Der Stiftsbibliothekar hat während eines langen Sommers seinen Neffen zu Besuch. Um den kostbaren Boden des barocken Büchersaals zu schützen, soll der Junge Filzpantoffeln an die Besucher austeilen. Der Junge merkt bald, dass sich ihm neue Welten öffnen - die Welt der Bücher und des anderen Geschlechts. Fasziniert beginnt er zu lesen und wagt es immer öfter, scheue Blicke unter die Röcke der Besucherinnen zu werfen.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.07.2001Ein Sündenfall an der Grenze zum Allerheiligsten
Der Stiftsbibliothekar, sein Pantoffelministrant und das Fräulein: Thomas Hürlimann persifliert die katholischen Verhüllungs- und Enthüllungszeremonien · Von Pia Reinacher
Der Generalkonflikt von Thomas Hürlimanns neuer Novelle entzündet sich an der säuberlichen Auftrennung: hier die Fuchtel katholischer Triebunterdrückung, dort die flackernden Pubertätsphantasien; hier das zeremonielle Leben der Altherren-Prominenz, dort die praktische, sich um starre Regeln wenig scherende Frauenlogik; hier der luftleere Himmel des reinen Geistes, dort die schwüle Schummrigkeit erotischer Unterwelten.
In dieser Welt, in der die Wellen von beiden Seiten wuchtig aufeinanderbranden, versucht sich der Ich-Erzähler, der heranwachsende Neffe des Stiftbibliothekars, zurechtzufinden. Thomas Hürlimanns Novelle "Fräulein Stark" ist ein Entwicklungsroman im Kleinformat, soll doch der kleine Katz ins Erwachsenenleben eingeführt werden. Er ist während eines langen Sommers in der "Bücherarche" des Onkels zu Gast und wird von dessen robuster Haushälterin Magdalena Stark mit dem klösterliche Männerleben vertraut gemacht. Der Onkel wiederum weist dem Pubertierenden ein vieldeutiges Amt zu: er soll all die hochtoupierten, langbeinigen, hauchzarte Geruchsschleppen mit sich ziehenden Besucherinnen, die mit ihren Stöckelschuhen die Klosterbibliothek überfallen wollen, mit Filzpantoffeln versorgen - um Abdrücke von spitzen Absätzen auf dem weichen Kirschholz zu vermeiden.
Das ist die - so verzwickte wie hintergründige - Grundkonstellation der neuen Novelle "Fräulein Stark" des Schweizer Autors, und aus diesem Gefüge bezieht die Geschichte ihre Dynamik. Sprengstoff im wahrsten Sinne, wie die Aufregung in der Bischoftsstadt St. Gallen kurz vor Erscheinen des Buches zeigte. Prominente Altkonservative wollten Hürlimanns Lesung aus dem "Fräulein Stark" nach prophylaktischer Konsultation des Leseexemplars kurzerhand verbieten. Was war geschehen? Der Sohn des ehemaligen CVP-Bundesrates Hans Hürlimann, mütterlicherseits verwandt mit der St. Galler CVP-Dynastie Duft, hat getan, was er seit seinen literarischen Anfängen tut: respektlos in die autobiographische Kiste gegriffen und seine Figuren mit Hilfe von Vorbildern aus allernächster Nähe montiert. Der Erzähler und Dramatiker Hürlimann kaprizierte sich schon immer darauf, der Vaterwelt die Maske vom Gesicht zu reißen und ungerührt am patriarchalischen Wertgefüge zu rütteln: das war im Theaterstück "Großvater und Halbbruder" (1981) der Fall, in dem er die anpasserische Haltung der Ostschweizer Politprominenz ans Naziregime anklagt, das war im Stück "Der Gesandte" (1991) so, in dem er auf dem Mitläufertum der Schweiz im Zweiten Weltkrieg insistiert und die helvetische Neutralität als Balanceakt zwischen Anpassung und Geschäftsprofit denunziert, das war aber auch in der berühmt gewordenen Novelle "Das Gartenhaus" (1989) nicht anders, in der er ein verdämmerndes Paar auf dem untergehenden Eheschiff beobachtet und die Lebensziele der Elterngeneration in ein böses Licht taucht. Ein Phänomen ist die Hürlimannsche Affäre insofern, als die patriotischen Gesetzestafeln des Politikervaters selbst zu seinen Lebzeiten regelmäßig vom ironischen Entlarvungs-Alphabet des Schriftstellersohnes öffentlich konterkariert wurden - bei durchaus gegenseitigem Respekt.
Und wieder spielt "Fräulein Stark" im katholischen Klostermilieu. Im Zentrum stehen zwei Figuren: Auf der einen Seite der Stiftsbibliothekar. Er residiert im barocken Kloster in einer mit Teppichen belegten Plüschhöhle, an den Wänden hängen Ikonen und Marienbilder, ein geschnitzter Elefant mit Stoßzähnen aus echtem Elfenbein trägt auf seinem Schädel eine Krone mit Cognacgläsern, es riecht nach Rasierwasser und alten Folianten. Ein Mann des Intellekts und der kontrollierten Ausschweifung - und doch wird er fein gesteuert von der gottesfürchtigen, in den praktischen Dingen des Alltags überlegenen Haushälterin Fräulein Stark. So harmlos, wie die Verhältnisse jetzt scheinen, sind sie allerdings nicht, dazu ist Hürlimann ein viel zu listiger Autor. Der Bibliothekar und sein Fräulein haben schwimmende Identitäten: Er wandelt in klerikalen Glockenröcken durch sein Bücherhaus, sie trägt am liebsten Hosen. Er ist erhaben über die Dinge des Fleisches, sie ein schlichtes Wesen, das täglich Zuflucht in der Grotte der Schwarzen Madonna sucht. Er berührt die Blätter der tausendjährigen Bibel nur in zarten Handschuhen, schwarz wie Frauendessous, sie schnickt gerne ihre Zigarettenstummel wie Sternschnuppen in die Nacht hinaus.
Ein ambivalentes Paar, zwiespältig bis in die Tiefen seiner Identität, aber einander ein Leben lang in keuscher, zölibatärer Liaison verbunden - wobei Hürlimann, schlauer Gestalter, auf der symbolischen Ebene das behauptete Zölibatäre mit einem Zeichensortiment aus dem Reservoir des Sexuellen und Fetischistischen sogleich kühn untergräbt. Keine Gelegenheit läßt dieser Autor aus, um den Dingen ihre Eindeutigkeit zu nehmen und sie mit geheimnisvoll changierendem Glanz zu überziehen: Der Stiftsbibliothekar nämlich läßt dem Fräulein gerne Geschenke überbringen, die - im psychoanalytischen Code der Kleidersprache zumindest - merkwürdig eindeutig als weibliche und männliche Symbole zu entschlüsseln sind: Taschen aus Krokoleder, Hüte, Regenschirme, sogar einen Damenrasierapparat - wobei das Fräulein, das man gelegentlich mit einem Herrlein verwechseln könnte, diese Avancen mit gekochten Ochsenzungen und gesottenen Forellen kontert. "Das Fräulein Stark, die Haushälterin, nahm die Mahlzeiten in der Küche ein und betrat das Eß- und Herrenzimmer nur, wenn Monsignore geklingelt hatte. Zwar blieb die Tür zwischen den beiden offen, so daß der Onkel das Suppenschlürfen der Stark und die Stark das Anknipsen seiner Zigaretten hören mußte, aber nie setzte sich dieses Paar an denselben Tisch, nie fielen sie miteinander ins Bett, und nicht einmal im Grab, wo beide seit längerem liegen, hat man sie zusammengelegt."
Wobei wir wieder bei den realen Vorbildern aus dem wirklichen Leben wären. Diese machen jetzt dem schwadronierenden Schriftsteller insofern einen Strich durch die Rechnung, als sie, keineswegs im Grab, sondern durchaus rüstig, mit dem Neffen in einer zwölfseitigen Streitschrift resolut abrechnen. Wieder einmal und in der Schweiz nicht zum ersten Mal wird dabei Faktum und Fiktion großzügig vermischt und die geheimnisvolle Verwandlung des Privaten ins Kollektive übersehen. Dabei hätte es gereicht, zur eigenen Beruhigung ein paar Details zu überprüfen: Selbst die Spielbühne ist nicht authentisch, sondern erfunden - ein Verschnitt aus den barocken Klöstern St.Gallen und Einsiedeln - die berühmte Einsiedler Wallfahrtsfigur, die Schwarze Madonna, ist nur ein Beleg dazu.
Aufregend an Thomas Hürlimanns Geschichte "Fräulein Stark" ist wohl eher die Tatsache, daß der Schriftsteller die bürgerlich-klerikale Fassade dieses Milieus in ein respektloses Licht taucht und dabei lautlos die katholische Gefühls- und Geschlechtserziehung karikiert. Sein Held, ein Abkömmling der Katz-Dynastie aus dem St. Gallischen, ist ein hochirritiertes, hin- und hergeworfenes Wesen auf der Schwelle zum Erwachsenenleben. Er soll seine Identität finden in dieser Aura von Tradition, Staub und Triebunterdrückung. Thomas Hürlimanns Spott ist bei genauerem Hinsehen in der Tat viel weniger artig, als man annehmen möchte: Es kommt zur Initiation, aber wie? Sein literarisches Arrangement ist eine amüsante Persiflage der katholischen Verhüllungs- und Enthüllungszeremonien.
Der Sündenfall des kleinen Katz spielt sich an der Grenze zum Allerheiligsten, zur Bücherarche ab, die Initiation auf sexuellem Gebiet geschieht auf versteckten Pfaden und könnte bequem als literarische Illustration der These Sigmund Freuds über die Entstehung des Fetischismus gelesen werden. Der kleine Pantoffelministrant, auf den Knien vor den bestrumpften Schönheiten liegend, wird von ihren Stoffzelten magisch angezogen und späht bald süchtig in die dunkle Nacht dieser Glockenröcke, wobei er mit einem Spiegelchen nachilft. Statt dem Bücherhimmel eröffnet sich dem jungen Katz der Rockhimmel, statt der Klosterwelt entdeckt er die eigene Katzenwelt, statt zu den stockkonservativen Männerritualen der Altherren und Füchse zieht es ihn zu den erotischen Frauenritualen und statt zur Jungfrau Maria zu den hochhackigen Schönheiten - wobei am Ende erst noch keineswegs eindeutig ist, auf welchem Terrain die finale Seligkeit denn nun zu erlangen wäre.
Nachzutragen ist folgendes: Thomas Hürlimanns Novelle ist meisterhaft gearbeitet. Die Mikrostruktur des Textes ist ein feines Gewebe aus Verweisungen, Symbolen, Analogien; kein Wort ist zufällig gesetzt, kein Satz eindimensional, kein Bild ohne eine fluoreszierende Aura; die Szenen zeugen von kraftvoll-monströser Phantasie. Das macht auch die mehrfache Lektüre vergnüglich. Die Sprache ist schwebend leicht, mit ironischen Tupfern versetzt. Nur: Thomas Hürlimann bezieht seinen Stoff seit jeher aus dem gleichen Reservoir. Er seziert sein Universum mit immer neuen Schnitten. Gewiß, das spricht nicht gegen den Autor. Von einer jüngeren Generation, die mit Aids-Problematik, Internet-Pornographie und freiem Partnerwechsel konfroniert ist, mag die sexuelle Initiationsproblematik allerdings als altmodisch wahrgenommen werden. Und: Hürlimann schreibt in einer klassischen Sprache, mit klassischen Stilmitteln, ja selbst in einer Zeichensprache, die sich an Gottfried Keller und Robert Walser orientiert. Das Spiel mit Schuh und Fuß, die ganze zeichenhafte Kleidertopographie fände sich auf Anhieb schon bei solchen Autoren. Gewiß, auch das auf die Länge kein eindeutiges literaturkritisches Kriterium, haben doch die Schriftsteller schon immer das Gleiche neu erzählt - aber neu ist es bei Thomas Hürlimann eben nur zum Teil. Bei all dem prächtigen Vergnügen, das man beim Lesen verspürt, soll doch nicht unterschlagen werden, daß man ab und zu vom Gefühl beschlichen wird, eine versunkene, erstarrte Kulissenwelt vor sich zu haben, makellos abgebildet zwar, aber wie unter Glas.
Thomas Hürlimann: "Fräulein Stark". Novelle. Ammann Verlag, Zürich 2001. 192 S., geb., 38,- DM
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Stiftsbibliothekar, sein Pantoffelministrant und das Fräulein: Thomas Hürlimann persifliert die katholischen Verhüllungs- und Enthüllungszeremonien · Von Pia Reinacher
Der Generalkonflikt von Thomas Hürlimanns neuer Novelle entzündet sich an der säuberlichen Auftrennung: hier die Fuchtel katholischer Triebunterdrückung, dort die flackernden Pubertätsphantasien; hier das zeremonielle Leben der Altherren-Prominenz, dort die praktische, sich um starre Regeln wenig scherende Frauenlogik; hier der luftleere Himmel des reinen Geistes, dort die schwüle Schummrigkeit erotischer Unterwelten.
In dieser Welt, in der die Wellen von beiden Seiten wuchtig aufeinanderbranden, versucht sich der Ich-Erzähler, der heranwachsende Neffe des Stiftbibliothekars, zurechtzufinden. Thomas Hürlimanns Novelle "Fräulein Stark" ist ein Entwicklungsroman im Kleinformat, soll doch der kleine Katz ins Erwachsenenleben eingeführt werden. Er ist während eines langen Sommers in der "Bücherarche" des Onkels zu Gast und wird von dessen robuster Haushälterin Magdalena Stark mit dem klösterliche Männerleben vertraut gemacht. Der Onkel wiederum weist dem Pubertierenden ein vieldeutiges Amt zu: er soll all die hochtoupierten, langbeinigen, hauchzarte Geruchsschleppen mit sich ziehenden Besucherinnen, die mit ihren Stöckelschuhen die Klosterbibliothek überfallen wollen, mit Filzpantoffeln versorgen - um Abdrücke von spitzen Absätzen auf dem weichen Kirschholz zu vermeiden.
Das ist die - so verzwickte wie hintergründige - Grundkonstellation der neuen Novelle "Fräulein Stark" des Schweizer Autors, und aus diesem Gefüge bezieht die Geschichte ihre Dynamik. Sprengstoff im wahrsten Sinne, wie die Aufregung in der Bischoftsstadt St. Gallen kurz vor Erscheinen des Buches zeigte. Prominente Altkonservative wollten Hürlimanns Lesung aus dem "Fräulein Stark" nach prophylaktischer Konsultation des Leseexemplars kurzerhand verbieten. Was war geschehen? Der Sohn des ehemaligen CVP-Bundesrates Hans Hürlimann, mütterlicherseits verwandt mit der St. Galler CVP-Dynastie Duft, hat getan, was er seit seinen literarischen Anfängen tut: respektlos in die autobiographische Kiste gegriffen und seine Figuren mit Hilfe von Vorbildern aus allernächster Nähe montiert. Der Erzähler und Dramatiker Hürlimann kaprizierte sich schon immer darauf, der Vaterwelt die Maske vom Gesicht zu reißen und ungerührt am patriarchalischen Wertgefüge zu rütteln: das war im Theaterstück "Großvater und Halbbruder" (1981) der Fall, in dem er die anpasserische Haltung der Ostschweizer Politprominenz ans Naziregime anklagt, das war im Stück "Der Gesandte" (1991) so, in dem er auf dem Mitläufertum der Schweiz im Zweiten Weltkrieg insistiert und die helvetische Neutralität als Balanceakt zwischen Anpassung und Geschäftsprofit denunziert, das war aber auch in der berühmt gewordenen Novelle "Das Gartenhaus" (1989) nicht anders, in der er ein verdämmerndes Paar auf dem untergehenden Eheschiff beobachtet und die Lebensziele der Elterngeneration in ein böses Licht taucht. Ein Phänomen ist die Hürlimannsche Affäre insofern, als die patriotischen Gesetzestafeln des Politikervaters selbst zu seinen Lebzeiten regelmäßig vom ironischen Entlarvungs-Alphabet des Schriftstellersohnes öffentlich konterkariert wurden - bei durchaus gegenseitigem Respekt.
Und wieder spielt "Fräulein Stark" im katholischen Klostermilieu. Im Zentrum stehen zwei Figuren: Auf der einen Seite der Stiftsbibliothekar. Er residiert im barocken Kloster in einer mit Teppichen belegten Plüschhöhle, an den Wänden hängen Ikonen und Marienbilder, ein geschnitzter Elefant mit Stoßzähnen aus echtem Elfenbein trägt auf seinem Schädel eine Krone mit Cognacgläsern, es riecht nach Rasierwasser und alten Folianten. Ein Mann des Intellekts und der kontrollierten Ausschweifung - und doch wird er fein gesteuert von der gottesfürchtigen, in den praktischen Dingen des Alltags überlegenen Haushälterin Fräulein Stark. So harmlos, wie die Verhältnisse jetzt scheinen, sind sie allerdings nicht, dazu ist Hürlimann ein viel zu listiger Autor. Der Bibliothekar und sein Fräulein haben schwimmende Identitäten: Er wandelt in klerikalen Glockenröcken durch sein Bücherhaus, sie trägt am liebsten Hosen. Er ist erhaben über die Dinge des Fleisches, sie ein schlichtes Wesen, das täglich Zuflucht in der Grotte der Schwarzen Madonna sucht. Er berührt die Blätter der tausendjährigen Bibel nur in zarten Handschuhen, schwarz wie Frauendessous, sie schnickt gerne ihre Zigarettenstummel wie Sternschnuppen in die Nacht hinaus.
Ein ambivalentes Paar, zwiespältig bis in die Tiefen seiner Identität, aber einander ein Leben lang in keuscher, zölibatärer Liaison verbunden - wobei Hürlimann, schlauer Gestalter, auf der symbolischen Ebene das behauptete Zölibatäre mit einem Zeichensortiment aus dem Reservoir des Sexuellen und Fetischistischen sogleich kühn untergräbt. Keine Gelegenheit läßt dieser Autor aus, um den Dingen ihre Eindeutigkeit zu nehmen und sie mit geheimnisvoll changierendem Glanz zu überziehen: Der Stiftsbibliothekar nämlich läßt dem Fräulein gerne Geschenke überbringen, die - im psychoanalytischen Code der Kleidersprache zumindest - merkwürdig eindeutig als weibliche und männliche Symbole zu entschlüsseln sind: Taschen aus Krokoleder, Hüte, Regenschirme, sogar einen Damenrasierapparat - wobei das Fräulein, das man gelegentlich mit einem Herrlein verwechseln könnte, diese Avancen mit gekochten Ochsenzungen und gesottenen Forellen kontert. "Das Fräulein Stark, die Haushälterin, nahm die Mahlzeiten in der Küche ein und betrat das Eß- und Herrenzimmer nur, wenn Monsignore geklingelt hatte. Zwar blieb die Tür zwischen den beiden offen, so daß der Onkel das Suppenschlürfen der Stark und die Stark das Anknipsen seiner Zigaretten hören mußte, aber nie setzte sich dieses Paar an denselben Tisch, nie fielen sie miteinander ins Bett, und nicht einmal im Grab, wo beide seit längerem liegen, hat man sie zusammengelegt."
Wobei wir wieder bei den realen Vorbildern aus dem wirklichen Leben wären. Diese machen jetzt dem schwadronierenden Schriftsteller insofern einen Strich durch die Rechnung, als sie, keineswegs im Grab, sondern durchaus rüstig, mit dem Neffen in einer zwölfseitigen Streitschrift resolut abrechnen. Wieder einmal und in der Schweiz nicht zum ersten Mal wird dabei Faktum und Fiktion großzügig vermischt und die geheimnisvolle Verwandlung des Privaten ins Kollektive übersehen. Dabei hätte es gereicht, zur eigenen Beruhigung ein paar Details zu überprüfen: Selbst die Spielbühne ist nicht authentisch, sondern erfunden - ein Verschnitt aus den barocken Klöstern St.Gallen und Einsiedeln - die berühmte Einsiedler Wallfahrtsfigur, die Schwarze Madonna, ist nur ein Beleg dazu.
Aufregend an Thomas Hürlimanns Geschichte "Fräulein Stark" ist wohl eher die Tatsache, daß der Schriftsteller die bürgerlich-klerikale Fassade dieses Milieus in ein respektloses Licht taucht und dabei lautlos die katholische Gefühls- und Geschlechtserziehung karikiert. Sein Held, ein Abkömmling der Katz-Dynastie aus dem St. Gallischen, ist ein hochirritiertes, hin- und hergeworfenes Wesen auf der Schwelle zum Erwachsenenleben. Er soll seine Identität finden in dieser Aura von Tradition, Staub und Triebunterdrückung. Thomas Hürlimanns Spott ist bei genauerem Hinsehen in der Tat viel weniger artig, als man annehmen möchte: Es kommt zur Initiation, aber wie? Sein literarisches Arrangement ist eine amüsante Persiflage der katholischen Verhüllungs- und Enthüllungszeremonien.
Der Sündenfall des kleinen Katz spielt sich an der Grenze zum Allerheiligsten, zur Bücherarche ab, die Initiation auf sexuellem Gebiet geschieht auf versteckten Pfaden und könnte bequem als literarische Illustration der These Sigmund Freuds über die Entstehung des Fetischismus gelesen werden. Der kleine Pantoffelministrant, auf den Knien vor den bestrumpften Schönheiten liegend, wird von ihren Stoffzelten magisch angezogen und späht bald süchtig in die dunkle Nacht dieser Glockenröcke, wobei er mit einem Spiegelchen nachilft. Statt dem Bücherhimmel eröffnet sich dem jungen Katz der Rockhimmel, statt der Klosterwelt entdeckt er die eigene Katzenwelt, statt zu den stockkonservativen Männerritualen der Altherren und Füchse zieht es ihn zu den erotischen Frauenritualen und statt zur Jungfrau Maria zu den hochhackigen Schönheiten - wobei am Ende erst noch keineswegs eindeutig ist, auf welchem Terrain die finale Seligkeit denn nun zu erlangen wäre.
Nachzutragen ist folgendes: Thomas Hürlimanns Novelle ist meisterhaft gearbeitet. Die Mikrostruktur des Textes ist ein feines Gewebe aus Verweisungen, Symbolen, Analogien; kein Wort ist zufällig gesetzt, kein Satz eindimensional, kein Bild ohne eine fluoreszierende Aura; die Szenen zeugen von kraftvoll-monströser Phantasie. Das macht auch die mehrfache Lektüre vergnüglich. Die Sprache ist schwebend leicht, mit ironischen Tupfern versetzt. Nur: Thomas Hürlimann bezieht seinen Stoff seit jeher aus dem gleichen Reservoir. Er seziert sein Universum mit immer neuen Schnitten. Gewiß, das spricht nicht gegen den Autor. Von einer jüngeren Generation, die mit Aids-Problematik, Internet-Pornographie und freiem Partnerwechsel konfroniert ist, mag die sexuelle Initiationsproblematik allerdings als altmodisch wahrgenommen werden. Und: Hürlimann schreibt in einer klassischen Sprache, mit klassischen Stilmitteln, ja selbst in einer Zeichensprache, die sich an Gottfried Keller und Robert Walser orientiert. Das Spiel mit Schuh und Fuß, die ganze zeichenhafte Kleidertopographie fände sich auf Anhieb schon bei solchen Autoren. Gewiß, auch das auf die Länge kein eindeutiges literaturkritisches Kriterium, haben doch die Schriftsteller schon immer das Gleiche neu erzählt - aber neu ist es bei Thomas Hürlimann eben nur zum Teil. Bei all dem prächtigen Vergnügen, das man beim Lesen verspürt, soll doch nicht unterschlagen werden, daß man ab und zu vom Gefühl beschlichen wird, eine versunkene, erstarrte Kulissenwelt vor sich zu haben, makellos abgebildet zwar, aber wie unter Glas.
Thomas Hürlimann: "Fräulein Stark". Novelle. Ammann Verlag, Zürich 2001. 192 S., geb., 38,- DM
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main