Marktplatzangebote
27 Angebote ab € 0,50 €
  • Broschiertes Buch

Kurz vor dem Hauptschulabschluß wechselt Marysia die Schule, der Vater hat in der Stadt einen besseren Job gefunden. Das Mädchen vom Lande freundet sich mit der Aussenseiterin Kasia an. Doch dann bricht Kasia plötzlich den Kontakt ab, und die schöne Ewa aus neureichem Elternhaus, die weiß, wie man Geld ausgibt und Männer um den Verstand bringt, wendet sich Marysia zu. Für Marysia tut sich eine vollkommen neue Welt auf...

Produktbeschreibung
Kurz vor dem Hauptschulabschluß wechselt Marysia die Schule, der Vater hat in der Stadt einen besseren Job gefunden. Das Mädchen vom Lande freundet sich mit der Aussenseiterin Kasia an. Doch dann bricht Kasia plötzlich den Kontakt ab, und die schöne Ewa aus neureichem Elternhaus, die weiß, wie man Geld ausgibt und Männer um den Verstand bringt, wendet sich Marysia zu. Für Marysia tut sich eine vollkommen neue Welt auf...
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.10.1997

Dallas liegt in Polen
"Fräulein Niemand": Tomek Tryzna rechnet mit der Raffgier ab

Jemand verfaßt seinen ersten Roman, und ein Nobelpreisträger für Literatur zieht davor den Hut - das ist so unwahrscheinlich wie ein Sechsertreffer im Lotto gleich beim ersten Tippzettel. Aber genau das geschah Tomek Tryzna, geboren 1948, Filmregisseur und Drehbuchautor in Warschau. Als sein "Fräulein Niemand" 1994 erschien, applaudierte Czeslaw Milosz in einer ausführlichen Rezension. Tryznas Buch sei "der erste genuin polnische postmoderne Roman", meinte Milosz, und: "Manchmal denke ich, daß dieser und kein anderer Roman . . . in Polen endlich hat erscheinen müssen, daß man ihn (obwohl er schon 1988 geschrieben wurde) unbewußt erwartete." Offenbar war das nicht bloß in Polen der Fall: Drei Jahre nach der Warschauer Premiere gibt es schon Übersetzungen in zehn Sprachen; als elfte kommt jetzt die deutsche Ausgabe hinzu. Und irgendwann wird uns wohl auch der Film erreichen, den Andrzej Wajda 1996 nach Tryznas Vorlage gedreht hat.

Da das Buch in der noch bestehenden Volksrepublik Polen konzipiert und geschrieben wurde, spiegelt es deren Verhältnisse wider, allerdings unter den Auspizien der nahenden Wende. Schon scheidet der Dollar als illegale, aber unendlich begehrte zweite Landeswährung die Bevölkerung in Erfolgstypen und Pechvögel. Wer Beziehungen ins Ausland hat, der trägt westliche Jeans, Kleider, T-Turnschuhe; der weiß, welche Automarke, welcher Popstar, welcher Kinoheld in ist. Unaufhaltsam versinken am Horizont die Begriffe des Sozialismus, es überrascht geradezu, wenn jemand beiläufig vom Blumenstrauß zum Internationalen Frauentag spricht.

Politik ist nicht das Thema des Romans, aber sie gehört zu seinem Ambiente. Die handelnden Personen beziehen nicht zuletzt aus den politisch zu verantwortenden gesellschaftlichen Verhältnissen ihre Ausstattung, Kraft oder Schwäche. Czeslaw Milosz bemerkte dazu: "Ich habe mich mit Fräulein Niemand befaßt, weil ich glaube, daß dieser Tomek Tryzna ein guter Mensch sein muß. Ihm tun Menschen leid, vor allem die jungen, die gezwungen sind, sich mit sich selbst und ihrer Existenz auf dieser Erde auseinanderzusetzen: jetzt und heute, am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, wenn hinter den bunten Kleidern, Neonreklamen und glitzernden Autos das Nichts die Zähne fletscht."

Das klingt nach Tragödie, und wer dergleichen heraushört, hat das Wesen des Romans schon richtig erfaßt. Dabei fängt alles so harmlos an, man meint über weite Erzählstrecken, nichts als eine bunte Jugendwelt zu erleben, einen Teenager-Schnack, in dem alles Schlimme sich im Ärger mit Eltern oder Lehrern erschöpft. Aber von Seite zu Seite peinigender drängt sich die Erkenntnis auf, daß Sartres Verdikt "Die Hölle, das sind die anderen" offenbar nicht für mündige Erwachsene reserviert ist.

Tryznas Heldinnen sind um die fünfzehn Jahre alt. Marysia, Kasia und Ewa besuchen die Abschlußklasse einer Hauptschule in einem Provinznest. Erzählt wird die Geschichte aus Marysias Perspektive, sie liest sich wie eine Tonbandbeichte. Warum hat der Autor sie vor den anderen beiden Figuren auserwählt? Vermutlich, weil sie sozial am schlechtesten ausgestattet ist, zum Opfer eher geeignet als zum Täter. Marysias Vater ist ein hart malochender und übermäßig saufender Bergwerksarbeiter, die Mutter eine beschränkte Spießerin, der fünf Geburten und die tägliche Haushaltsfron jeglichen Liebreiz und jede Spur geistigen Interesses ausgetrieben haben. Die Familie zog aus einer dörflichen Bretterkate in eine städtische Plattenbauwohnung, was Marysia wie ein Aufstieg in den Himmel vorkommt. Aber dann sieht sie die Herrschaftswohnung, in der Kasia, und die weiße Prunkvilla, in der Ewa zu Hause ist. Die Kleineleutetochter beginnt sich zu schämen, fürchtet um ihr Ansehen in der Schulklasse, entwickelt Aggressionen.

Es ist bemerkenswert, wie gut Tryzna sich in Mädchenleben und Mädchenseelen auskennt. Normalerweise schlüpft ein Autor leichter in die Haut eines Helden vom gleichen Geschlecht. Tryzna aber läßt seine Fünfzehnjährigen derartig überzeugend schwatzen und träumen, die Freundin lieben und um sie leiden, als sei er in einer früheren Inkarnation selbst so ein Backfisch gewesen und wisse genau Bescheid. Erst im zweiten Teil des Buches, wenn die Narreteien zur Tragödie mutieren, stattet er seine Heldinnen mit Zügen aus, die eher männlichen als mädchenhaften Ursprungs zu sein scheinen.

In der Phase ihrer Freundschaft erfassen weder Marysia noch Kasia, daß jede in der anderen vor allem Entschädigung für Vorenthaltenes sucht. Marysia glaubt, in Kasias Prunkwohnung den Duft wundervoller Freiheit zu atmen. Kasia dagegen deutet familiäre Enge als Geborgenheit und beneidet Marysia darum. Ihre Mutter, eine Ärztin, hat kaum Zeit für sie; von ihrem Vater, einem in Tunesien lebenden Franzosen, kennt sie nur die pompösen Geschenke.

Eine auf Mißverständnissen basierende Beziehung hält nicht. Eines Tages zwingt Kasia die Freundin mittels böser Tricks, in ein Weihwasserbecken zu spucken, für Marysia eine gräßliche Sünde, die ihr die Zuflucht Kirche auf ewig verschließt. Kasia versteht so etwas nicht. Marysia wiederum versteht nicht, daß Kasia aus Verzweiflung wütet. Ihr Vater ist nämlich gestorben und mit ihm ihre schönsten Sehnsuchtsträume. Die Mädchen verlieren einander.

Für Marysia beginnt nun die Ära Ewa. Die neue Freundschaft ist geprägt vom Highlife einer Dollar-Mafia. Das reiche Mädchen überschüttet das arme Mädchen mit Geschenken und Party-Freuden. Marysia wohnt schon fast in der weißen Villa, aus ihrem schäbigen Zuhause lügt sie sich frei. Schließlich wird sie gewissermaßen Ewas Geliebte, wobei die schwärmerischen Empfindungen des Anfangs zunehmend in sadomasochistische Quälereien übergehen. Diese Partien sind es, die man als eher männliche Ausdeutung des Intimlebens halbgarer Mädchen auffassen möchte. Gewiß ist Ewa ein Luder, aber ein unfertiges, und Papas Dollars erklären nicht alles. Woher also rührt ihre ausgekochte Verworfenheit? Und wieso fügt die noch ziemlich verspielte Marysia sich so bereitwillig den Dämonen dieses Sündenbabels?

Fest steht, daß beide Mädchen ohne Boden unter den Füßen leben. Ewa kannte wohl nie ein Wertesystem, das nicht von ihres Vaters Brieftasche abhing. Marysia, ihrem Glauben entfremdet, bezieht Zuversicht wie Zweifel zunehmend aus dem, was andere von ihr denken oder über sie sagen. Das Unheil ist programmiert. Es nimmt seinen Lauf, als Kasia erneut auftaucht und die Zweierbeziehung sich zur Dreierfreundschaft zu vervollkommnen scheint. Marysia erlauscht ein Gespräch zwischen Ewa und Kasia, dem zufolge Freundschaft immer nur zwischen den beiden reichen Mädchen bestand und die Proletariertochter nichts als ein Lückenbüßer während einer Zankphase war. Ärger noch: Marysia hört sich als Schnorrerin denunziert.

Ob Ewa und Kasia aus Überzeugung redeten oder bloß einer bösen Laune Luft machten, erfahren wir nicht, denn Marysia gönnt sich nicht die Zeit, es herauszubringen. Man hat ihr das Urteil gesprochen, sie wird es vollstrecken. Jedenfalls sieht es so aus, als ob sie das tut. In wilden Traumphantasien rechnet sie mit der Welt ab, die sie verwarf. Spätnachts schleicht sie in die elterliche Plattenbauhöhle, greift sich ihr behindertes Brüderchen, ein blindgeborenes Baby, und tritt mit ihm an die Balkonbrüstung. Ist sie dann gesprungen, oder war das nur ein weiterer Albtraum? Nur eines ist sicher: daß die Reibach-Gesellschaft, die sich im Roman gerade aus dem verfaulenden Sozialismus schält, ihre Kinder weder zu schützen noch zu nützen vermag. SABINE BRANDT

Tomek Tryzna: "Fräulein Niemand". Roman. Aus dem Polnischen übersetzt von Agnieszka Grzybkowska. Luchterhand Literatur Verlag, München 1997. 341 S., geb., 39,80 DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr