Eine Prostituierte, ein buddhistischer Mönch und ein Klomann, eine Falun-Gong-Anhängerin, ein ehemaliger Rotgardist und ein Feng-Shui-Meister - sie und viele andere hat Liao Yiwu, einer der bekanntesten Autoren Chinas und selbst ehemaliger politischer Häftling, mit Respekt, Einfühlungsvermögen und Humor nach ihrem Leben und ihren Hoffnungen befragt.
Diese einzigartigen Gespräche lassen uns ein China entdecken, das wir sonst nicht zu sehen bekommen - ein China, in dem archaische Mythen und Riten allen politischen und technischen Revolutionen zum Trotz noch lebendig sind, ein China der Ausgestoßenen und Randständigen, deren Würde, Witz und Menschlichkeit ihnen niemand hat nehmen können.
Diese einzigartigen Gespräche lassen uns ein China entdecken, das wir sonst nicht zu sehen bekommen - ein China, in dem archaische Mythen und Riten allen politischen und technischen Revolutionen zum Trotz noch lebendig sind, ein China der Ausgestoßenen und Randständigen, deren Würde, Witz und Menschlichkeit ihnen niemand hat nehmen können.
Die chinesischen Behörden ließen ihn nicht zur Buchmesse reisen. Dabei lässt Liao Yiwu mit seinen Gesprächsprotokollen aus der Unterschicht wie kaum ein anderer die disparate Realität des neuen China fassbar werden.
Von Mark Siemons
In der kommunistischen Geschichte wird "das Volk" ausschließlich in Großbuchstaben geschrieben: Es ist unverhohlen eine Abstraktion, der die Partei dient und die ihren Weg durch alle mögliche Unbill prinzipiell so geht, dass sie "fortschreitet", ob zur klassenlosen Gesellschaft, zur harmonischen oder zu welcher auch immer. Mit einzelnen Menschen hat diese Abstraktion nur insofern zu tun, als sie ihnen einen Code liefert, mit dem sie inmitten der kollektivistischen Anmaßungen halbwegs unauffällig überleben können.
Deshalb war es Mitte der achtziger Jahre, eine knappe Dekade nach der Kulturrevolution, eine literarische Sensation, als die Dramaturgin Zhang Xinxin und der Journalist Sang Ye die Gesprächsprotokolle "Pekingmenschen" herausgaben, in denen Chinesen aller Schichten aus der vorgeformten Sprache des "Volks" heraustraten und ganz persönliche Interpretationen ihres Lebens formulierten. Jetzt, mehr als zwanzig Jahre später, findet diese Sensation eine Fortsetzung: Die "Interviews mit Menschen vom Bodensatz der Gesellschaft", die der Dichter Liao Yiwu unter dem deutschen Titel "Fräulein Hallo und der Bauernkaiser" festhält, dokumentieren nicht nur, wie sehr sich die Individualisierung und gesellschaftliche Ausdifferenzierung in China mittlerweile weiter von vorgestanzten Formen entfernt haben. Die Gespräche des Bandes, der 2001 in Teilen in China erschien und kurz darauf verboten wurde, nehmen die Auseinandersetzung mit dem offiziellen Geschichtsbild der Kommunistischen Partei, die in dem früheren Buch allenfalls andeutungsweise geführt werden konnte, auch direkt auf.
Das ist umso eindrucksvoller, als dies ganz absichtslos, unprogrammatisch geschieht. Keines der Gespräche, die Liao mit Bardamen, Klomännern, Fengshui-Meistern und politisch Verfolgten geführt hat, will etwas Bestimmtes beweisen. Viele der Protokolle beginnen mit vorsichtigen Annäherungen; die Gesprächspartner sind bisweilen misstrauisch und wollen nicht recht mit der Sprache heraus, und erst allmählich, eben wie im wirklichen Leben, findet die Unterhaltung ihren roten Faden. "Ich bin kein Reporter", sagt Liao deshalb auch einmal über sich, "ich bin nur ein einfacher Mann, der die Gefühle des Volkes untersucht."
Die meisten derer, die sich da der Geschichte, wie sie die Parteiführung jetzt wieder zum sechzigjährigen Jubiläum der Volksrepublik propagiert, entziehen, wurden ohne eigene Absicht in den Eigensinn hineingezogen. Eigentlich wollten sie so ruhig und unauffällig leben und kollaborieren - aber die Umstände ließen ihnen keine Chance. Der Bauer Zhou Shude zum Beispiel konnte jahrzehntelang nur an Arbeit denken, um die Schulden, die der opiumsüchtige Bruder der Familie aufgehalst hatte, loszuwerden.
Doch nach der "Befreiung", wie der Regierungsantritt der Kommunisten auch von deren Opfern genannt wird, galt er 1950 plötzlich als "Grundbesitzer", und in den nächsten 25 Jahren musste er mit anderen so Etikettierten und mit sogenannten Rechtsabweichlern das lebendige Objekt der regelmäßig stattfindenden Kampfversammlungen in seinem Dorf abgeben. Dem opiumsüchtigen Bruder gegenüber, der plötzlich als "armer Bauer" definiert ist und Oberwasser bekommt, bleibt er freilich auch in seiner erbärmlichen Lage kein Wort schuldig: "Ich bin Grundherr, du bist ein armer Bauer", bescheidet er ihn, "wir wollen doch eine klare Klassenlinie zwischen uns ziehen!" Deng Kuan, der sich als buddhistischer Mönch sein ganzes Erwachsenenleben nur mit Sutren beschäftigt hatte, sah sich zur selben Zeit plötzlich als "Tempel-Großgrundbesitzer" jahrzehntelangen Demütigungen ausgesetzt. "Von 1950 bis zum Vorabend der neuen Religionspolitik 1978 war das zeitlich längste schlechte Karma in der Geschichte Chinas", ist sein Resümee.
Der Klomann erzählt eine Geschichte Chinas ganz von unten.
Feng Zhongci war ein engagierter Komiteesekretär der Kommunistischen Jugendliga und zögerte 1957 zunächst auch nicht, die Kampagne gegen Rechtsabweichler mitzutragen, die auf das trügerische Tauwetter der Tausend-Blumen-Bewegung folgte. Doch dann wendete sich der Wind auch gegen eine Frau mit "schlechtem Klassenhintergrund", mit der er häufig zusammen war, und um ihn zu retten, gab die Parteiführung die Sprachregelung aus, er habe sich nur auf sie eingelassen, "um die Schlange aus ihrem Bau zu locken". Diese Infamie konnte er nicht ertragen: Er bekannte sich öffentlich zu der Frau, die er später heiratete, und fortan galt er selbst als Rechtsabweichler und übles Element. 32 Jahre später war es der reine Zufall, der den Funktionär und Bankdirektor Wan Baocheng die Nacht zum 4. Juni 1989 in einem Pekinger Hotelzimmer verbringen ließ, von wo aus er einen Soldaten der Volksbefreiungsarmee einem jungen Mann mit dem Sturmgewehr in den Rücken schießen sah. Er konnte nicht anders, als diese Szene aufzuschreiben, die Notiz zu kopieren und später im Zug zu verteilen. Wochen vergingen, in denen er fast schon die offizielle Version der Ereignisse zu akzeptieren begann, und dann wurde er doch noch festgenommen und zum Widerruf des Geschriebenen aufgefordert. Sogar sein Vater, ein alter Kämpfer der Volksbefreiungsarmee, beschwor ihn: "Mach, was die Partei dir sagt! (. . .) Man sieht, was man sehen soll, und was man nicht sehen soll, das sieht man nicht." Dazu war er nicht bereit, und deshalb wurde er als "Konterrevolutionär" zu vier Jahren Haft verurteilt.
Liao Yiwu selbst wurde wegen eines Gedichts, das er nach der Niederschlagung der Studentenbewegung geschrieben hatte, für vier Jahre inhaftiert und in dieser Zeit schwer misshandelt. Spätestens seit dieser Zeit scheint er alle Befangenheiten überwunden zu haben, die die meisten seiner Landsleute noch zur Rücksicht gegenüber verordneten Tabus oder überkommenen Konventionen anhalten. Nicht einmal die jahrtausendealten Gewohnheiten seines eigenen Gelehrtenstatus schont er. "Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen", schreibt er mit gehöriger Selbstironie, als er einen Klomann aufsucht, "und streifte das Selbstverständnis eines sogenannten Intellektuellen ab, um dieses Interview zu führen." Die Unerschrockenheit lohnt sich: Das Gespräch liefert tatsächlich eine Geschichte Chinas von ganz unten, nämlich aus der Perspektive der Fäkalienbeseitigung. Der unternehmerische Klomann Zhou Minggui erzählt von der Zeit, als jeder seine Exkremente selbst zum Klärwagen brachte ("damals war man sehr eng miteinander verbunden") und als Fäkalien sogar häufig von Räubern gestohlen wurden, die sie dann als Dünger weiterverkauften. Wer erwischt wurde, musste eine Selbstkritik schreiben und sich eindeutig vom Revisionismus distanzieren. Liao lobt den Witz des Klomanns, der darauf trocken zurückgibt: "Das steht außer Frage, wir arbeitendes Volk, nicht wahr, wir nehmen es, wie es kommt."
Der Bauernkaiser hielt Hof im besetzten Krankenhaus.
Dabei gibt sich der Interviewer keiner falschen Romantik der Basis als einem Hort der besseren Menschen hin. Er besucht auch einen Verbrecher im Gefängnis, der junge Frauen entführt und an Heiratswillige auf dem Land verkauft hat (auch hier lauert der größte Schrecken im Detail, etwa wenn der Mann erzählt, den größten Ärger hätten gebildete Frauen gemacht: "Ein Mädel haben sie einen Monat in ein Erdloch gesteckt, aber sie hat sich nicht gefügt"). Dann interviewt er einen ehemaligen Rotgardisten, der ungerührt berichtet, wie er seinen Schuldirektor während der Kulturrevolution durch öffentliche Demütigungen in den Selbstmord trieb und sich im nächsten Moment an die Massenbegeisterung auf dem Tiananmen erinnert: "Vielleicht haben wir nur für diesen Tag, nur für diesen Augenblick gelebt."
Auch manches Groteske auf dem chinesischen Weg in die Moderne kommt zum Vorschein. 1993 besuchte Liao einen Mann im Gefängnis, der von den Bauern dreier Landkreise als Kaiser verehrt wurde und in einem von seinen Getreuen besetzten Krankenhaus einen eigenen Hofstaat errichtet hatte. Sein "Reich des Großen Überflusses" gewann Popularität vor allem dadurch, dass es sich gegen die staatliche Geburtenplanung stellte: "Die verheirateten Frauen", sagte der Kaiser, "wollten lieber Höhlen in die Berge bohren, von wildem Gemüse leben, Quellwasser trinken und das Leben von Wilden führen als im Strom der Menschen unterzugehen." Der Kaiser interpretierte es als alte Sitte, dass ihm die Krankenschwestern als Konkubinen zugeführt wurden. Als das Hospital schließlich von der Armee umstellt wurde, sollten sich die Konkubinen als Märtyrerinnen des Reichs in den Lotusteich stürzen: "Leider war der Teich nicht tief genug, niemand konnte darin ertrinken." Zur Zeit des Interviews wurde dem Kaiser wegen guter Führung in der Haft erlaubt, ein Studium an der Universität zu beginnen.
Einmal begegnet Liao auch dem "neuen Menschen". So bezeichnet sich ein Animiermädchen, das über die alten Menschen nur noch durch Spielfilme informiert ist. Ihr kommt Liao wie ein Exemplar einer aussterbenden Gattung vor. "Ich nehme an", sagt sie ihm belustigt, "du gehörst zu der Generation mit den bitteren Erfahrungen und dem Hass im Herzen." Liao gibt ihr später zurück, sie habe wohl überhaupt kein Herz - was sie wiederum an Transformer-Filme erinnert, die sie gesehen hat: "Maschinenmenschen haben kein Herz." In der Tat, Liao Yiwu ist alles andere als ein Maschinenmensch, und sein Herz ist so groß, dass sogar diese coole Vertreterin des neuen chinesischen Menschen in ihm Platz findet. Es ist von einer tragikomischen, absurden Folgerichtigkeit, dass ihm die chinesischen Behörden die Ausreise zur Buchmesse verweigert haben - so wie sie ihn schon sein ganzes Leben lang nicht ins Ausland gelassen haben. Kaum jemand dürfte die Welt über die disparaten Realitäten des neuen China heute umfassender unterrichten als er.
Liao Yiwu: "Fräulein Hallo und der Bauernkaiser". Chinas Gesellschaft von unten. Aus dem Chinesischen von Hans Peter Hoffmann, Karin Betz und Brigitte Höhenrieder. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2009. 544 S., geb., 22,95 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
In die Schlagzeilen hat es der Autor Liao Yiwu gerade gebracht, weil ihm China die Ausreise nach Deutschland zur Frankfurter Buchmesse schlicht verweigert. Die Aufmerksamkeit, die Yiwu so bekommt, hat ganz entschieden auch das Buch, das er in Frankfurt vorstellen wollte, verdient. Das versichert Alex Rühle, der dennoch erst einmal den Kopf schüttelt über die chinesische Literatur-Politik, die sich hier im schlechtesten Licht zeigt und als ausgesprochen unsouverän erweist. Gewiss könne den Regierenden, was in Liao Yiwus Buch zu lesen steht, kaum gefallen - schon, weil es ganz der chinesischen Gegenwartswirklichkeit abgelauscht sei. Der Autor, in China schon lange verfemt und malträtiert und nie offiziell veröffentlicht, ist durchs Land gereist und hat, was ihm die Leute erzählen, zu Protokoll genommen. Da gibt es den Funktionär, der "vom Glauben abgefallen" ist, den Toilettenmann, den Komponisten und auch den Menschenhändler, der ganz offen und ohne Reue berichtet. "Epochal" findet Rühle das Buch, das dabei entstanden ist. Ein erstaunliches Porträt insbesondere jener Seiten des China von heute, die man von offizieller Seite lieber verschweigt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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