Produktdetails
- Bild und Text
- Verlag: Brill Fink / Brill Fink
- Artikelnr. des Verlages: 1882221
- 1995
- Seitenzahl: 272
- Deutsch
- Abmessung: 233mm
- Gewicht: 1198g
- ISBN-13: 9783770529490
- ISBN-10: 3770529499
- Artikelnr.: 05315823
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.10.1995Detektiv erkennt die Kleckse
Ein Georges Didi-Huberman sieht Fra Angelico neu / Von Hanns Josef Ortheil
Irgendwann wird es Georges Didi-Huberman in das Kloster San Marco in Florenz verschlagen haben. Im Ostkorridor der berühmten Anlage wird er vor der "Madonna der Schatten" stehengeblieben sein, einem Fresko Fra Angelicos, 2,73 Meter breit, 1,95 Meter hoch. Sein Blick wird sich jedoch nicht nur auf dieses bekannte und von der Kunstgeschichte ausführlich gewürdigte Bild, sondern länger noch auf die vier unterhalb dieses Bildes gemalten Farbflächen gerichtet haben, alle immerhin 1,50 Meter hoch und somit etwa in Augenhöhe des Betrachters.
Auf diesen Flächen war nichts Gegenständliches zu erkennen, es waren Phantasien von Rot-, Gelb- und Grüntönen, die stark an die Wiedergabe von Marmorflächen erinnerten. Die Kunstgeschichte, stellte Didi-Huberman fest, hatte diese Flächen nicht einmal gesehen; wenn von Fra Angelicos "Madonna der Schatten" die Rede war, so galt die Aufmerksamkeit einem einzigen Fresko, 2,73 Meter breit, 1,95 Meter hoch. Der kunstgeschichtliche Skandal waren die mißachteten vier Tafeln in Augenhöhe.
Man ahnt, wie es Didi-Huberman zu diesen Tafeln hinzog, wie er sie mit seinem detektivischen Spürsinn aufzuladen begann. Diese Tafeln waren anscheinend nicht bloßer Dekor, sie waren erregende Farbkompositionen, beinahe schon tachistisch, etwas, das an das Dripping von Jackson Pollock erinnerte: Wabenstrukturen, Netze, die Farbe wurde geschleudert, gespritzt, projiziert. Offensichtlich sollten diese Tafeln die Spuren einer gewissen Präsenz enthalten, offensichtlich waren sie materielle Zeichen . . .
Genau an dieser Stelle wird Didi-Hubermans französisches Denken, deutlich inspiriert von ehrwürdigen Vorgängern wie Foucault oder Derrida, eine geradezu rauschhafte Überwältigung erfahren haben. Wie wäre es, wenn nicht die "Madonna der Schatten" das Zentrum des Gemäldes wäre, sondern diese vier abstrakten Tafeln? Wie also, wenn das mißachtete Dekorum, auf vielen Bildern der übersehene Hintergrund, zum Vordergrund würde? Oder, besser noch, jetzt in der Sprache der ehrwürdigen Vorgänger: Wie wäre es, wenn diese vier Tafeln irgendwo zwischen Vorder- und Hintergrund existierten, in einer seltsamen Schwebe, in einem Zwischenreich, einer Zone zwischen Materie und Zeichen?
An diesem Punkt der Überlegungen wäre es ein leichtes gewesen, auf den Wolken eines längst modisch gewordenen französischen Wissenschaftsjargons davonzueilen. Dann wäre von "Verschiebungen" die Rede gewesen, von "Signifikanten", die irgend etwas hinter oder unter sich lassen, von neuer "Figuralität" und dergleichen mehr. Und wirklich beben solche Jargon-Vokabeln zu Beginn des nun folgenden Exerzitiums durch das Buch. Langsam aber, von Kapitel zu Kapitel, verblassen sie, und am Ende sind sie eine Art melancholische Zutat, die von den gewaltigen Deutungsanstrengungen längst beiseite gedrängt wurde.
Denn Didi-Huberman gibt sich nicht damit zufrieden, etwas von neuer "Figuralität" und "Verschiebung" zu murmeln. Ihn berührt das Gesehene nicht in dem Sinn, daß es zum Gegenstand einer raunenden Beschwörung würde. Vielmehr läßt er sich von seinem stets erregten und bis ins letzte Detail ausschweifenden Blick wirklich packen. Er will etwas beweisen, gegen die traditionelle Kunstgeschichte, er will ihre Vorstellung vom Bild verändern, er will sich nicht zufriedengeben mit etwas Symboldeutung oder mit den Apparaturen der Ikonographie.
Dadurch, durch diesen unbedingten, hochfahrenden Gestus, erhält das Buch etwas Spannendes, Besessenes. Es wird zum Dokument einer einzigartigen Recherche, die sich letztlich an nicht mehr als drei Bildern Fra Angelicos aufhält, ohne diese Bilder jedoch durch die üblichen Bildbeschreibungen zuzudecken. Das Buch verfolgt vielmehr eine andere Methode: Es begreift Fra Angelico als exegetischen Maler, als einen, der seine Bilder für ein hochgebildetes Publikum von Mönchen schuf, das den unendlichen Beziehungsreichtum der Kompositionen kontemplativ studierte.
Den Inhalten dieser Kontemplation spürt Didi-Huberman nach. Es ist beinahe erschlagend, welches Fest der Zitate und Belege dafür gestaltet wird. Die Kronzeugen der Debatte sind die großen philosophischen Traktate des Mittelalters, Thomas von Aquin natürlich, Albert der Große und Antonin von Florenz. Leitmotivisch geht es um die Frage, wie das Göttliche in Menschengestalt auf Bildern erscheinen könne. Sind Bilder Zeichen einer Inkarnation, vergegenwärtigen sie durch mehr als durch Andeutungen, die sich leicht auflösen ließen?
Didi-Huberman verfolgt solche Fragen in den Texten. Man könnte auch sagen, er durchschwimmt sie. Denn diese Texte, mit ihren zahllosen Verweisen und Überblendungen, sind dem Göttlichen ja so ergeben, daß sie es eher besingen als festsprechen. Aus ihrem Zellenbau, ihren Rhythmen, ihren Ableitungen entwickelt das Buch eine Art Theorie des Bildlichen vor dem Umbruch zur Renaissance. Eine "Figur" ist jetzt nicht mehr an eine "Geschichte" gebunden, wie es überhaupt nicht mehr darum geht, auf Bildern etwas Figürliches wiederzuerkennen und es auf den bekannten Komplex der biblischen Legendensprache zu beziehen.
"Figuren" zeigen sich vielmehr in einem Gewebe mehrfacher Bedeutungsschichten, vergleichbar der mittelalterlichen Lehre vom vierfachen Schriftsinn, der den Leser über das Vordergründige des Geschehens hinaus in die Tiefe der Bedeutungen und der Lehre trieb. Schritt für Schritt werden daher die traditionellen Beschreibungsverfahren von Bildern auf den Kopf gestellt. Was bleibt, ist, man muß das so großartig sagen, die Offenbarung eines anderen Sehens, das Strahlen des Visuellen.
Das Ganze entfaltet bei längerer Lektüre einen geradezu hypnotischen Reiz, es wirkt poetisch, ja zauberhaft. Man glaubt sich eingesponnen von diesen Zitaten und Bruchstücken der großen "Summen", man wird zum mittelalterlichen Betrachter. Dabei ist man gerne bereit zu übersehen, daß Didi-Hubermans Folgerungen sich auf keine einzige Textstelle Fra Angelicos stützen können. Sie belegen nichts im klassischen Sinn. Immer wieder kommen sie daher beschwörend auf das Kloster San Marco in Florenz zurück. Es ist die Studierzelle, um die herum sich die Bücher lagern: Nicht weit davon entfernt befand sich . . ., kaum einige hundert Meter entfernt sah man . . . - mit solchen Andeutungen macht Didi Huberman den gebildeten Dominikanermönch Fra Angelico zum Gelehrten, der am Wissen seiner Zeit teilhat.
Ob die Gelehrsamkeit, die Didi-Huberman ihm zuspricht und in seinem Namen noch einmal rekonstruiert, wirklich die Gelehrsamkeit Fra Angelicos war und nicht doch eher die gestenreiche und elegante Didi-Hubermans, das ist letztlich nicht einmal zu sagen. Die Kunstgeschichte ist aufgefordert, der glanzvollen Zumutung dieses Buches etwas entgegenzusetzen. Sie wird die Vermutungen und die exakten Beweise wieder säuberlich trennen.
Doch das wird Didi-Hubermans Recherchen nicht treffen. Es sind hochinspirierte Studien, in jener Mischung von Strenge, Schönheit und begeisterter Rede, die man im Mittelalter kultivierte, Poesien darüber, was in Fra Angelicos Bildern so leuchtet.
Georges Didi-Huberman: "Fra Angelico". Unähnlichkeit und Figuration. Aus dem Französischen übersetzt von Andreas Knop. Wilhelm Fink Verlag, München 1995. 272 S., br., 98,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein Georges Didi-Huberman sieht Fra Angelico neu / Von Hanns Josef Ortheil
Irgendwann wird es Georges Didi-Huberman in das Kloster San Marco in Florenz verschlagen haben. Im Ostkorridor der berühmten Anlage wird er vor der "Madonna der Schatten" stehengeblieben sein, einem Fresko Fra Angelicos, 2,73 Meter breit, 1,95 Meter hoch. Sein Blick wird sich jedoch nicht nur auf dieses bekannte und von der Kunstgeschichte ausführlich gewürdigte Bild, sondern länger noch auf die vier unterhalb dieses Bildes gemalten Farbflächen gerichtet haben, alle immerhin 1,50 Meter hoch und somit etwa in Augenhöhe des Betrachters.
Auf diesen Flächen war nichts Gegenständliches zu erkennen, es waren Phantasien von Rot-, Gelb- und Grüntönen, die stark an die Wiedergabe von Marmorflächen erinnerten. Die Kunstgeschichte, stellte Didi-Huberman fest, hatte diese Flächen nicht einmal gesehen; wenn von Fra Angelicos "Madonna der Schatten" die Rede war, so galt die Aufmerksamkeit einem einzigen Fresko, 2,73 Meter breit, 1,95 Meter hoch. Der kunstgeschichtliche Skandal waren die mißachteten vier Tafeln in Augenhöhe.
Man ahnt, wie es Didi-Huberman zu diesen Tafeln hinzog, wie er sie mit seinem detektivischen Spürsinn aufzuladen begann. Diese Tafeln waren anscheinend nicht bloßer Dekor, sie waren erregende Farbkompositionen, beinahe schon tachistisch, etwas, das an das Dripping von Jackson Pollock erinnerte: Wabenstrukturen, Netze, die Farbe wurde geschleudert, gespritzt, projiziert. Offensichtlich sollten diese Tafeln die Spuren einer gewissen Präsenz enthalten, offensichtlich waren sie materielle Zeichen . . .
Genau an dieser Stelle wird Didi-Hubermans französisches Denken, deutlich inspiriert von ehrwürdigen Vorgängern wie Foucault oder Derrida, eine geradezu rauschhafte Überwältigung erfahren haben. Wie wäre es, wenn nicht die "Madonna der Schatten" das Zentrum des Gemäldes wäre, sondern diese vier abstrakten Tafeln? Wie also, wenn das mißachtete Dekorum, auf vielen Bildern der übersehene Hintergrund, zum Vordergrund würde? Oder, besser noch, jetzt in der Sprache der ehrwürdigen Vorgänger: Wie wäre es, wenn diese vier Tafeln irgendwo zwischen Vorder- und Hintergrund existierten, in einer seltsamen Schwebe, in einem Zwischenreich, einer Zone zwischen Materie und Zeichen?
An diesem Punkt der Überlegungen wäre es ein leichtes gewesen, auf den Wolken eines längst modisch gewordenen französischen Wissenschaftsjargons davonzueilen. Dann wäre von "Verschiebungen" die Rede gewesen, von "Signifikanten", die irgend etwas hinter oder unter sich lassen, von neuer "Figuralität" und dergleichen mehr. Und wirklich beben solche Jargon-Vokabeln zu Beginn des nun folgenden Exerzitiums durch das Buch. Langsam aber, von Kapitel zu Kapitel, verblassen sie, und am Ende sind sie eine Art melancholische Zutat, die von den gewaltigen Deutungsanstrengungen längst beiseite gedrängt wurde.
Denn Didi-Huberman gibt sich nicht damit zufrieden, etwas von neuer "Figuralität" und "Verschiebung" zu murmeln. Ihn berührt das Gesehene nicht in dem Sinn, daß es zum Gegenstand einer raunenden Beschwörung würde. Vielmehr läßt er sich von seinem stets erregten und bis ins letzte Detail ausschweifenden Blick wirklich packen. Er will etwas beweisen, gegen die traditionelle Kunstgeschichte, er will ihre Vorstellung vom Bild verändern, er will sich nicht zufriedengeben mit etwas Symboldeutung oder mit den Apparaturen der Ikonographie.
Dadurch, durch diesen unbedingten, hochfahrenden Gestus, erhält das Buch etwas Spannendes, Besessenes. Es wird zum Dokument einer einzigartigen Recherche, die sich letztlich an nicht mehr als drei Bildern Fra Angelicos aufhält, ohne diese Bilder jedoch durch die üblichen Bildbeschreibungen zuzudecken. Das Buch verfolgt vielmehr eine andere Methode: Es begreift Fra Angelico als exegetischen Maler, als einen, der seine Bilder für ein hochgebildetes Publikum von Mönchen schuf, das den unendlichen Beziehungsreichtum der Kompositionen kontemplativ studierte.
Den Inhalten dieser Kontemplation spürt Didi-Huberman nach. Es ist beinahe erschlagend, welches Fest der Zitate und Belege dafür gestaltet wird. Die Kronzeugen der Debatte sind die großen philosophischen Traktate des Mittelalters, Thomas von Aquin natürlich, Albert der Große und Antonin von Florenz. Leitmotivisch geht es um die Frage, wie das Göttliche in Menschengestalt auf Bildern erscheinen könne. Sind Bilder Zeichen einer Inkarnation, vergegenwärtigen sie durch mehr als durch Andeutungen, die sich leicht auflösen ließen?
Didi-Huberman verfolgt solche Fragen in den Texten. Man könnte auch sagen, er durchschwimmt sie. Denn diese Texte, mit ihren zahllosen Verweisen und Überblendungen, sind dem Göttlichen ja so ergeben, daß sie es eher besingen als festsprechen. Aus ihrem Zellenbau, ihren Rhythmen, ihren Ableitungen entwickelt das Buch eine Art Theorie des Bildlichen vor dem Umbruch zur Renaissance. Eine "Figur" ist jetzt nicht mehr an eine "Geschichte" gebunden, wie es überhaupt nicht mehr darum geht, auf Bildern etwas Figürliches wiederzuerkennen und es auf den bekannten Komplex der biblischen Legendensprache zu beziehen.
"Figuren" zeigen sich vielmehr in einem Gewebe mehrfacher Bedeutungsschichten, vergleichbar der mittelalterlichen Lehre vom vierfachen Schriftsinn, der den Leser über das Vordergründige des Geschehens hinaus in die Tiefe der Bedeutungen und der Lehre trieb. Schritt für Schritt werden daher die traditionellen Beschreibungsverfahren von Bildern auf den Kopf gestellt. Was bleibt, ist, man muß das so großartig sagen, die Offenbarung eines anderen Sehens, das Strahlen des Visuellen.
Das Ganze entfaltet bei längerer Lektüre einen geradezu hypnotischen Reiz, es wirkt poetisch, ja zauberhaft. Man glaubt sich eingesponnen von diesen Zitaten und Bruchstücken der großen "Summen", man wird zum mittelalterlichen Betrachter. Dabei ist man gerne bereit zu übersehen, daß Didi-Hubermans Folgerungen sich auf keine einzige Textstelle Fra Angelicos stützen können. Sie belegen nichts im klassischen Sinn. Immer wieder kommen sie daher beschwörend auf das Kloster San Marco in Florenz zurück. Es ist die Studierzelle, um die herum sich die Bücher lagern: Nicht weit davon entfernt befand sich . . ., kaum einige hundert Meter entfernt sah man . . . - mit solchen Andeutungen macht Didi Huberman den gebildeten Dominikanermönch Fra Angelico zum Gelehrten, der am Wissen seiner Zeit teilhat.
Ob die Gelehrsamkeit, die Didi-Huberman ihm zuspricht und in seinem Namen noch einmal rekonstruiert, wirklich die Gelehrsamkeit Fra Angelicos war und nicht doch eher die gestenreiche und elegante Didi-Hubermans, das ist letztlich nicht einmal zu sagen. Die Kunstgeschichte ist aufgefordert, der glanzvollen Zumutung dieses Buches etwas entgegenzusetzen. Sie wird die Vermutungen und die exakten Beweise wieder säuberlich trennen.
Doch das wird Didi-Hubermans Recherchen nicht treffen. Es sind hochinspirierte Studien, in jener Mischung von Strenge, Schönheit und begeisterter Rede, die man im Mittelalter kultivierte, Poesien darüber, was in Fra Angelicos Bildern so leuchtet.
Georges Didi-Huberman: "Fra Angelico". Unähnlichkeit und Figuration. Aus dem Französischen übersetzt von Andreas Knop. Wilhelm Fink Verlag, München 1995. 272 S., br., 98,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main