenntnislehre wird gewiß Diskussionen auslösen.
Wer als traditionell, das heißt philologisch-hermeneutisch ausgebildeter Altertumswissenschaftler, dessen Theorierezeption etwa bis zu Max Weber, Marcel Mauss oder dem russischen Formalismus reicht, an Detels Buch gerät, weil Foucault "in" ist und im Untertitel das Wort "Antike" erscheint, erfährt über weite Strecken reiche Anregung und Belehrung, bezeichnenderweise freilich fast ausschließlich dort, wo Detel sich von Foucault entfernt, um die antiken Texte präzise zu interpretieren und in den Kontext griechischer Bürgerstaatlichkeit beziehungsweise der ethisch-politischen Reflexion über diese zu rücken. Ein solcher Leser muß die intellektuelle Disziplin und fachsprachliche Versiertheit des Autors bewundern. Vielleicht fühlt er sich aber auch manchmal an eine frühere Lektüre des "Herrn der Ringe" erinnert; die Diskurswelten vor allem des letzten Kapitels über "Geschlecht, Natur und Referenz" erreichen mühelos die Komplexität der Tolkienschen Schilderungen von Mittelerde, sind indes nicht ganz so vergnüglich, es sei denn, man empfindet es als witzig, den Autor nach seiner ertragreichen Lektüre von Platon und Aristoteles plötzlich im Schlachtengetümmel feministischer Theoriebildungen wiederzufinden, wo er sich gezwungen sieht, einen konkurrierenden Ansatz "als extrem ideologiegetränkt denunzieren" zu müssen.
In "Tomboy" heiratet die zeitweilige Freundin von Korinna überraschend den schmucken Transvestiten Angelo/Angela, was Korinna zur sexuellen Ironikerin mutieren läßt. Leider läßt sich nur ein einziger Satz in Detels mitunter hermetischer Studie ironisch lesen, wohl gegen die Absicht des Autors: "Seit geraumer Zeit gewinnen", so liest man leider erst auf Seite 328, "innerhalb der feministischen Theoriebildung die Phänomene der Transsexualität und Travestie immer mehr theoretische Aufmerksamkeit." Die Theorie als Travestie des Urtextes: das wäre doch einmal etwas wirklich Spannendes. UWE WALTER
Wolfgang Detel: "Macht, Moral, Wissen". Foucault und die klassische Antike. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1998. 359 S., br., 24,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Mit und gegen Foucault: Wolfgang Detel liest antike Diskurse
In Thomas Meineckes kürzlich erschienenem Roman "Tomboy" machen Korinna und die anderen - meist weiblichen - Akteure Ernst mit der alten Forderung nach der Relevanz der Philosophie für das Leben. Sie lieben und paaren und trennen sich nach den Maßgaben poststrukturalistischer Theorien über die Konstruktion der Geschlechter oder das Verhältnis von Leib und Macht. Das Proseminar dringt ins Schlafzimmer ein, der Liebesakt mit einer bisexuellen Bekannten in einem Steinbruch im Odenwald symbolisiert das Spannungsverhältnis zwischen der "natürlichen" und der "kulturellen" Konstruktion von Geschlecht. Doch die im Foucaultschen Sinne selbstkonstituierten sexuellen Subjekte bleiben, das ist die Ironie in "Tomboy", in der Regel ganz unbefriedigt, allen planlosen diskursiven Verknüpfungen zwischen Philosophie, Mode und Popmusik, zwischen Postmoderne und "gender-studies" zum Trotz.
Wolfgang Detel, Professor für Philosophie in Frankfurt, beläßt diese Dinge in den vertrauten Räumen des Oberseminars. Seine von kritischer Sympathie getragene Lektüre vor allem des zweiten Bandes von Foucaults "Sexualität und Wahrheit" möchte er "als einen exemplarischen Vorschlag zu einem vernünftigen Umgang mit dem postmodernen Denken verstanden wissen, der dessen Intuitionen ernst nimmt, ohne auf eine genaue Explikation und kritische Prüfung nach den üblichen Standards philosophischen und wissenschaftlichen Denkens zu verzichten". Zu diesem Zweck skizziert er zunächst die Parameter von Foucaults historischer Ontologie des Selbst, die in der dreifachen Konstituierung des Subjekts im Wissen, in der Einwirkung auf andere und in der moralischen Haltung bestehen. Foucaults Begriffe sind Archäologie, Machtanalytik und Ethik. Erhellende Überlegungen zu Foucaults Sicht des Verhältnisses von Macht und Wissen in bezug auf die Sexualität sowie zum Diskursbegriff schließen sich an. Detel widerlegt stringent die platte Ansicht, daß Macht im Prozeß der Produktion von Wahrheit immer deformierend wirke; es gebe auch eine nichtrepressive und produktive "regulative Macht", die engstens mit wahrheitsproduzierenden Diskursen verschränkt sei. Von diesem Machtbegriff aus wird das Interesse des späten Foucault an ethischen Reflexionen und "Selbsttechniken" der Antike verständlich, denn nicht nur in der epistemischen, sondern auch in der habituellen und ethischen Formierung von Subjekten sind Mechanismen ebendieser (selbst)regulativen Macht wirksam.
Die folgenden Kapitel zeichnen unter den Überschriften "Die ethische Teleologie", "Die wissenschaftliche Diät", "Die asymmetrische Liebesbeziehung" und "Der epistemische Eros" Foucaults Analyse zentraler ethischer, medizinischer und erotischer Diskurse in antiken (gemeint sind immer: klassisch-griechischen) Texten nach. Diese bildet aber lediglich den Ausgangspunkt; in subtiler Argumentation kommt Detel immer wieder dazu, Foucault mangelnde kategoriale Präzision und Ausblendungen des argumentativen Kontextes nachzuweisen, etwa im Falle des aristotelischen Konzepts der Selbstarbeit, die er bei Foucault als bloße Begrenzung des bedrohlichen erotischen Strebens unterbestimmt und nicht ausreichend mit dem Telos des guten Lebens insgesamt verknüpft sieht.
Der griechischen Diätetik, wie sie sich vor allem in den Schriften des Corpus Hippocraticum niedergeschlagen hat, ging es um nicht weniger als die Optimierung der Lebensqualität schlechthin, in Detels schöner Formulierung um "die Maximierung lusterfüllter Fitness in natürlichen Grenzen". Der Autor zeigt das Ringen dieser empiristisch-kasuistischen Disziplin um einen angemessenen wissenschaftstheoretischen Status, das sich auch in einer Auflösung der anfangs engen Verbindung mit der Religion und der Ethik manifestierte.
In einem besonders instruktiven Kapitel untersucht Detel homoerotisch-päderastische Sexualität als moralisches Problem in der Polis. Da Sexualität primär als ein vom Individuum her gedachtes physisches Gewalt- und Machtverhältnis konstruiert war, widersprach ein physisch vollzogenes päderastisches Verhältnis dem Ideal des körperlich unversehrten Bürgers. Auch das Verhältnis von Mann und Frau im Oikos wird treffend auf seine politischen Implikationen untersucht. Die Mehrdeutigkeit des Geschlechterverhältnisses charakterisiert Detel, indem er auf die unterschiedlichen Bilder der Frau im naturwissenschaftlichen Diskurs (als dem Mann unterlegen), im häuslich-politischen Bereich (als unentbehrlich und komplementär) und im Bild der Dichtung (als emotional verletzlich, aber auch potentiell gefährlich) hinweist. Die Begrenztheiten und wechselseitigen Blockaden der unterschiedlichen Eros-Begriffe der griechischen Autoren in klassischer Zeit werden scharf herauspräpariert.
Im längsten Kapitel des Buches, das auch für sich allein mit Gewinn gelesen werden kann, bietet Detel eine in Teilen neue Deutung des platonischen Verständnisses von Eros, wie es sich vor allem im "Symposion" und im "Phaidros" niedergeschlagen hat. Er zeigt, daß auch die fünf Reden der Symposiasten vor der von Diotima/Sokrates zentrale Gesichtspunkte von Platons philosophischer Erotik zur Geltung bringen und daß Platon keineswegs eine simple dichotomische Unterscheidung zwischen einem gewöhnlichen und einem philosophischen, auf Erkenntnis gerichteten Eros vornahm. Auch Detels Rehabilitierung der sinnlichen Wahrnehmung für Platons Erkenntnislehre wird gewiß Diskussionen auslösen.
Wer als traditionell, das heißt philologisch-hermeneutisch ausgebildeter Altertumswissenschaftler, dessen Theorierezeption etwa bis zu Max Weber, Marcel Mauss oder dem russischen Formalismus reicht, an Detels Buch gerät, weil Foucault "in" ist und im Untertitel das Wort "Antike" erscheint, erfährt über weite Strecken reiche Anregung und Belehrung, bezeichnenderweise freilich fast ausschließlich dort, wo Detel sich von Foucault entfernt, um die antiken Texte präzise zu interpretieren und in den Kontext griechischer Bürgerstaatlichkeit beziehungsweise der ethisch-politischen Reflexion über diese zu rücken. Ein solcher Leser muß die intellektuelle Disziplin und fachsprachliche Versiertheit des Autors bewundern. Vielleicht fühlt er sich aber auch manchmal an eine frühere Lektüre des "Herrn der Ringe" erinnert; die Diskurswelten vor allem des letzten Kapitels über "Geschlecht, Natur und Referenz" erreichen mühelos die Komplexität der Tolkienschen Schilderungen von Mittelerde, sind indes nicht ganz so vergnüglich, es sei denn, man empfindet es als witzig, den Autor nach seiner ertragreichen Lektüre von Platon und Aristoteles plötzlich im Schlachtengetümmel feministischer Theoriebildungen wiederzufinden, wo er sich gezwungen sieht, einen konkurrierenden Ansatz "als extrem ideologiegetränkt denunzieren" zu müssen.
In "Tomboy" heiratet die zeitweilige Freundin von Korinna überraschend den schmucken Transvestiten Angelo/Angela, was Korinna zur sexuellen Ironikerin mutieren läßt. Leider läßt sich nur ein einziger Satz in Detels mitunter hermetischer Studie ironisch lesen, wohl gegen die Absicht des Autors: "Seit geraumer Zeit gewinnen", so liest man leider erst auf Seite 328, "innerhalb der feministischen Theoriebildung die Phänomene der Transsexualität und Travestie immer mehr theoretische Aufmerksamkeit." Die Theorie als Travestie des Urtextes: das wäre doch einmal etwas wirklich Spannendes. UWE WALTER
Wolfgang Detel: "Macht, Moral, Wissen". Foucault und die klassische Antike. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1998. 359 S., br., 24,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main